Von der Kunst des Erzählens in pädagogischen Settings

Die Bildungswirksamkeit von Narrativ und Narrationen aus pädagogischer und didaktischer Perspektive


Hausarbeit, 2018

68 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung: Das Selbst als Lebensgeschichte: Geschichten, Erzählungen und das Narrative an der eigenen Identität

2 Zum Forschungsstand: Theoretischer Bezugsrahmen und methodisches Vorgehen

3 Grundlagen des Erzählens
3.1 Der Mensch als Homo Narrator
3.1.2 Die Sprache das Mittel jeder Erzählung
3.2.1 Erzählen und Erzählungen
3.2.2 Das narrative am Erzählen
3.2.3 Die funktionale Bedeutung von Geschichten für den pädagogisch-didaktischen Kontext
3.3 Formen und Funktionen des Erzählens
3.3.1 Formen des Erzählens
3.3.2 Funktionen des Erzählens

4 Dimensionale Ebenen des Erzählens
4.1 Die kulturelle Dimension des Erzählens
Exkurs: Religiöse Narrative in koranischen Erzählungen
4.2 Die soziale Dimension des Erzählens
Exkurs: Narrationen in der politischen Bildung
4.3. Die individuelle Dimension des Erzählens
Exkurs: Narrative Identität

5. Erzählen als Ressource der pädagogischen Praxis
5.1 Lern- und Bildungstheoretische Hintergründe des Erzählens
5.2 Methoden des Erzählens in der pädagogischen Arbeit
5.2.1 Storytelling
5.2.2 Storyline

6 Resümee und Ausblick

7 Literaturverzeichnis

Vorwort

Erzählen beginnt schon in der frühen Kindheit des Menschen. Bereits im Vorschulalter beginnen Kinder mündliche Erzählungen, die sie meist von ihren Familienangehörigen rezipieren und selbst beginnen, zu reproduzieren. Bekannte Klassiker der Kinderliteratur, wie die Werke von Astrid Lindgrens oder Otfried Preußlers, spielen hierbei eine herausragende Bedeutung für die beginnende Phase der Lesesozialisation. Die literarische Sozialisation ist dabei meist stark von erwachsenen Bezugspersonen abhängig, die im besten Fall neben der Kinderliteratur ebenso durch Bilderbuchadaption, Hörbücher und Filme die selbstständige Produktion von Erzählungen unterschiedlichster Art fördern. Das Erzählen per se hat für jeden Menschen eine eigene Geschichte, die bei der Begeisterung des Kindes für Bücher und Erzählungen beginnt und hin zu einem eigenen Weg die eigene Wirklichkeit führt. Auf dem Pfad der Erzählung entdeckt das Subjekt in einem „intersubjektiven Raum der Kommunikation“ (Ehlich 2015, S.409) die Kraft der Imagination für literarisch-fiktionale Erzählungen. in denen sich die Kinder, Mädchen mit Tiergeschichten oder Jungen mit Abenteuergeschichten1, identifizieren können.

Erzählen ist hierbei nicht lediglich eine literarische Ausdrucksform, sondern vielmehr ein Bestandteil des menschlichen Lebens, denn es gibt und gab „kein Volk ohne Erzählung“ (vgl. Barthes 1988, S.102). Erzählungen begegnen uns im Alltag in unterschiedlichster Form. Beispielsweise treffen wir auf Fallgeschichten, Erfahrungsgeschichten, Lerngeschichten oder Lebensgeschichten als Erscheinungsform von Erzählungen. Diese eben genannte Auflistung ist sicherlich erweiterbar, veranschaulicht jedoch, welche ausschlaggebende Rolle dem Erzählen im Rahmen von Lern- und Bildungsprozessen zugesprochen werden kann.

Neben bedeutsamen lerntheoretischen Hintergründen ist vor dem Hintergrund des gegenwärtigen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels ein theoretischer Rahmen ohne den Blick auf die verschiedenen Ebenen, in denen sich das Subjekt bewegt, unabdingbar. Es bedarf einer interdisziplinären Herangehensweise, welche die verschiedenen und zugleich relevanten Dimensionen des Erzählens verdeutlicht.

Auch wissenschaftliche Arbeiten entstehen nicht ausschließlich in einem beruflichen Kontext. Ein eigener privater Bezugsrahmen steht in dieser Arbeit ebenfalls im Hintergrund.

Die eigenen Sichtweisen auf die Wirklichkeit und das bisherige Leben in zwei Kulturen sprechen der Thematik des Erzählens ein persönliches Leitmotiv zu. An dieser Stelle soll ein besonderer Dank an meine Familie gerichtet werden. Es war von Beginn an meine Familie, die mir den Mut machte, meine eigene Geschichte als eine besondere zu erzählen.

1 Einleitung: Das Selbst als Lebensgeschichte: Geschichten, Erzählungen und das Narrative an der eigenen Identität

“ Man is the story telling animal.” (Graham 1992, S.60 )

Mit der Geburt des Menschen ist der Beginn einer kontinuierlichen Begegnung mit Geschichten und Erzählungen festgelegt. Sie erstrecken sich über alle Lebensbereiche und sind somit ein nicht wegdenkbarer Lebensbegleiter. Dieser unterbrochene Prozess wird basierend auf der Komponente der Zeit von einem Selbst erfahren. Dieses Selbst befindet sich in einem geistlich sowie physisch stetig wandelnden Prozess. Das Selbst ist in der Lage, sich durch die Bezeichnung „Ich“ in Geschichten darzustellen und sich selbst durch eine Einbettung in ausgewählte Geschichten zu definieren. Dieses Potenzial erkennen bereits Vorschulkinder und nutzen dieses spielerisch aus. Auch mir wurde diese Möglichkeit der eigenen Inszenierung in einer äußeren Welt schnell bewusst.

