Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die kommunitaristische Kritik an Rawls‘ politischem Liberalismus
1. Das Individuum in der Gesellschaft
2. Die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft
3. Prioritätensetzung im politischen System
4. Moralvorstellungen als universelles Gut?
5. Bewertung der kommunitaristischen Kritik
III. Schluss
IV. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Die steigenden Zahlen von Asylbewerbern haben in Deutschland eine intensive Debatte über den Umgang mit Asylsuchenden ausgelöst Nach Prognosen des Bundesinnenministeriums wird die Zahl der Asylanträge im Jahr 2015 ein neues Allzeithoch von ca. 800.000 erreichen. (vgl. BMI, 2015) Dabei stellt die aktuelle Flüchtlingswelle den europäischen Kontinent nicht nur materiell, sondern auch ideell vor immense Herausforderungen. Mit Blick auf den Umgang mit Migranten rückt auch die Frage nach einer angemessenen Gesellschaftsform wieder stärker in das Blickfeld. Brennende Asylunterkünfte und zunehmender Fremdenhass auf deutschen Straßen zeigen deutlich, dass es notwendig ist, sich laufend mit den grundlegenden Prinzipien unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen und diese einer eingängigen Prüfung zu unterziehen. Schließlich sind die Fragen nach einer gerechten politischen Ordnung keine historischen Relikte, sondern sie müssen tagespolitisch aktuell immer wieder aufs Neue beantwortet werden. Wie können Gerechtigkeitsgrundsätze innerhalb einer Gesellschaft gefunden werden, die angemessen auf aktuelle Herausforderungen reagieren? Welche Gesellschaftsform gewährleistet ein friedliches Zusammenleben am besten?
Die wohl umfassendste Gesellschaftstheorie der Gegenwart beschreibt John Rawls‘ politischer Liberalismus. In seinem Hauptwerk a theory of justice beschreibt er eine sozial-politische Grundordnung, die auf dem Wert der Gleichheit beruht und in der das Zusammenleben durch festgesetzte Gerechtigkeitsgrundsätze geordnet ist. Im Mittelpunkt seiner Theorie steht das Individuum als zentraler Entscheidungsträger. Rawls‘ Theorie hat eine Vielzahl von Reaktionen hervorgerufen. So entstand beispielsweise der Kommunitarismus in den 1980er Jahren als kritische Reaktion auf die liberale Philosophie Rawls. Die kommunitaristische Theorie betont in bewusster Abgrenzung zum Liberalismus die Verantwortung des Individuums gegenüber seiner Umgebung und die Bedeutung sozialer Bindungen eines jeden Menschen. Eine der zentralen Fragen des Kommunitarismus ist die, wie viel gemeinsame Identität zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft vorhanden sein muss, damit ein reibungsloses Zusammenleben funktioniert.
Im Folgenden sollen die einzelnen Kritikpunkte des Kommunitarismus an der gesellschaftlichen Konzeption von Rawls‘ politischem Liberalismus aufgezeigt werden. Ein umfassendes Verständnis der kommunitaristischen Theorie ist allerdings nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Gesellschaftskonzeption von John Rawls möglich, da sie sich direkt an Rawls‘ Thesen orientiert und „in seiner Existenz auf den Liberalismus angewiesen“ (Marx, 2007, S. 18) ist. Die Kritik an Rawls‘ Theorie entzündet sich dabei an verschiedenen Aspekten und ist auch innerhalb der kommunitaristischen Theorie sehr heterogen. Zwar kann die angesprochene Vielfalt an philosophischen Denkrichtungen in der vorliegenden Arbeit nicht vollständig beleuchtet werden. Allerdings sind allen Denkern einige wesentliche Kernelemente gemein, die die kommunitaristische Kritik am politischen Liberalismus maßgeblich bestimmen und auf deren Grundlage eine Bewertung aus heutiger Sicht möglich ist. Diese zentralen Kritikpunkte sollen in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet werden.
