Literarische, theologische und musikalische Diskurse bei Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen und Christian Fürchtegott Gellert


Hausarbeit, 2016

77 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Vorbemerkungen: Vorreden und Terminologie

3 Literarisch-theologischer Diskurs
3.1 Gerhard Tersteegen: «Die Seele entzieht sich der Mannigfaltigkeit»
3.1.1 Grundlegende Beobachtungen zum Inhalt
3.1.2 Elemente der Lyrik Tersteegens
3.1.3 Zufriedenheit
3.1.4 Erzählperspektive
3.2 Paul Gerhardt: «Gib dich zufrieden und sei stille»
3.2.1 Grundlegende Beobachtungen zum Inhalt
3.2.2 Elemente der Lyrik Gerhardts
3.2.3 Zufriedenheit
3.2.4 Erzählperspektive
3.3 Christian Fürchtegott Gellert: «Zufriedenheit mit seinem Zustande»
3.3.1 Grundlegende Beobachtungen zum Inhalt
3.3.2 Elemente der Lyrik Gellerts
3.3.3 Zufriedenheit
3.3.4 Erzählperspektive

4 Musikalischer Diskurs
4.1 Georg Neumark: «Wer nun den lieben Gott läßt walten»
4.1.1 Grundlegende Informationen zum Werk
4.1.2 Text-Musik-Verhältnis
4.2 Johann Sebastian Bach: «Geistliche Lieder und Arien»
4.2.1 Grundlegende Informationen zum Werk
4.2.2 Text-Musik-Verhältnis
4.3 Carl Philipp Emanuel Bach: «Herrn Professor Gellerts Geistliche Oden und Lieder»
4.3.1 Grundlegende Informationen zum Werk
4.3.2 Text-Musik-Verhältnis

5 Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Diese wissenschaftliche Arbeit setzt sich intensiv mit jeweils einem Gedicht der im 17. und 18. Jahrhundert lebenden Autoren Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen und Christian Fürchtegott Gellert auseinander. Was macht diese Autoren und ihre Lyrik für eine nähere Untersuchung so interessant? Diese Frag mag sich in der heutigen Zeit, welche dem Werk von z.B. Gryphius, Claudius, Klopstock und Goethe vornehmlich eine größere Aufmerksamkeit und Bedeutung beimisst, durchaus stellen. Eine adäquate Bewertung von in vergangenen Jahrhunderten verfasster Literatur darf niemals lediglich auf seine aktuelle Popularität gründen, sondern muss vielmehr ihre Rezeption zur Entstehungszeit und die Bedeutung für den Menschen der damaligen Zeit mit ihren verschiedenen zeit- und geistesgeschichtlichen Strömungen als Grundlage einer sachlichen und unvoreingenommenen Bewertung heranziehen. Gerade in dieser Hinsicht dürfen die drei oben genannten Schriftsteller, deren literarisches Schaffen sich über 150 Jahre erstreckt, fast als eine Art Musterbeispiel gelten, denn es gelingt ihnen, mit ihrer Lyrik den Bedürfnissen und dem Sehnen der Menschen ihrer Zeit nachzukommen. Auch weil Autoren wie beispielsweise Gellert die Voraussetzungen und ein Spannungsverhältnis schaffen, welches das Werk eines jungen Goethe erst möglich macht, darf die nähere Auseinandersetzung mit solchen Dichtern wie Gellert, Gerhardt und Tersteegen nicht nur als berechtigt empfunden werden, sondern ist geradezu erforderlich. Das verbindende Element dieser drei Autoren allerdings liegt noch mehr selbst in ihrer Dichtung begründet, welche – sieht man einmal von Gellerts zum Teil weltlicher orientierter Literatur ab – einen geistlich-religiösen Charakter trägt. Diese Lyrik bleibt nicht auf ein erbauliches Lesen beschränkt, sondern erhält als geistliches Lied bzw. Kirchenlied auch gesungen im Leben des Menschen einen festen Platz. Lyrik ist daneben auch immer Ausdruck eines gewissen Literaturverständnisses, was in der konkreten Gestaltung literarischerer Elemente seine Verwirklichung findet.