Wenn meine Lehrerin am Montag unsere Erlebnisse aus dem Wochenende hören wollte, erzählte ich stolz, wie aufregend der Ausflug in den Zoo oder die Eissporthalle war. Das „Ich“, von dem meine Person in diesen Geschichten sprach, war nicht meine wirkliche Identität. Vielmehr war es eine Fiktion. Ich wünschte mir ein solches Wochenende tatsächlich erlebt zu haben und versetzte mich in das „Ich“, welches diese Szenen in dieser Form erlebt haben könnte. An anderen Tagen schlüpfte ich in die Rolle der kleinen Prinzessin ihres Vaters und schrieb Aufsätze, in denen mir mein Vater die Baumarten als erfahrener Gärtner schrittweise und detailliert erklärt haben würde. Bewusst fing ich also an, mich mit dieser Rolle zu identifizieren und sammelte als Beweis Blätter, trocknete diese und klebte sie anschließend in das Heft mit dem Titel „Meine tollen Geschichten aus dem Wochenende“. Was in Wirklichkeit geschah, erkenne ich aus heutigem Wissensstand genauer. Ich trat aus meiner eigenen Situation heraus und stellte mich in diesen Erzählungen und Geschichten in den Fokus. In der Fachterminologie wird dieser Akt als Extrapositionalität bezeichnet (vgl. Behr 2018, S.133). Mir war bewusst, dass ich nicht das typische Migrantenkind sein wollte, welches sich höchstens mit den Kindern aus der Nachbarschaft zum Spielen verabreden konnte. Mir war in jungen Jahren bewusst, dass meine private Welt nicht unmittelbar mit den Lebensumständen meiner MitschülerInnen und LehrerInnen kohärent war. Mein eigentliches „Ich“ thematisierte ich als ein sozial und gesellschaftlich anerkanntes Selbst, welches mir die Erzählung, in diesem Fall als Methode, ermöglichte. Trotz anderer sozialer Rahmenbedingungen sowie kulturellem Kontext, fiel es mir, basierend auf die typischen Erzählstrukturen meiner MitschülerInnen, nicht sonderlich schwer, den Anforderungen des Erzählens gerecht zu werden. Diese Erzählungen und weitere zahlreiche Erzählungen prägen meine heutige Erfahrung. In der Lage zu sein, sich in Narrationen zu entwerfen und zu konstruieren, verdeutlicht, dass das Erzählen einen aktiven Gestaltungsprozess demonstriert. In einer heutigen Reflexion war es möglich, die Erzählungen selbst zu strukturieren und sie dennoch vom tatsächlichen Leben isoliert betrachten zu können. Wenn ich heute zurück denke, bin ich keineswegs enttäuscht darüber, dass meine Eltern mir nicht das reale Erlebnis solcher Geschichten ermöglichten. Etwas unverblümt gesagt, bin ich froh darüber, den Genuss von einem solch spielerischen Ausprobieren unterschiedlicher Rollen getestet haben zu dürfen. Schließlich vertieft die virtuelle Übernahme anderer Identitäten das Einfühlungsvermögen im Umgang mit anderen. Das Selbst erscheint bis hierhin stets an eine Lebensgeschichte gebunden zu sein, die durch die Möglichkeit des Erzählens verschiedener Abschnitte dieser Geschichte eine narrative Identität mehr oder weniger formt.

Die Voraussetzung für die „Erfindung“ solcher Geschichten ist ein dynamisches und veränderliches Selbst, welches erkennt, dass die eigene Geschichte über das Leben nicht eine Sammlung von unabhängigen und konstanten Erinnerungen ist. Paul Ricoeur einer der wichtigsten Theoretiker in der Erzählforschung vergleicht die Identität der Person mit der Identität innerhalb der Erzählung. Der Vergleich besteht vor allen Dingen darin, dass die „Identität des Selbst“ sich im Prozess des Lesens entwickelt und somit eine Dynamik aufweist. Er verdeutlicht, dass das Selbst eine enorme Rolle für die Erzählung spielt und je nachdem, welche Position das Selbst für die erzählte Lebensgeschichte spielt.

Für die vorliegende Arbeit soll an dieser Stelle zunächst eine Eingrenzung zwischen den beiden Begriffen Geschichte und Erzählung stattfinden. Aristoteles befasst sich in der zweiten Poetik damit, dass erzählte Geschichten nicht zwangsläufig Abbilder der Wirklichkeit darstellen(Fuhrmann 1982, S.119). Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die beiden Darstellungsformen in der Ebene, in der sie ihre Quelle beziehen. Es wird deutlich, dass eine Erzählung nicht gleich eine Geschichte darstellt, da Geschichten in erster Linie das Ziel verfolgen, eine reale und zugleich vereinfachte Darstellung eines Geschehens zu präsentieren. Vielmehr scheint die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu liegen. Die Geschichte bedarf eines linearen Verlaufs von Ereignissen der bei Erzählungen nicht immer der Wirklichkeit entsprechen muss. Eberhard Lämmert geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter und differenziert zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit (vgl. Lämmert 2004, S.19ff.). Hierbei handelt es sich um eine Unterscheidung zwischen erzählten Ergebnissen, die unabhängig von einer Dauer ausgesprochen werden können, und einem tatsächlichen zeitlichen Rahmen, in dem das Geschehen stattfand. Ab dieser Stelle soll mit dem Begriff der Erzählung weiter gearbeitet werden. Die Erzählung bietet dem Erzähler einen Spielraum zwischen der Fiktion und Wirklichkeit, womit die Möglichkeit bestehen bleiben soll, in Erzählungen auf einer fiktiven Geschichte zu rekonstruieren, ohne streng dem Wirklichkeitskriteritum stets gerecht werden zu müssen (vgl. Genette 2010, S.16ff.).