Abschließend stellt sich zudem zwangsläufig die Frage, wie die kommunitaristischen Kritikpunkte mit Blick auf die aktuelle politische Realität bewertet werden können. Mit Blick auf die bestehende Flüchtlingssituation, aber auch im Hinblick auf die zahlreichen weiteren politischen Herausforderungen der heutigen Zeit erweisen sich die Gedanken der kommunitaristischen Denker als besonders präsent. Ob die Befürchtungen sowie generell die radikale Kritik am politischen Liberalismus aus heutiger Sicht gerechtfertigt sind, soll deshalb zum Abschluss der Arbeit ebenfalls untersucht werden.
II. Die kommunitaristische Kritik an Rawls‘ politischem Liberalismus
1. Das Individuum in der Gesellschaft
Ein zentraler Aspekt des politischen Liberalismus, der vor allem vom US-amerikanischen Philosophen Michael Sandel kritisiert wurde, ist die liberale Konzeption des Individuums als ungebundenes Selbst. Rawls orientiert sich bei seiner Gesellschaftstheorie an den Vertragstheorien und begibt sich zur Findung von validen Gerechtigkeitsgrundsätzen in ein Gedankenexperiment. In einem imaginären, idealen Urzustand wird hinter einem Schleier des Nichtwissens bezüglich gesellschaftlicher Stellung, familiärer Bindungen oder Nationalität eine faire Ausgangssituation geschaffen, in der über die Gerechtigkeitsgrundsätze und gemeinschaftlichen Werte entschieden wird, die in einer Gesellschaft gelten sollen. „Die Prinzipien, die wir in einer solchen Situation vernünftigerweise wählen würden, sind nach Rawls die Prinzipien der Gerechtigkeit“ (Reese-Schäfer, 1994, S. 15). Rawls‘ Theorie geht davon aus, dass der Mensch sich im politischen Raum frei von eigenen Interessen und Zielen machen kann und als ungebundenes Selbst unabhängig von der eigenen Tradition und Kultur sowie von persönlichen Zielen und Werten über Gerechtigkeitsgrundsätze entscheiden kann. „Rawls‘ Selbst ist ‚vor seinen Zielen da‘, es ist nicht gemeinschaftlich konstituiert und durch Werte, Auffassungen des Guten und gemeinschaftliche Bindungen definiert, sondern ‚wählt‘ seine Ziele und Werte nach subjektiven Präferenzen“ (Forst, 1993, S. 184). Sandel beschreibt die liberale Vorstellung Rawls‘ wie folgt: „Nur wenn meine Identität nie an meine augenblicklichen Ziele und Interessen gebunden ist, kann ich mich als einen freien, unabhängigen und zum Wählen befähigten Akteur verstehen“ (Sandel, 1993, S. 25). Diese Ungebundenheit hat also, wie Forst schreibt, zum Zweck, „die Befreiung des ‚ungebundenen‘ Selbst zu sichern, seine Auffassungen des Guten beliebig auswählen zu können“ (Forst, 1993, S. 184). Diese Befreiung äußert sich auch in der strikten Trennung von politischem und privatem Raum. Während im privaten Raum eigene Interessen sowie alle historisch, sozial oder kulturell bedingten Abhängigkeiten von erheblicher Bedeutung sind und das Privatleben maßgeblich prägen, sollen diese Bindungen im politischen Raum vollends ausgeblendet werden.