Die folgende Untersuchung setzt sich zum Ziel, auf Grundlage dreier thematisch ähnlicher Gedichte eine Analyse auf literarischer, theologischer und musikalischer Ebene durchzuführen und deren Ergebnisse in einem letzten Schritt zu vergleichen. Zunächst wird dabei auf die Vorreden der Dichter in dem entsprechenden Werk, in welchem das jeweilige Gedicht erschien, Bezug genommen, um deren Ansichten über den Zweck der Dichtung darzulegen. Daneben wird näher auf die Problematik der Terminologie geistliches Lied und Kirchenlied eingegangen, um eine korrekte Verwendung im Rahmen dieser Arbeit zu gewährleisten. Eine einzelne Analyse literarischer und theologischer Elemente erübrigt sich durch deren gemeinsame Berührungspunkte, sodass der literarisch-theologische Diskurs eine Einheit bildet. Neben inhaltlichen Aspekten des Gedichts werden theologische und poetologische Bestandteile der jeweiligen Lyrik genannt und erläutert. Dieser Diskurs wird mit einer Auseinandersetzung über das im jeweiligen Gedicht skizzierte Bild von Zufriedenheit fortgeführt: Was bedeutet Zufriedenheit im Sinne des Dichters? Des Weiteren erweist sich auch ein Blick auf die Erzählperspektive als gewinnbringend, denn durch diese mag es den Autoren gelingen, ihrem theologischen Anliegen noch besser Ausdruck zu verleihen. Der musikalische Diskurs befasst sich mit einer ausgewählten Vertonung des Gedichts. Zunächst werden grundlegende Informationen zum musikalischen Erscheinungswerk und jeweiligen Komponisten gegeben, um dann in einem nächsten Schritt näher auf das Text-Musik-Verhältnis einzugehen.1 Es wird untersucht, ob und wie es gelingen kann, grundlegende Textaussagen der Dichtung musikalisch umzusetzen, darzustellen oder gar zu verstärken. Versucht das musikalische Werk den Text als kompositorische Grundlage möglichst genau umzusetzen oder ist der Komponist eher an einer freieren, kunstvolleren Ausgestaltung interessiert? Zusammengefasst zeigt der abschließende Vergleich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der lyrischen Dichtung der drei behandelten Autoren auf und lässt einen Wandel theologischer Glaubensinhalte und lyrischer Elemente deutlich werden. Auch der musikalische Diskurs findet Einzug in den Schlussteil, um an die anfangs erläuterte Terminologie von Kirchenlied und geistlichem Lied anzuknüpfen.

2 Vorbemerkungen: Vorreden und Terminologie

In seiner Vorrede zu den im März 1757 erschienenen ,Geistliche[n] Oden und Lieder[n]‘ eröffnet Gellert eine programmatische und ästhetische Programmatik.2 Der Dichter beklagt die Geringschätzung des geistlichen Liedes, formuliert aber auch dessen Aufgabe, „[…] den Geschmack an der Religion zu vermehren und Herzen in fromme Empfindungen zu setzen […].“ (GS II, S.105) Glaubenswahrheiten der Religion sollen dem Leser präsentiert und nahe gebracht werden, „[…] daß deren Erkenntnis gefestigt und seine Frömmigkeit gestärkt wird […].“ (GS II, Ebd.) Mithilfe einer Aneinanderreihung rhetorischer Fragen verdeutlicht er seinen mit der Dichtung verfolgten Anspruch „Weisheit und Tugend unter den Menschen auszubreiten, und die Ehre des Stifters unserer Religion zu verherrlichen“ (GS II, S.105) und stellt diesen über den „[…] Ruhm und Beifall der Welt […].“ (GS II, Ebd.) Voraussetzung dafür ist der Gebrauch einer Sprache, deren Ausdruck nicht auf rhetorischer Fülle und Verzierung gründet: „Es muß eine gewisse Staerke des Ausdrucks in den geistlichen Gesaengen herrschen, die nicht so wohl die Pracht und der Schmuck der Poesie, als die Sprache der Empfindung, und die gewoehnliche Sprache des denkenden Verstandes ist.“ (GS II, S.107) Dies ist kein Plädoyer für eine Poetik des Primitiven, sondern für eine Poetik der eingängigen, verständlichen Empfindung. Der Dichter sieht sich in seiner Vorrede dazu veranlasst, die geistlichen Oden zu trennen: „Es giebt eine doppelte Gattung der geistlichen Oden; zu der einen gehoeren die Lehroden, zu der andern die Oden für das Herz. Wir benennen sie so, nachdem mehr Unterricht, oder mehr Empfindung darinne herrschet.“ (GS II, S.108) Daraufhin führt der Dichter ganz konkret die Themen der Lieder für das Herz an, welche sich von Religion über Sitten- und Tugendlehre erstreckt. Dass die Termini Empfindung und Unterricht nicht ohne weiteres mit den Begrifflichkeiten Liedern und Oden gleichgesetzt werden, bemerkt Schlingmann richtigerweise.3 Sowohl Verstand als auch Gefühl des Gläubigen spricht Gellert so an. Die Dichtung kann den Menschen zu einem gläubigen Erleben heranführen bzw. dazu anleiten. Jene Empfindungen sind dabei personalisiert und werden subjektiv erlebt. Auch wenn Gellerts Sprache „[...][n]icht das Bilderreiche, nicht das Hohe und Praechtige der Figuren“ (GS II, S.107) sein soll, bedeutet es im Umkehrschluss nicht, dass sich Gellerts Anspruch dieser Dichtung sich lediglich auf theologische Inhalte beschränken will: „Gleichwohl betont Gellert, dass seine Werke nicht nur einem religiösen, sondern zugleich einem ästhetischen Anspruch zu genügen bestrebt sind.“4 Im Hinblick auf die Tradition des geistlichen Liedes wird durch die Äußerung des Dichters: „[...] so sollte man der Religion besonders diejenige Art der Poesie heiligen, die gesungen werden kann“ (GS II, S.105) sein Anspruch der Nachfolge des Kirchenlieddichters Martin Luther deutlich. Die Anzahl der Lieder, „die Themen der ,christlichen Lebensführung´ reflektierend oder moralisierend behandeln“,5 nehmen einen großen Teil der ,Geistlichen Oden und Lieder‘ ein. Am Ende seiner Vorrede stellt der Poet heraus, dass erst durch die Betrachtung eines einzelnen Liedes sich dessen Wirkungskraft auf den Leser erschließt. (vgl: GS II, S.109) Diesem Gedankengang Gellerts soll in der Analyse des Liedes Folge geleistet werden.