Für den pädagogischen Kontext dieser Arbeit bieten Erzählungen nach bisheriger Betrachtung Rückschlussmöglichkeiten auf die Wirklichkeit und ermöglichen die Integration narrativer Auffassungen in die Erzählsituation. Der veranschaulichte narrative Ansatz bleibt in den Erziehungswissenschaften, trotz seiner strukturierenden und organisierenden Charakteristika, meist unbeachtet. Individuell-biographische Bedingungsfaktoren einer Selbsterzählung können nicht angemessen erfasst werden,, um ohne Weiteres eine Theoriefähigkeit zu bilden. Hierbei wird Bedeutung des Erzählens für die Erziehung und Bildung aus Mangel an Theoriefähigkeit und wissenschaftlicher Dignität nicht ausreichend untersucht, da die Systematisierung das Wissen verschiedener Geisteswissenschaften und der Psychologie benötigt. Die vorliegende wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen meiner ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Real- und Hauptschulen soll weniger eine systematische Untersuchung mit dem Ziel, Ergebnisse in eine Aussage hinsichtlich des Potentials des Erzählens darstellen. Zugrundeliegende Theorien sowie ein ausgewählter theoretischer Rahmen sollen diskursiv das Potential von Narrativen und Narrationen im pädagogisch-didaktischen Rahmen darlegen. Nach einer kurzen Darstellung der Literaturgrundlage und der Forschungsmethoden erfolgt der ausschließlich literaturgebundene Hauptteil.

Dieser beginnt mit der Idee, dass der Mensch die leitragende Zuschreibung Homo Sapiens besser durch die Idee eines Homo Narrans ersetzen könnte und somit einen „Erzählinstinkt“ voraussetzt (Stiefer 2015, S.16). Dem Homo Narrans erweist sich in der Weiterführung dieses Gedankens die Sprache als Grundlage jeder Erzählung. Erst der Einsatz von Sprache als Medium jeder Erzählung ermöglicht verschiedene Erscheinungsformen. Um im späteren Verlauf dieser Arbeit ein Urteil darüber fällen zu können, welche Rolle dem Erzählen in der Praxis zugeschrieben werden kann, wird mit einer begrifflichen Einbettung des Begriffs „Erzählen“ fortgefahren. Erzählen wird hierbei im Hintergrund von Narration und Geschichte expliziert. Diese intensive Beschäftigung mit dem Begriff führt zu der Ermittlung von unterschiedlichen Erzählformen und der Funktion.

Nach einer Grundlagenvorstellung, bedarf es einer dimensionalen Betrachtung des Erzählens. Das Erzählen lässt sich neben einer bereits angerissenen individuellen Ebene auch in einen kulturellen Rahmen und sozialen Hintergrund integrieren. Basierend auf der vorhergehenden erkenntnistheoretischen und inhaltsanalytischen Darstellung des Untersuchungsschwerpunktes kann im fünften Teil dieser Arbeit auf lerntheoretische Hintergründe eingegangen werden. Die Betrachtung eines ausgewählten Kerncurricula im Fach Geschichte ermöglicht die praktische Übertragung des Erzählens als Kompetenz im pädagogisch-didaktischen Vordergrund. Im fünften Teil dieser Arbeit wird anschließend ausschließlich auf die praktische Anwendbarkeit des Erzählens als Methode in der pädagogischen Praxis eingegangen. Methoden wie das „Storytelling“ oder „Storyline“ werden als methodische Hilfsmittel veranschaulicht. Neben populären Methoden sollen einfache Szenen im Alltag die praktische Bedeutung des Erzählens verdeutlichen. Abschließend werden in einem Resümee Schlüsse aus dem vorher Erarbeiteten hinsichtlich des praktischen Nutzens des Erzählens in pädagogischen Settings basierend auf die theoretischen Erkenntnisse gezogen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.

2 Zum Forschungsstand: Theoretischer Bezugsrahmen und methodisches Vorgehen

Der theoretische Rahmen dieser Arbeit ist, wie bereits angedeutet, breitgefächert. Aus verschiedenen Disziplinen gilt es, vielseitiges Textmaterial zu erarbeiten, um dem Ziel dieser Arbeit, das Erzählen, als effektive Methode in didaktisch-pädagogischen Settings darzustellen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich weniger auf die Beantwortung einer gezielten Frage, ob das Erzählen zu einem nachhaltigen Wissensstand führt, sondern mehr auf die Erörterung, inwiefern das Erzählen als eine Methode diesem Grobziel in der Pädagogik, im Allgemeinen als auch im spezifischen Fachunterricht nachgeht. Für die Analyse und Interpretation des interdisziplinären Textmaterials wurde die Methode der Inhaltsanalyse genutzt (vgl. Marying 2000). Das Grundprinzip der Inhaltsanalyse ist ein Verfahren zur Ermittlung der Bedeutung von Texten. Im Verlauf des Bedeutungsprozesses werden relevante Aspekte in Form von Kategorien expliziert. Diese spiegeln sich in der inhaltlichen Gliederung dieser Arbeit wieder. Welche Bedeutung das hermeneutisch erfasste Material für den Kontext dieser Arbeit hat, wird in der Verwendung einzelner Textausschnitte in Form von direkten Zitaten und Paraphrasen deutlich. Die hieraus folgenden Erkenntnisse sind intersubjektiv nachvollziehbar und kommen der wissenschaftlichen Forderung einer theoretischen Arbeit nach. Nach einer ausführlichen Darstellung theoretischer Hintergründe und praxisnahen Methoden des Erzählens, erfolgt schließlich eine systematische Darstellung der Zusammenhänge mit dem Ziel eines Gesamtüberblicks der Wirksamkeit des Erzählens im pädagogischen Alltag.

3 Grundlagen des Erzählens

3.1 Der Mensch als Homo Narrator

Bevor es in dieser Arbeit zu einer begrifflichen Annährung des Erzählbegriffs kommen kann, soll der Vorstellung nachgegangen werden, dass der Mensch ein grundsätzlich erzählendes Wesen sei, das durch die Sprache und sein Denken in der Lage ist, Geschichten zu erzählen und andererseits zu verstehen. Daher wird an dieser Stelle der Mensch als Homo Narrator charakterisiert.