Während die Ungebundenheit des Individuums bei Rawls befreiende Wirkung hat, kritisiert der Kommunitarismus gerade die daraus hervorgehende Distanz zwischen dem eigenen Ich und den gegebenen Lebensumständen. Der Liberalismus, so die kommunitaristische Kritik, „wird dem Charakter politischer Gemeinschaften nicht gerecht, indem er die ethische Komponente des Guten in den privaten Bereich verbannt und die politische Komponente dem Recht zuschreibt“ (a.o., S. 196). Vielmehr geht der Kommunitarismus davon aus, dass der Mensch als soziales Individuum erst in der Gemeinschaft durch konstituierende Abhängigkeiten zu dem wird, was ihn ausmacht. Insofern ist der Mensch als gebundenes Selbst durch verschiedene Faktoren wie geschichtliche Herkunft, Kultur, Sprache oder Erziehung determiniert und kann unabhängig von äußeren Beziehungen nicht bestehen. Diese in einer Gemeinschaft bestehenden Bindungen wirken als das konstituierende Element einer Gesellschaft. Somit ist es dem Menschen sowohl gedanklich, als auch praktisch nicht möglich, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem all diese konstitutiven Elemente ausgeblendet werden, um außerhalb der Gemeinschaft Gerechtigkeitsentscheidungen zu treffen, wie dies bei Rawls im Urzustand der Fall ist. Wir als Menschen existieren nur als Mitglieder einer Familie, einer Gemeinschaft oder Nation, als Teil der Geschichte, als Söhne und Töchter, oder als Bürger einer Gesellschaft. Eine Person, die frei von diesen konstitutiven Anlagen existiert, ist Sandel zufolge keine freie Person, sondern eine Person ohne Charakter und moralische Tiefe. (vgl. Sandel, 1996, S. 179)
2. Die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft
Die unterschiedlichen Auffassungen bezüglich des menschlichen Individuums wirken sich auch auf die Konzeption einer gerechten politischen Gesellschaft aus. So hat die Vorstellung des ungebundenen Selbst für die liberale Gesellschaftskonzeption direkte Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Bürger und Gesellschaft. Rawls geht in seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness davon aus, dass die Menschen, da sie innerhalb der Gesellschaft nicht durch feststehende Abhängigkeiten eingeschränkt sind, frei und unabhängig über Gerechtigkeitsgrundsätze bestimmen können. Insofern bezeichnet Rawls‘ Liberalismus die Bürger als „sich selbst beglaubigende Quellen gültiger Ansprüche“ (Rawls, 2007, S. 50). Das heißt, nach eigener Anschauung sind sie dazu berechtigt, gegenüber ihren Institutionen Ansprüche geltend zu machen, um auf diese Weise ihre Konzeptionen des Guten durchzusetzen. In seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness spricht Rawls deshalb von einer kooperativen Gesellschaft, in der die Bürger als Individuen aktiv in eine politische Gesellschaft eintreten und diese nach Maßgabe ihrer persönlichen Vorstellungen gestalten. Rawls ordnet die liberale Gesellschaft dabei nach zwei zentralen Gerechtigkeitsprinzipien: Zum einen soll „[j]edermann […] gleiches Recht auf das umfangreiche System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“ (Rawls, 2012, S. 81) Zum anderen führt Rawls zum Ausgleich von sozialen Ungleichheiten das sogenannte Differenzprinzip ein, „dem zufolge die mit Ämtern und Positionen verbundenen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten so eingerichtet sein müssen, daß sie, wie groß oder klein sie auch sein mögen, zum größtmöglichen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder wirken“ (Rawls, 1998, S. 70f). Rawls‘ gerechte Gesellschaft ist im Grunde eine Gesellschaft gleicher Rechte für alle, die soziale Ungerechtigkeiten, die sich durch die zufällige Verteilung von Fähigkeiten und gesellschaftlichen Dispositionen zwangsläufig ergeben, durch das Differenzprinzip abzuschwächen versucht.