Das 1729 erstmals von Gerhard Tersteegen (1697-1769) veröffentlichte ,Geistliche[s] Blumengärtlein‘ beginnt mit dem ,Vorbericht an den gottsuchenden und gottliebenden Leser‘, welcher mit dem Kryptonym ,G. T. St.‘, verbunden mit der Angabe des August 1727 endet.6 Neben dem zunächst eingeführten Topos der Bescheidenheit, wenn Tersteegen die Veröffentlichung hauptsächlich auf das Drängen seiner Freunde zurückführt, führt dieser an:

Es sind mir diese Schlußreime und Andachten mehrenteils unvermutet und zufälligerweise innerhalb weniger Zeit, nun und dann eines, gegeben worden, die ich dann auch, ohne viel auf Kunst und Zierlichkeit zu denken, so wie sie mir in die Gedanken kamen, aufs Papier gesetzt. (GBG, S.33)

So macht Tersteegen „das Zufallende und mehr Inspirierte denn eigener Formbemühung Verdankte“7 deutlich. Er spricht sich so für eine Klarheit und Einfachheit seiner Verse aus. Auch der „Verzicht auf eitlen ornatus“8 ist erkennbar. Tersteegen verkennt dabei nicht, dass wohl mancher Leser seinen theologischen Ausführungen nicht folgen kann; eben jenes kann aber nur „[...] durch die Abtötung seines Fleisches, seiner Sinne, seiner Begierden und seines Willens sehr innig, geistlich und stille gemacht […]“ (GBG S.33) geschehen. So bedauert Tersteegen mit Emphase auch, „daß so viele hungrige Gemüter sich noch so lange aufhalten und abspeisen lassen.“ (GBG, S.34) Denn lediglich durch die „Kernwahrheiten des inwendigen Christenlebens“ (GBG, Ebd.) kann der Geist des Menschen zu ,Vergnügung‘ und ,Frieden‘ finden. Der Anspruch seiner Dichtung ist laut Tersteegen erfüllt, „wenn auch nur eine einzige Seele […] eine kleine Stärkung und Erweckung hierdurch in ihrem inwendigen Wandel durch göttliche Mitwirkung bekommen möchte.“ (GBG, S.34) Eine thematische Bestimmung des Gegenstandes im ,Geistliche[n] Blumengärtlein‘ kann mit dem Verweis auf das Leben Tersteegens geschehen: „Die Themen, die in seinem Leben vorherrschen, findet man hier wieder: die Gegenwart Gottes, Stille und Einkehr, Aufruf zu Buße, Anbetung und Lebensheiligung.“9 Bewusst wurde Tersteegen bisher nicht als Mystiker konnotiert, weil dies eine „Frage der Begriffsbestimmung der Mystik“10 ist, wie Ruhbach korrekt konstatiert. Diesem Gedanken folgend, scheint der Ansatz van Andels, sowohl Tersteegen als auch Paul Gerhardt als Mystiker zu bezeichnen, nicht völlig abwegig; bedarf aber sicherlich einer kritischen Prüfung.11