Dan McAdamds beschreibt den Menschen als Geschichtenerzähler. Der Mensch sei ein von vornherein erzählendes Wesen, welches danach strebt, als Homo Narrator unstrukturierte Erfahrungen im Leben in einen Sinneszusammenhang zu bringen. Hierbei kann er anhand eines zusammenhängenden geschichtlichen Ablaufs eine Kohärenz schaffen (vgl. McAdams 1996, S.7). Wilhelm Schapp schreibt bezüglich der Bezeichnung Homo Narrator das Werk „In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding“ (Schapp 2012, S.157). Geschichten seien Schapp zufolge dialogisch und erlauben somit den Zugang zum anderen Menschen (vgl. ebd., S.218). Genauer schreibt Schapp den Geschichten einen Bewegungshorizont zu. Sie greifen auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darüber hinaus bieten sie die Partizipationsmöglichkeit, in verschiedene Geschichten verstrickt zu sein. Hierbei existieren zu individuellen Geschichten parallel stets Kollektivgeschichten, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit auch individuell bedeutsam empfunden werden können (vgl. ebd., S.21). Die Verstrickung in Geschichten führt zu einem Zusammenhang innerhalb des Erzählten, indem der Mensch ebenso die Möglichkeit hat, Gefühle anhand der Geschichten formulierbar zu machen (vgl. ebd., S.157). Die Integration des Selbst in Geschichten ist die „Grundlage für jede Rede von Menschen oder Seele“ (ebd,, S.160). Folglich existieren Einzelgeschichten im näheren Umfeld. Es sind die Alltagsgeschichten, die in einem sozialen Umfeld erzählt werden, und jedem die Teilhabe ermöglichen, durch das Erzählen, Erinnern und Deuten diese zu konstituieren oder zu erweitern (vgl. ebd., S.172). Die Fähigkeit des Deutens und Erzählens ist eine grundlegende Fähigkeit, die der Homo Narrator zur Orientierung der Lebenswelt hat. Geschichten folgen demnach der Idee, dass sie durch das Kreieren von Strukturen das Verstehen im Sinne der Epistemologie fördern (vgl. ebd.). Mit anderen Worten erfolgt durch das Erzählen und Hören von Geschichten ein Selbstverständnis des Selbst. Menschen verstehen, wer sie sind, und erschaffen sich den Zugang zu anderen Menschen und der Welt. Die Welt, das Selbst und der Austausch mit anderen Menschen werden durch das Erzählen von Geschichten in Zusammenhang gebracht. Die Welt und Geschichte, in der der Mensch spielt, wird hierbei unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt verstanden. Der wissenschaftliche Wahrheitsanspruch ist hierbei schwierig zu erfassen und verdeutlicht die Komplexität wissenschaftliche Kenntnisse anhand der Methodologie zu erfassen. Folglich wird im Anschluss die Sprache als essentielle Grundlage zur Konstruktion einer sozialen sowie sprachlichen Umwelt, in der Geschichten erzählt werden, diskutiert.

3.1.2 Die Sprache das Mittel jeder Erzählung

Der Mensch lebt in einer Welt, in der das Denken nicht ohne Sprache möglich ist. Das zentrale Medium der Verständigung ist die Sprache als Kommunikationsmittel. Genauer betrachtet ist die Sprache ein Zeichensystem, welches Symbole und Begriffe vereinbart. Darüber hinaus ist die Sprache ein Ordnungssystem, das das Auffassen, Ordnen, Abwägen, Analysieren und bewerten von Gedanken ermöglicht. Die Sprache ist somit kein neutrales Werkzeug der Kommunikation, sondern definiert, was festgehalten wird und wie es aufgenommen wird. In den wissenschaftlichen Disziplinen der Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft bestätigt die sprachphilosophische Wende (Linguistic Turn), dass es einen erkenntnisgewinnenden Denkvorgang nicht ohne Sprache geben kann (vgl. Fromme 1997, S.87). Bollnow geht einen Schritt weiter und nimmt an, dass beginnend bei der morphologischen, also wörtlichen Form von Kommunikation, die Wirklichkeit dargestellt werden kann. Sprache wird basierend auf der pragmatischen Wende innerhalb des Linguistic Turns unter einem konkreten Gebrauch betrachtet. Paul Nizon betrachtet die Sprache als Grundlage für die Vermittlung von Gefühlen, Empfindungen und somit auch der inneren seelischen Welt des Menschen (vgl. Nizon 1985, S.97). Die „Sapir- Whorf-Hypothese“ beschreibt, dass die Sprache jegliches Denken forme und bestätigt somit eine „Abhängigkeit der Begriffsbildung von Sprache“ (vgl. ebd., S.97) oder mit anderen Worten die „Sprachdeterminiertheit des Denkens“ (vgl. ebd.). Edward Sapir sieht die Sprache als ein Spiegel sozialer Wirklichkeit und geht daher davon aus, dass sie Denkweisen und Einstellungen bestimmter Gruppen beeinflusst. Das Resultat spezifischer Sprechweisen sei zurückführend auf die Sprache als eine Konvention (vgl. Sapir 1972, S.17). Benjamin Whorf betrachtet das Phänomen der Sprache als ein kulturrelatives und zugleich linguistisches Ordnungssystem, welches unter dem Einfluss der Muttersprache Gedanken nicht rein reproduktiv zum Ausdruck bringt, sondern sie vielmehr formen würde (vgl. Whorf 1963, S.12). An dieser Stelle wirft sich die Frage auf, inwiefern das Denken rein sprachendeterminiert ist. Steven Pinker geht von einer eigenen Gedankensprache des Gehirns aus, die anhand von Objekten und Ideen in symbolische Erscheinung tritt (vgl. Pinker 1966, S.30). Sprache sei erst in zweiter Instanz an sprachliche Laute gebunden und somit wäre ein Denken ohne Sprache zunächst möglich. Es ist jedoch offensichtlich, dass komplexe Sachverhalte nicht ohne die wörtliche oder schriftliche Sprache erfahrbar sind. Sprache ermöglicht ein differenziertes Denken. Die Artikulierung des Denkens ermöglicht in weiterer Instanz die Erkenntnis über Probleme und erforderliches Handeln. Näher betrachtet, ist sie die Grundlage einer gesellschaftlichen Ordnung. Die Sprache und das Denken ermöglichten der interdisziplinären Forschung der letzten Jahre mit dem Obertitel „narrative turn“ das Erzählen aus einer nichtliterarischen und subjektorientierten Perspektive eine höhere Bedeutung zuzusprechen. Einerseits dient die Geschichte als grundlegendes Wissen über eine funktionierende Welt. Erzählungen hingegen präsentieren ein Diskurssystem, welches dem Alltag des Menschen und dessen Gebrauch von Sprache basierend auf zeitliche und kausale Zusammenhänge Kohärenz zuschreibt.