Vor allem das Differenzprinzip stößt im Kommunitarismus auf scharfe Kritik. Sandel sieht darin ein Teilungsprinzip, das nur funktioniert, wenn eine „verbindliche Gemeinschaft [existiert], innerhalb derer geteilt werden soll“ (Reese-Schäfer, 1994, S. 18). Die Bereitschaft zum Teilen bedarf allerdings „eines anderen, stärkeren moralischen Fundaments, als es die Vorstellung des Liberalismus von unserer Person liefern kann“ (a.o., S. 19). Schließlich geht der Kommunitarismus davon aus, dass sich Identitäten erst durch die Gemeinschaft bilden und auch durch diese legitimieren. Deshalb spricht beispielsweise Sandel von einer konstitutiven Gemeinschaft, in der die Beziehungen zwischen den Menschen, deren Stellung in der Gemeinschaft sowie die daraus entstehenden Werte und Ziele das Individuum maßgeblich konstituieren. Dabei entwickeln sich in der kommunitaristischen Gemeinschaft stärkere Loyalitäten und Pflichten als dies in Rawls kooperativer Gesellschaft der Fall ist, da Verpflichtungen nicht aus unpersönlichen Gründen aufgrund von rechtlich festgelegten Gerechtigkeitsgrundsätzen eingegangen werden, sondern aus den eigenen Vorstellungen und Werten in Beziehung zu den Mitmenschen innerhalb der Gemeinschaft entstehen. Hier kommt der zentrale Vorwurf des Kommunitarismus zum Vorschein, wonach sich die liberale Gesellschaft aus atomisierten Bürgern ohne jeglichen Sinn für gemeinschaftliches Handeln bilde. „Normative soziale Integration kann“, wie Forst es formuliert, „nicht über abstrakte Prinzipien, sondern muß [sic!] über gemeinsame Auffassungen des Guten erfolgen, die in […] eine gemeinsame Lebensweise eingebettet sind“ (Forst, 1993, S. 199). Zudem werfen die Kommunitaristen Rawls vor, „Gerechtigkeitsprinzipien in einem ‚asozialen Raum‘ zu rechtfertigen“ (a.o., S. 204), in dem die Realität und deren Bindungen, Beziehungen sowie die konkrete soziale wie politische Situation völlig ausgeblendet wird. (vgl. Walzer, 1993, S. 162)
3. Prioritätensetzung im politischen System
Ein weiterer Aspekt, der sich aus Rawls Gesellschaftskonzeption ergibt, ist der Vorrang des Gerechten vor dem Guten. Rawls Gesellschaft „versucht nicht, irgendwelche besonderen Ziele zu fördern, sondern ermöglicht ihren Bürgern, eigene Ziele zu verfolgen, solange dies mit den Freiheiten aller verträglich bleibt; sie muss deshalb mit Prinzipien regieren, die keine besondere Konzeption des Guten voraussetzen“ (Sandel, 1993, S. 19). Diese Prinzipien werden mit Hilfe von Verfassung und Gesetzen durchgesetzt und schaffen so ein faires System, innerhalb dessen die Bürger ihre persönlichen Wünsche frei entfalten können. Grundlage dieser Theorie ist das Verständnis, dass „[d]ie Gesellschaft […] dann am besten organisiert [ist], wenn sie von Prinzipien geleitet wird, die keine besondere Konzeption des Guten voraussetzen.“ (a.o., S. 23) Dabei geht Rawls Verständnis auf einen Kerngedanken Kants zurück, der fordert, dass politische Ethik „nicht ein bestimmtes Konzept des Glücks […] zu ihrem Grundprinzip nehmen [dürfe], weil solche Konzepte völlig unterschiedlich, zufällig zustande gekommen und nicht intersubjektiv begründbar seien“ (Reese-Schäfer, 1994, S. 13). Auf der Ebene des Guten ist demnach keine Einigung auf Gerechtigkeitsgrundsätze möglich, da die Vorstellungen diesbezüglich innerhalb einer Gesellschaft zu verschieden sind. Rawls trennt die politische Gestaltung der Gesellschaft deshalb bewusst von der persönlichen Konzeption des guten Lebens, um die Gesellschaft zu ordnen und mögliche Konflikte zu vermeiden, die durch pluralistische Vorstellungen zwangsläufig entstehen würden. Im Prozess politischer Entscheidungen sollen alle Bürger ungebunden entscheiden können.
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