Die Forschungsliteratur geht der Fragestellung der Terminologie von Kirchenlied und geistlichem Lied kaum nach. Die prekäre Forschungslage formuliert Scheitler ganz prägnant: „Die vorhandene Literatur unterscheidet an keiner Stelle in der von uns vorgebrachten Weise explizit und konsequent eine der Gattung Kirchenlied gleichberechtigt gegenüberstehende Gattung Geistliches Lied.“12 Bezeichnend dabei ist auch, dass beim Eintrag ,geistliches Lied‘ im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte schlicht auf das ,Kirchenlied‘ verwiesen wird.13 Immerhin wird betont, das Kirchenlied sei abzugrenzen von der geistlichen Dichtung, und eben auch vom geistlichen Lied.14 Erkannt wird ebenso, dass das Kirchenlied nicht auf die Verwendung im Gottesdienst beschränkt ist,15 aber im protestantischen Raum doch überwiegend dort zu verorten ist. Scheitler geht hier den umgekehrten Weg und schließt aus einer heterogenen Vertonungspraxis auf eine Unterschiedlichkeit der beiden Begriffe. So lebt das Kirchenlied von seiner Melodie und wird, um deren Verbreitung voranzutreiben und Aufführungspraxis zu erleichtern, einer schon bestehenden, im besten Fall bekannten Melodie eines Kirchenliedes, unterlegt. Dagegen lehnt sich das geistliche Lied weniger an solche Kirchenliedmelodien an; wird ab dem 17. Jahrhundert zunehmend von bekannten Komponisten dann als Kunstlied komponiert und erlangt dadurch eine hohe Wirkungsmöglichkeit.16 Führt man den Gedankengang Scheitlers weiter, so kann ein Lied erst nach durch eine jeweilige Vertonung als Kirchenlied oder als geistliches Lied identifiziert werden. Eine Abgrenzung der beiden Begrifflichkeiten ist aber gar nicht möglich, vielmehr haben beide eine gegenseitige Durchdringung erfahren.17 Dennoch dürfen Berührungspunkte der einzelnen Bereiche nicht übersehen werden, nur um die Desiderate der „Einführung und Verwendung einer klar umrissenen und einheitlichen Terminologie“18 und der „Abgrenzung zum Kirchenlied“19 zu verwirklichen. Im Folgenden soll der Problematik der Terminologie dadurch Abhilfe geschaffen werden, dass das Kirchenlied in seiner Ursprünglichkeit im Gottesdienst verortet ist und das geistliche Lied in ihrer Hauptfunktion auf den häuslichen Gebrauch beschränkt ist.

3 Literarisch-theologischer Diskurs

3.1 Gerhard Tersteegen: «Die Seele entzieht sich der Mannigfaltigkeit»

3.1. 1 Grundlegende Beobachtungen zum Inhalt

Schon der Titel ,Die Seele entzieht sich der Mannigfaltigkeit‘ lässt eine mögliche Gottesvorstellung Tersteegens erahnen. Ist der Titel des Gedichts womöglich eine Art Programm, welches der Laientheologe als Lebensmotto verwendet?

In der ersten Strophe konstatiert das lyrische Ich, es habe genug von der ,Mannigfaltigkeit‘. Diese Äußerlichkeit, eine solche nur scheinbare Fülle des Lebens werden negativ konnotiert: „Ich bin so satt an fremden Dingen“. (GBG, S.336, V.1) Das Ausgerichtet-Sein auf das Äußere ist eine Plage; die Fixierung auf das Äußere der Welt zieht lediglich diese nach sich: „Es kann doch nichts als Plage bringen.“ (GBG, S.336, V.3) Eben dadurch hat sich der Mensch an Gott versündigt: „Das Wesen der Sünde liegt darin, daß der Mensch sich von Gott abgewendet und sich der Welt außer Gott zugekehrt hat.“20 Ursprung dieses Gedankens ist die durch Adam verschuldete Erbsünde. Gott hat nicht die vom lyrischen Ich beschriebene Situation zu verantworten, sondern der Mensch selbst. Bemerkenswert ist die Ersetzung des Begriffes Gottes, welchen man wohl erwarten würde, durch den Terminus Ewigkeit, welche beide unumstößlich verbindet. So wird die Ewigkeit, nach welcher sich das lyrische Ich sehnt, mit Gott verbunden, und zwar so, dass eine solche nur durch Gott möglich erscheint. Gott, so die Forderung des Menschen, soll helfen, die Mannigfaltigkeit, die den Geist des Menschen befallen hat, wieder zu verbannen. Tersteegen baut schon in der ersten Strophe eine Gegensätzlichkeit oder zumindest eine Distanz zwischen Mensch und Gott auf, indem der Mensch als Sünder präsentiert wird und Gott als Herrscher von Ewigkeit zu Ewigkeit angerufen wird, welcher den Menschen aus seiner Notlage befreien soll.