Die Sprache ist bisher in vielerlei Hinsicht für das Erzählen eine unabdingbare Grundlage. Im Rahmen des Titels dieser Arbeit soll an dieser Stelle ein Bezug zum pädagogischen Kontext hergestellt werden. Die beiden Bildungphilosophen Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humbold formulierten in ihrem Ideal der Bildung fünf Hauptmerkmale, die bei der Bestimmung des Ideals in den Vordergrund drängen: Selbstbildung, Formung und Entwicklung der gesamten Person, anthropologische Bedürftigkeit und "Wachstum", Steigerung der Individualität bei gleichzeitig überindividueller Verbindlichkeit und Entfremdungsüberwindung. Neben diesen populären Bildungsidealen spielen sie eine ebenso bedeutsame Rolle für die Sprachforschung. Humbold gilt in der Sprachwissenschaft als dessen Begründer und Vorläufer des Pragmatismus im Wendepunkt von klassischem Sprachparadigma zu einer modernen Leitidee. Die Sprache sei Mittel des Denkens, der Bildung und des Selbst. Sprache beginne im ersten Akt einer Reflexion (vgl. Humbold 1822, S.41). Humboldt beschäftigte sich als preußisicher Diplomat und Reformer des Schul- und Hochschulwesen hauptsächlich mit kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen. Hinsichtlich seiner analytischen Untersuchung von Sprache geht er von Unterschieden zwischen „Sprache“ und „Sprachen“ aus. Eine Sprachgemeinschaft habe einen gemeinsamen Verständnishorizont. Jede Sprache habe ihre eigene „Weltanschauung“ und daher habe jede Sprache einen nationalen Charakter. Diese Anschauung lässt sich mit den Thesen von Herde erweitern. In seiner 1770 verfassten „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ verdeutlicht auch Herder, dass Sprache als Mittel einer Ordnung der Welt ist (vgl. Herder 1770/1973 im Projekt Gutenberg). Der Mensch bediene sich der Sprache zur Überschaubarmachung, die er im Gegensatz zum tierischen Lebewesen auf einer mehrdimensionalen Ebene erfülle. Die Reflexion sei hierbei der entscheidende Unterschied und „Vorzug der Freiheit“ (vgl. Herder 1770 im Projekt Gutenberg). Neben den grundsätzlichen Leitbildern der bekannten Bildungstheoretikern Humboldt und Herder für den deutschsprachigen Raum, untersucht Otto Bollnow welterfassende und sozialisierende Funktionen der Sprache. Generell basiere Sprache auf der vorliegenden Weltansicht. Dementsprechend ist ein bestimmtes Verständnis von der Welt eine bereits interpretierte Welt (vgl. Bollnow 1969, S.2). Die Sprache erfülle im erzieherischen Kontext die Aufgabe des Zeigens (vgl. ebd., 116). Was einen Namen erhält, verliert den ursprünglichen fremden Charakter (vgl. ebd., S.119). Kinder haben noch kein großes und festes Wörterlexikon und daher bedarf es als erzieherische oder lehrende Person das Wissen, Kinder mit bereits bekannten Wörtern zu erfreuen. Reime können hierbei einen sicheren Umgang mit bekannten Wörtern schulen (vgl. ebd., S.23). Ebenso von Bedeutung ist die Selbstentfaltung von Kindern und Jugendlichen, die anhand von Sprache als kontinuierlicher Prozess eine starke Persönlichkeit hinsichtlich einer Urteilsfähigkeit sowie Selbstständigkeit fördert (vgl. Bollnow 1962, S.109). Neben diesen Merkmalen erfordert der Sprachprozess eine „Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit dem gesprochenen Wort“ (Bollnow 1966, S.188). Erziehen ist Bollnow nach stets die Erziehung zum Gespräch (vgl. Bollnow 1968). Die zwei Grundvoraussetzungen für ein Gespräch sind das Sprechen und Hören. Hierzu schreibt Bollnow, dass „der Verzicht auf Autorität“ und „die Bereitschaft“ (Bollnow 1966, S.224) sich selbst als Kritik stellen zu lassen grundsätzliche Voraussetzungen seien. Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Sprache ein soziales Konstrukt ist, das den Akt des Sprechens in Form eines (inneren) Gespräches erfordert und mit Begriffen dieses realisiert (vgl. Gadamer 1985, S.152). Neben dem hier illustrierten praktischen Nutzen von Sprache in der Erziehung, bildet die Sprache ebenso die Voraussetzungen für das Erzählen im pädagogischen Setting.

3.2.1 Erzählen und Erzählungen

Zunächst wird das Erzählen nicht als ein statischer Begriff betrachtet. Inhalte und Strukturen des Erzählten müssen mehrdimensional betrachtet werden und bedürfen daher den Bezug zur Interaktionssituation (vgl. Wolf 2002, S. 29). Martinez geht diese Schwierigkeit mit der Festlegung einer Minimalbestimmung an. Hierbei ist das Erzählen zunächst eine Geschehensdarstellung, die mit drei Merkmalen in Relation steht (vgl. Martines & Scheffel 2017, S. 2). Diese Merkmale setzen sich aus einer Konkretheit in der Darstellung von Gegenständen und Sachverhalten, Temporalität im Sinne einer sequenziellen Darstellung des Zeitverlaufs der Geschehensdarstellung und Kontiguität in Form einer räumlichen, zeitlichen und kausalen Geschehensdarstellung zusammen. Jeder Inhalt einer Erzählung ist somit konkret, temporal und kontiguitiv zu verstehen (ebd., S. 3). Erzählungen, die narratives Geschehen darstellen, bedürfen neben der reinen Geschehensdarstellung weiterer Merkmale, die sich auf die Darstellung, das Geschehen und die Nützlichkeit beziehen. Es wäre möglich, eine Geschehensdarstellung mit dem Gedanken einer „doppelten Zeitlichkeit“, welche die parallele Darstellung eines Geschehens durch ein Vorausdeuten oder Rückblenden innerhalb einer Handlung zulässt. Ebenso hinterfragt die nicht-narrative Geschehensdarstellung nach einem Medium, durch welches die Erzählung vermittelt wird. Ein weiteres Merkmal wäre der pragmatische Hintergrund nach der Frage der Nützlichkeit. William Labov bezeichnet das Merkmal mit dem englischen Ausdruck reportable und geht von einer Abwägung des Nutzens innerhalb der Kommunikationssituation aus (vgl. Labov& Waletzky 1972, S. 370). Es soll deutlich werden, dass dem Erzählen diverse Zugänge möglich sind und das Verstehen im Sinne eines Geschehens neben den drei Grundvoraussetzungen, Konkretheit, Temporalität sowie Kontiguität, in nicht-narrativer Form weiterer Bezugspunkte bedarf, um dem Begriff des Erzählens in seiner Komplexität der Begriffsbestimmung gerecht zu werden.