Betrachtet man die letzten beiden Verse der zweiten Strophe, so lässt sich das Bild Gottes, welches Tersteegen zeichnet, konkretisieren: „Gott träget und beschützet zwar, Doch endlich muss er´s werden gar.“ (GBG, S.336, V.11-12) Zum ersten Mal wird Gott namentlich erwähnt; darüber hinaus positiv attribuiert. Er ist der sichere Halt des Menschen und Beschützer, der Hirte. Der Mensch aber erkennt, dass er nicht ausschließlich Gott als Retter und Allmächtigen ansieht, sondern sein Heil auch in weltlichen, äußeren Dingen sucht. Zu diesen zählt Tersteegen neben Leib, Fleisch und Blut auch die ratio, die Vernunft.21 Dieser letzte, emphatische Vers der zweiten Strophe zeigt den Menschen im Bewusstsein seiner Sünde durch die Abkehr von Gott. Die anfänglich geschaffene Distanz zwischen Gott und Mensch besteht weiter, wird aber durch die vom Menschen verbalisierte Äußerung der letzten Verses dahin verschoben, dass nicht – wie in der ersten Strophe – Gott als Handelnder tätig werden soll, sondern vielmehr der Mensch, indem er allein Gott dienen soll.

Der Mensch hinterfragt deshalb sein bisheriges Leben und folgert nun für sein weiteres wiederum emphatisch: „Weg Schein und Traum, weg Kreatur, Dem Einen will ich leben nur!“ (GBG, S.336, V.17-18) Es scheint fast so, als habe das lyrische Ich zunächst ausreichend Buße getan: „O Ewigkeit, ich sterbe schier“, indem es „[…] ein Gefühl von Sünde und Verlorenheit, von Buße und Selbstbeschuldigung […]“22 durchlebt hat. Sein Vertrauen in sich selbst und das in seine Umwelt tritt soweit zurück, dass der Mensch dazu fähig ist, sein Schicksal in die Hand Gottes zu legen. Dies verbindet man mit dem Terminus der Bekehrung,23 nach einer solchen auch Tersteegen 1724 sein bisheriges Leben ändert und neu ausrichtet.24 Die Gottbegegnung setzt einen grundsätzlichen Lebenswandel des Menschen voraus: „Alles, was die Richtung auf Gott stören oder verhindern könnte, muß radikal beseitigt werden.“25 Und damit mein Tersteegen nicht lediglich eine Abkehr von materiellen Objekten, sondern auch die Aufgabe von freund- und verwandtschaftlichen Beziehungen.26 Dieser Akt erscheint notwendig und selbstverständlich, um sich Gott wirklich hingeben zu können. Denn nur Gott kann den Menschen ,satt‘ machen, so erkennt das lyrische Ich die Notwendigkeit des seelischen Wandels: „Mein Geist muss sich zum Ursprung kehren, Der ihn für sich geschaffen hat.“ (GBG, S.336, V.15-16) Das Innere, die Seele soll sich dem Kreatürlichen abgrenzen, um das Heil erlangen zu können.

Die darauffolgende Strophe steigert wiederum die Intensität der Aussage des lyrischen Ichs. Der Erkenntnis der zweiten Strophe „Viel´ fremde Bilder leicht verstricken“, (GBG, S.336, V.9) welche durch die Zuwendung des Menschen zu äußeren Dingen zu erklären ist, steht nun die Bitte „So laß denn alle Bilder sinken / Und wirk die Stille, die ich such´!“ (GBG, S.336, V.21-22) entgegen. Nicht nur den Bildern, die den Menschen von Gott abkehren lassen, muss der Mensch entsagen, sondern jedwedes Bild, auch solche, „die unsere religiöse Vorstellungskraft kennzeichnen.“27 Nur so kann die Seele in den Zustand von Stille eingehen. Wieder wird die Kreatur Sinnbild einer äußerlichen, sündhaften Welt. Darüber hinaus stellt sich der Mensch in den Dienst Gottes und kehrt der Welt den Rücken zu, was wiederum als Notwendigkeit empfunden wird, um Gott nahe sein zu können, wie es Tersteegen in einem Brief an Christina Krabbe formuliert: „Vergiß dann nur muthig die Welt mit allen ihren falschen Gütern und eingebildeten Vergnügungen!“28 Neben der Attribution treu wird vor allem die Nähe Gottes zum Menschen deutlich: „Ich spür im Grunde deinen Zug.“ (GBG, S.336, V.20) Dieser Gott ist nicht nur treu, barmherzig und gerecht, sondern wahrhaft präsent, anwesend, gegenwärtig. Die ,presentia Dei‘ bedeutet die Allgegenwärtigkeit Gottes in allen Dingen, sie ist von ontischer Qualität. Diese nicht vom Bewusstsein zu fassende Existenz kann eben auch nicht durch Worte und Bilder erklärt werden, die somit ihre Berechtigung verlieren.29 Eine solche dann geschaffene Gemeinschaft mit Gott scheint nur dann realisierbar, wenn sie wirklich erlebt wird.30

Um das Heil Gottes zu erlangen, muss der Mensch sich Gott ganz hingeben. So verbalisiert das lyrische Ich zu Beginn der vierten Strophe in einem Parallelismus diese notwendige Hingabe. Der Mensch soll Gott ganz alleine, frei und bloß, sowie still und reine gegenübertreten. Damit ist gemeint, dass die Selbstverleugnung und die Verleugnung für alles Geschaffene Voraussetzung ist, um allein Gott anschauen zu können. Diese Abkehr soll eine Stille und Reinheit der Seele bewirken, in der sich der Mensch im Schoß seines Schöpfers hingeben kann. Nur das eigene Herz kann zum Ort der Begegnung mit Gott werden. Das Bild des Menschen, der rein, ohne jegliche Sünde vor Gott tritt, erinnert an das des Kindes in der Krippe. So ist Tersteegens Theologie auch eng mit seiner Christologie verbunden: In Jesus Christus „offenbart sich die lautere Liebe und Barmherzigkeit Gottes.“31 Wieso Tersteegen vor allem das Kind-Sein Jesu immer wieder aufgreift, erklärt sich vor allem durch dessen prototypischen Charakter. Das Jesus-Kind ist Inbegriff der Hinwendung, ja Hingebung zur Mutter. Es ist unbefangen von der Schuld und Sünde, die der Mensch auf sich geladen hat. So formuliert es Pieter van Andel treffend mit dem Verweis auf Tersteegens Äußerungen in seinen Briefen:

Im Kindsein Jesu wird diese vom Menschen erwartete Unschuld, seine Abhängigkeit, sein Gehorsam und seine Hingabe verwirklicht, damit jeder verstehen kann, daß nur im Stande geistlicher Kindschaft die Gemeinschaft mit Gott empfangen wird. […] Es gibt nichts Nützlicheres, als bildlos, werklos und formlos zu liegen im Schoß des Vaters.32

Und aus dem milder formulierten Aussage ,Es schweige Welt und Kreatur‘ wird nun die Bestimmtheit, sein Leben dem Dienst an Gott zu verpflichten: „Zerreiß denn alle meine Band´, Mein Ganzes sei dir zugewandt.“ (GBG, S.336, V.29-30)

Bei einer Festlegung des Menschen auf die Neu-Ausrichtung des Lebens in der Gegenwart bleibt es allerdings nicht. Der Mensch sagt Gott seinen zukünftigen Dienst zu: „Von allem ab, in dich hinein / Dies soll mein stetes Werk nur sein.“ (GBG, S.336, V.35-36) Gott wird angerufen, er möge in das ,wahre Leben‘ des Menschen eindringen und es ausfüllen. Denn dann kann das lyrische Ich dem Zustand der Zerstreuung entkommen und sich Gott hingeben, wenn es symbolisch die matten Augen schließt. Diese Geste bedeutet Gottvertrauen und ganze Hingabe, ein wahrer Gottes-Dienst.