Des Weiteren lassen sich weitere Bezugspunkte bezüglich des Erzählbegriffs finden. Das Erzählen ist als eine symmetrische Beziehungseinladung zu verstehen. Zum Erzählen gehört stets ein Erzähler und Zuhörer (vgl. Merkel 2007, S. 95). Dementsprechend kann der Akt des Erzählens als ein Akt der Gewinnung von Vertrauen betrachtet werden. Eine Kommunikation auf Augenhöhe ermöglicht das gegenseitige Kritisieren und Hinweisen (vgl. Frenzel, Müller & Scottong 2006, S. 27).

Eine weitere Eigenschaft besitzt das Erzählen in dem Umgang mit wiederholten Zeiterfahrungen im Sinne von wiederholender Ereignisse. Die Erzählkommunikation wird basierend auf der narrativen Zeiterfahrung des Erzählenden in komplementäre und sinnvolle Ereignisverläufe gebracht. Hierbei können bereits vergangene oder auch fiktive Geschichten in einen zeitlich- kausalen Erzählstrang formuliert werden. Aus gegenwärtiger Perspektive wird die narrativ etablierte Zeitdifferenz signalisiert (vgl. Becker 2001, S. 52). Mit anderen Worten, es entsteht beim Erzählen ein kognitiver Leitfaden der das Verstehen und die zeitliche Reihenfolge beim Zuhörer fördert (vgl. ebd., S.77). Die strukturalistische Erzähltheoretikerin Gérard Genette kategorisiert die Erzählung im Rahmen neuerer Erzähltheorien ab den 50er Jahren die Analysepunkte Zeit (Ordnung), Dauer, Frequenz, Modus sowie Stimme (vgl. Genette 2010). Diese Analyse wurde mit dem Schwerpunkt für literarische Texte entwickelt. Nichtsdestotrotz erweisen sich einige Anhaltspunkte ebenso für nicht-literarische Texte als wichtig. Die Kategorie Zeit ist als Oberbegriff für die Unterkategorien: Ordnung, Dauer sowie Frequenz zu verstehen. Mit Ordnung ist das Verständnis zwischen dem Unterschied der Zeit der Geschichte, also die tatsächliche chronologische Reihenfolge, gemeint. Diese ist nicht gleich der Zeit der Erzählung, welche den sprachlichen Ablauf des Erzählvorgangs meint (Genette 2010, S. 17). Erzählungen müssen nicht immer chronologisch verlaufen, da Zeitsprünge in die Zukunft (A nalepse) als auch in die Vergangenheit (P rolepse) möglich sind. Für diese Fälle verwendet Genette den Begriff der Anachronie. Mit dem Begriff der Dauer wird die Zeitspanne, die das Erzählen im Verhältnis zum eigentlichen Ereignis einnimmt beschrieben (Genette 2010, S. 53). So ist es möglich, dass beispielsweise irrelevante Punkte für die Handlung durch Ellipsen auszulassen (Genette 2010, S. 66). Mit dem Begriff der Frequenz soll die Wiederholungsbeziehung zwischen dem Text (discours) und der Repräsentation des realen oder fiktiven Geschehens aufgezeigt werden (Genette 2010, S. 83). Mit der Kategorie- Modus wird der Frage nachgegangen, wie mittelbar das Erzählte präsentiert wird. Der Grad der Mittelbarkeit und die Perspektivierung des Erzählten werden hierbei in der Distanz zur gesprochenen Rede oder Gedankenrede in einer Erzählung beschrieben. Der narrative Modus einer Erzählung erfüllt eine hohe Mittelbarkeit, während der dramatische Modus eine Unmittelbarkeit der transportierten Rede darstellt (Martinez & Scheffel 2003, S- 62).

Weiterhin befasst sich die Kategorie Modus mit dem Begriff der Fokalisierung und beschreibt, aus welcher Perspektive erzählt wird. Hierbei kann der Erzähler den Fokus verschieden ausrichten. Der Fokus lässt sich in drei Typen unterteilen (Genette 2010, S. 121 ff.):

1. Der Erzähler kennt mehrere Perspektiven und hat die absolute Übersicht. Dieser entspricht dem auktorialen Erzähler und wird mit der Bezeichnung Null-Fokalisierung beschrieben.
2. Der Erzähler ist mit der Sicht und den Gedanken einer Person innerhalb der Erzählung vertraut. Er kann somit nicht mehr sagen, als die Figur selbst weiß. Die hier beschriebene interne Fokalisierung nimmt die Perspektive des Ich-Erzählers oder des personalen Erzählers an.
3. Der Erzähler übernimmt die Kamerafunktion und betrachtet alles von außen. Bei einer externen Fokalisierung kann der Erzähler nicht mehr als die Figur der Erzählung wissen.