Sowohl vom Menschen als auch von Gott selbst zeichnet Tersteegen ein Bild. Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, dass Gott feste Attributionen zugeschrieben werden, die sich zu einem Bild komplettieren, wohingegen der Mensch als ein Wesen dargestellt wird, dessen innerer Wandel thematisiert wird. Gott ist der allmächtige Schöpfer, ein ewiges Wesen und Beschützer, der treu, gnädig und barmherzig handelt. Gottes Sohn, Jesus Christus, das Kind in der Krippe, ist nicht nur ein Zeichen der Liebe Gottes, sondern ist auf diese Welt gekommen, um den Menschen zu zeigen, dass eine tiefe Gemeinschaft mit Gott nur im Kind-Sein möglich ist. Das Kind-Sein wird durch den Prozess der Läuterung, den Tersteegen beschreibt, für den Menschen möglich und erfahrbar. Die damit verbundenen seelischen Zustände werden näher beschrieben: Die Abkehr von Gott ist Plage, Sünde und dem Menschen ein Leid. Der Mensch muss Buße tun, indem er Reue über die Sünde empfindet. Das mündet auch in die Erkenntnis, dass die Seele sich zum Ursprung kehren und allen Äußerlichkeiten entsagt werden muss. Aber es ist mehr als das: Es findet ein so persönlicher Umgang mit Gott statt, „er verbürgt eine Gegenwart, die sich freilich nicht […] im alltäglichen Bewußtsein des empirischen Ich manifestiert, sondern in dem diesem Ich-Bewußtsein normalerweise verdeckten Seelengrund.“33 So kann Gott der Seele des Menschen näher sein als er selbst sein Inneres ergründen kann.

3.1.2 Elemente der Lyrik Tersteegens

Folgt man den Überlegungen Van Andels zum Heilsweg, so scheint echte Buße nur durch Christus möglich, ferner wird die Notwendigkeit einer solchen Hinwendung zu Christus für die weitere Läuterung deutlich: „Wenn die Seele wirklich auf Christus sieht und sich ihm anvertraut, mündet die Buße in der Bekehrung aus.“34 Sofern der Mensch sich Gott, offenbar geworden durch Christus, genauso anvertraut, wie das Jesus-Kind seiner Mutter, dann ist eine Bekehrung des Menschen möglich. (Vgl. Strophe 5) Damit wird der Begriff der Mystik mehr als nur tangiert: „Christliche Mystik weiß […] nicht nur von dem Weg des Menschen zu Gott; […] vielmehr geht all dem die Herabkunft Gottes voraus, seine Menschwerdung.“35 Diese Zuwendung zu Christus erscheint als das Scharnier zwischen Buße und Bekehrung. Durch die Fixierung des Menschen auf Christus erfährt dessen Seele einen Zustand von Ruhe, welchen ihn „die süße Freude seines Heils“36 schmecken lässt. Der Dichter zeigt dem Gläubigen so den Weg zum Heil auf; man könnte den Text als eine Anleitung zur gottgefälligen Lebensführung auffassen. Er selbst gibt aber an, dass ein einziges Modell, welches jeden Menschen bekehren könne, nicht existiert.37 Vielmehr muss der Heilsweg als individuell angesehen und gesucht werden. So fällt es – vor dem Hintergrund der eigenen Bekehrung Tersteegens – Hoffmann nicht schwer, der eigentlichen Untersuchung des literarischen Oeuvre Tersteegens sein Fazit vorauszuschicken: „Die umfassende literarische Arbeit ist Ausdruck für Tersteegens Erlebnis und Bewusstsein, dass er nun davon überzeugt ist, dass seine Gedanken und Gefühle für andere Menschen Bedeutung haben und wertvoll sind.“38 Richtigerweise verkennt Hoffmann in seiner religionspsychologischen Untersuchung Tersteegens nicht die Wirkung des Pietismus, dessen Eigenheiten nach Brecht bestmöglich durch die Zuordnung zu bestimmten Regionen, bei Tersteegen dem reformierten Pietismus am Niederrhein, zu erfassen sind.39 Man tut nämlich dem literarischen Werk Tersteegens Unrecht, sofern man es lediglich vor dem Hintergrund mystischer Tradition betrachtet, „weil Mystik keine Weltanschauung oder Religion mit einer eigenen philosophischen Spekulation ist, vielmehr eine solche voraussetzt, um in diesem Medium den eigentlich mystischen Geist zur Entfaltung zu bringen.“40