Der Erzählinhalt in Bezug auf die Vollständigkeit oder den Wirklichkeitsgrad einer Erzählung spielen zunächst einmal eine sekundäre Rolle. Labor und Waletzky sehen die Erzählvoraussetzung in der Eigentümlichkeit einer Erzählung (vgl. Labov & Waletzky 1973, S. 114). Das Ungewöhnliche und die Komplikation, die sich in einer unerwarteten Geschichte Ergeben, führen zu einer von Quasthoff als Gegensatzrelation bezeichneten Situation. Diese verstärkt bei dem Zuhörer den Drang nach einer Aufklärung und Bewertung. Erzählungen können als primäre Produktion oder Reproduktion verstanden werden(vgl. Becker 2015, S.52). Hierbei können sie in formellen oder informellen Situationen stattfinden. Der Erzählanlass bestimmt, ob es eine schriftliche oder mündliche Darstellung ist. Neben den Erzählformen wie der Nacherzählung und weiteren, die im nächsten Kapitel veranschaulicht werden, gibt es die Form der Erlebniserzählung. Diese ist eine Form der Reproduktion, da sie auf dem realen Geschehen basiert und konstruktiv ein Ereignis darstellt. Quasthoff geht in seinen Arbeiten bezüglich des Erzählens einen Schritt weiter und unterteilt den Erzählbegriff in zwei Formen. Hierbei geht er von einem „Ober- und Unterbegriff“ (Quasthoff 1980, S. 147) aus. Der Obergriff bezieht sich auf den sprachlichen Akt der Erzählung und meint das Berichten, Beschreiben, Schildern und Informieren. Andererseits bezeichnet der Unterbegriff das Erzählen aus der Sprecherperspektive und wie selbsterfahrene Ereignisse, die hierbei als Geschichte wiedergegeben werden. Weiterhin unterteilt Quasthof diese beiden Ebenen in einen Kommunikationsmodus A, der für das Erzählen als Akt des Geschehens dasteht, und einen Kommunikationsmodus B für das Erzählen als reine Darstellungsform (ebd., S. 156).

Das Erzählen ist in vielerlei Hinsicht als nützlich zu betrachten. Dem Erzählen werden Eigenschaften wie der Ordnung und Sinnstiftung aufgrund der Herstellung von Kontinuität und Kohärenz zugesprochen. Der Sinn ergibt sich aus den logischen Zusammenhängen, die sich dem Erzähler in der Gegenwart erschließen (vgl. Deppermann & Lucius-Hoene 2002, S.75.). Hierbei kann von einer narrativen Ordnung gesprochen werden, bei der die Geschehnisse in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden. Das Resultat dieser Ordnung sind meaning bridges (vgl. ebd. S.76). Näher betrachtet handelt es sich hierbei um eine mehrperspektivische Bezugnahme, denn das Erzählen bedient sich der Vergangenheit aus einer gegenwärtigen Perspektive und kann Auswirkungen auf die Zukunft und somit die Identität bewirken. Erfahrungen, Handlungsweisen oder Erwartungen benötigen einen Rahmen der Erzählungen, um ihre Bedeutung zu gewinnen. Die Auswahl einzelner Aspekte und dessen logische Verknüpfung für eine sinngemäße Bedeutung lassen sich ebenso als Übertragung von Botschaften, Moral oder Rechtfertigung betrachten. Dieser Akt verfolgt prinzipiell das Ziel der Organisation der Orientierung in der aktuellen Lebenswelt, die Vermittlung von Wissen und die damit verbundene Sinnstiftung oder Dokumentation von bereits eingetroffenen Ereignissen sowie deren prozessuale Verarbeitung. Die Bedeutung ergibt sich durch das Erzählen und charakterisiert es als einen erkenntnistheoretischen Bezugspunkt.

Weiterhin lässt sich das Erzählen als ein Prozess der Heilung aufgrund der durch das Erzählen verschafften Veränderung verstehen. Durch das Erzählen werden neue Perspektiven gegeben, die neue Bedeutungen mit sich bringen und schlussfolgern sowie die Handlungsmöglichkeiten ermöglichen. Flader und Giesecke beschreiben diesen Prozess als eine unabdingbare Form der Aussprache und des Meinungsaustausches, der eine Bedingung für das soziale Handeln darstellt (vgl. Flader & Giesecke 1980, S. 212).

Es ist erkennbar, dass das Erzählen eine Beziehung zwischen Menschen ist. Diese Verbindung beruht auf den menschlichen Fähigkeiten sowie Erfahrungen, welche in der Kommunikation ein gewisses Ziel verfolgt. Wer erzählt, erwartet eine Hörerreaktion. Im Sinne dieser kommunikativen Funktion erreicht der Erzähler Empathie und Verständnis innerhalb der genannten Beziehung. Erfahrungen, Informationen, Gedanken und Emotionen werden in einem (alltäglichen) Vorgang kommunikativer Realität vermittelt (vgl. Quasthoff, 1980 S.148 ). Folglich ist das Erzählen eine „Art der Verarbeitung, Bewahrung und Weitergabe von Erfahrungen“ (vgl. Hausendorf & Quasthoff 1996 S.10). Auf das eigene Leben kann erzählerisch zurückgegriffen werden, was zu einem „Verhältnis zwischen erzählter Wirklichkeit und erlebbarem Vorfall“ (Bichsel 1997, S. 125) führt. Erzählen ist zugleich die „Sprache der Erfahrung“ (Benjamin 2007 S.92) und somit eine unabdingbare menschliche Eigenschaft. Paul Ricoeur schreibt dem Erzählen das Potenzial „der Ausrichtung auf ein gutes Leben“ (Ricoeur 1996, 194) zu, da das Erzählen die Funktion einer Stütze im Rahmen des Vermittelns von Erfahrung und Verständnis innerhalb der menschlichen Beziehung darstellt.

Letztendlich erweist sich das Erzählen als eine anthropologische Voraussetzung des Menschendaseins. Postmann sieht in dem Erzählen eine integrale Funktion, welche seit je her den Gemeinschaften und Kulturen zugrunde liegt. Ohne jegliche Ausnahme besitze jede kulturelle Gemeinschaft Erzählungen, welche auf mündliche Überlieferung zurückzuführen seien. Diese prägen das soziale Gedächtnis, da sie komplexe Inhalte weitergeben und generieren. Näher betrachtet handelt es sich um bekannte Formen der Erzählung wie beispielsweise Märchen, Lieder, Gedichte, Mythen oder gar Witze. Diese und weitere Formen, welche im späteren Verlauf dieses Kapitels veranschaulicht werden, vermitteln lebenspraktisches Wissen vorhergegangener Generationen, wie Werte und Traditionen, welche auf diese Art und Weise erneut weitergegeben werden können. Auf der Grundlage dieser Erzähleigenschaft lässt sich festhalten, dass das Erzählen eine Bedingung und zentrale Fähigkeit einer Gesellschaft sowie Kultur ausmacht. Mit anderen Worten ist das eigene Leben in stetiger Relation zum Erzählen, denn „Wenn wir nichts mehr zu erzählen haben, sind wir bereits gestorben.“ (vgl. Bichsel 1997, S. 88).

3.2.2 Das narrative am Erzählen

Zunächst scheinen die Begriffe Narration, Narrativität oder Narratologie eine Unordnung in ihrem Inhalt zu verursachen. Die Narration kann als das Produkt einer erzählten Geschichte oder als der Prozess an sich verstanden werden. Der Unterbegriff narrativ trägt die beschreibende Bedeutung, welche so viel meint, wie erzählend oder „für eine Erzählung“ anwendbar.

Der Mensch als Homo Narrator wurde bereits als ein a priori erzählendes Lebewesen charakterisiert (vgl. McAdams 1996, S.122). Der Prozess der Narration ist folglich eine Bedingung unseres Denkens und Handelns (vgl. Weilnböck, 2006). Frequenzielle Erfahrungen können zusammen einen Sinn ergeben und geben somit Antworten auf existenzielle Fragen nach dem eigenen Ich. Hierbei ermögliche die Narrativität die Konstruktion der eigenen Identität (vgl. Giddens 1991). Die Narration ist ein altbewährtes Medium für den Transport von Erfahrungen und Lehren, die für eine Gemeinschaft Erklärungen über traditionelles, religiöses, ethisches Wissen oder über den Aufbau der Welt geben. Der Mensch ist in Geschichten und dem Wissen über die Geschichte integriert, da das Erzählen eine Vermittlungsinstanz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft schafft (vgl. Schapp 2012 S.157).

Um eine sinnesgemäße Erörterung der Begriffe zu ermöglichen, ist es nötig, Begriffe vor dem Hintergrund eines kulturellen und gesellschaftlichen Wandels zu verstehen. Hierbei erwies sich das 20. Jahrhundert als Durchbruch der Narration zu einem Untersuchungsgestand in der erzähltheoretischen Wissenschaft. Zunächst wurde diesem Forschungsbereich der Begriff der Narratologie zugeordnet. Vor allem wurde der Sprache als Medium zur Kommunikation und Erfassung der Wirklichkeit ein Hoheitsanspruch zugesprochen. Wittengenstein ist der philosophische Vertreter der Sprache im Rahmen seiner „philosophischen Untersuchungen“ (Wittgenstein 1992, S.210). Der im Anschluss folgende Linguistic Turn im Sinne einer sprachkritischen Wende stellt einen Wechsel der wissenschaftlichen Orientierung dar. Die strukturalistischen sowie poststrukturalistischen Strömungen mit Vertretern wie beispielsweise Lévi-Strauss (1978), Barthes (1983) oder Foucault (1965) beeinflussten mit ihrem Denken den Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Wandel. Der strukturalistische Literaturwissenschaftler Genette beschränkte sich hierbei auf die Erzählung als Gattung. Hierbei bedienten sich die Wissenschaftler an den von Todorov geprägten Begriffe Narrativität und Narratologie (vgl. Todorov 1972 S.26). Die Untersuchungen fokussierten vor allen Dingen die sprachliche Beschreibung der Welt. Die Ausgangsüberlegung bestand in dem Leitmotiv, dass jegliche Erkenntnis über die die Welt und Wirklichkeit zurück auf die Logik der Sprache zuführen ist. Einerseits ist nach einem (post-) strukturalistischen Denken die Sprache die Vorrausetzung, jedoch erweist sie sich andererseits als Grenze des Kenntlichen und Wahrnehmbaren (ebd., S.29). Die Reflexion des eigenen Denkens bedarf tiefgründigen Analysen, die sich neben den Schwierigkeiten der Erkenntnis auch mit der Gesellschaftsordnung und den Handlungsmöglichkeiten befassen. Der als „narrative Wende“ (narrative turn) bezeichnete Paradigmenwechsel verfolgt zwei Diskussionen. Auf der einen Seite wird behauptet, dass narrative Geschichten eine theoretische Grundlage für das Verständnis einer funktionierenden Welt sind, in der der Mensch ein soziales Wesen darstellt. Auf der anderen Seite werden Bedeutung und Sinneszusammenhänge durch Erzählungen ermöglicht. Dieser Diskurs führt zu einer Spiegelung des menschlichen Alltags, weshalb dieser als wissenschaftlich fundiert betrachtet werden kann. Hierbei entscheidet der Mensch, inwieweit er sich als erzählendes Mitglied in seiner sozialen Umgebung entwirft. Eindeutig ist, dass zwischen Sprache, Handlung, Bewusstsein und Narration ein unzertrennlicher Zusammenhang besteht. Diese Gedanken werden in Form zweier Thesen geprägt. Die eine These sieht den Menschen als ein selbstproduzierendes Wesen von Narrationen, während die andere das Selbst durch Narrationen konstituiert beschreibt. Der hierfür zutreffende Leitgedanke einer narrativen Identität soll im Folgenden intensiver dargestellt werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 68 Seiten

Details

Titel
Von der Kunst des Erzählens in pädagogischen Settings
Untertitel
Die Bildungswirksamkeit von Narrativ und Narrationen aus pädagogischer und didaktischer Perspektive
Autor
Jahr
2018
Seiten
68
Katalognummer
V470483
ISBN (eBook)
9783668954090
ISBN (Buch)
9783668954106
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kunst, erzählens, settings, bildungswirksamkeit, narrativ, narrationen, perspektive
Arbeit zitieren
Nadia Houri (Autor:in), 2018, Von der Kunst des Erzählens in pädagogischen Settings, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/470483

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