Während van Andel vor allem christlich-theologisch mit dem Heil des Menschen argumentiert, setzt Wehr durch die nähere Betrachtung des Mystischen eine Akzentuierung, deren Übertragung auf das Lied durchaus – wenn auch mit Einschränkungen – glückt.41 Die erste Stufe, der Weg der Reinigung, die ,via purgativa‘ beschreibt die Notwendigkeit einer lebenseinschneidenden Veränderung, die der Mensch vollziehen muss. Die ersten beiden Gedichtstrophen drücken ebendies aus, dennoch bleibt zu hinterfragen, wie der eigentliche Vorgang der Reinigung geschehen soll: Ist der Erkenntnis und dem Bewusstsein des Menschen Ende der zweiten Strophe, dass er nicht allein in Gott sein Heil sucht, eine Reinigung schon mit inbegriffen? Die ,illuminatio‘ dagegen ist in Tersteegens Gedicht sogar besser zu identifizieren, sofern man unter ihr eine fühlbare Gottesnähe, die Einwirkung Gottes auf den Menschen und seine tiefere Erkenntnis, dass der Mensch sein ganzes Leben auf Gott ausrichten muss, versteht. Vor diesem Hintergrund kann man die beiden mittleren Strophen des Gedichts zum ,Weg der Erleuchtung‘ zählen. Das herausragende Element der Mystik, die ,unio mystica‘, die angestrebte Vereinigung von Gott und Mensch, erfahrbar als eine Gemeinschaft mit Christus, klingt am ehesten in den beiden letzten Strophen des Liedes an. Diese sich „zum Ursprung der menschlichen Existenz“42 erlebte Rückkehr findet Ausdruck in „Tersteegens häufigem Gebrauch, daß der Mensch in den Schoß zurückkehrt, aus dem er hervorgegangen ist.“43 Jenes Ziel der christlichen Mystik „wird zwar noch in kühnen Bildern und in symbolträchtigen Gleichnissen angedeutet; sie übersteigt jedoch alles Menschenmaß und Menschenvermögen.“44 Wie kann das eigentlich Unsagbare ausgesprochen oder gar in einem Gedicht Ausdruck finden, wenn sich dieser mystische Akt dem Menschen wohl nicht erschließt? Bei allen Versuchen, dem Gedicht ein vorgegebenes Muster überziehen zu wollen, sei auf Bremond hingewiesen: „Kein Mensch kann übrigens die stets offenen Grenzen mit Genauigkeit bestimmen, die das ´gewöhnliche´ Seelenleben vom mystischen trennen.“45 Der Moment des Nicht-Fassbaren ist der eigentlichen Wortbedeutung der Terminologie Mystik ja inhärent, welches so viel wie Geheimnis bedeutet. Auf der anderen Seite ist im griechischen das Wort Mystik mit dem Terminus „die Augen schließen“ verwandt46: So ist das Schließen der Augen, welches Tersteegen in der letzten Strophe des Lieds thematisiert, als eine Abkehr vom Weltlichen zu verstehen sowie „der Sammlung und der willenlose Hingabe an Gott.“47 Womöglich ist das Medium der Sprache gar nicht dazu fähig, alle Elemente der Mystik zu erfassen und in ihrer eigentlichen Wirkungsmächtigkeit dem Leser zu präsentieren.

Doch der Weg der christlichen Mystik ist für den Mystiker nicht nur als der eines Dreischrittes vorstellbar, sondern auch als unvorbereitetes Erlebnis erfahrbar. Diese Erfahrung ist die des raptus, „das heißt des Hineingerissenseins des Geistes in die Gottesgegenwart und in die Klarheit des Gott-Erkennens.“48 Zwar lassen sich die jeweils letzten beiden Verse des Gedichts ,Die Seele entzieht sich der Mannigfaltigkeit‘ durchaus als Ausdruck des Gott-Erkennens deuten, doch wird diese in der Retrospektive des lyrischen Ichs zum einen in steigender Intensität mehrfach erfahren und erschließt sich dem Leser zum anderen nicht in seiner Ganzheit als plötzlich, unvermittelt oder unvorbereitet.49

Gottfried Wolff präsentiert das Kreuz als das eigentliche Ziel der christlichen Mystik:

Das Kreuz allein ist die letzte Gewähr, daß die Christusnachfolge im Überschwang des Erlebens nicht doch verlassen wird. Es ist ständiger Prüfstein, ob nicht doch unterschwellig eigensüchtige Motive mitwirken. Bei Tersteegen zeigt sich, daß in Theorie und Praxis, in seiner Verkündigung, in seinen Liedern und in den Briefen die Botschaft vom Kreuz an zentraler Stelle bleibt und darum ständig wiederholt wird. Auch in der harten Realität seines Lebens, in seinen vielen Leiden, wird das Kreuz immer wieder spürbar.50

Auch wenn es Wolf gelingen mag, durch ausreichend Quellen sowie dem Hinweis auf das Leben Tersteegens, seine These ausreichend zu stützen, sucht man vergeblich in dem zu behandelnden Gedicht danach. Richtig ist, dass der Mensch auch nach seiner Bekehrung nicht am endgültigen Ziel angekommen ist. Denn dem Menschen steht noch die Zukunft bevor, wovon auch die letzte Strophe handelt. Allerdings lässt es Wolff an dieser Stelle vermissen, das Kreuz mit dem Leiden in Verbindung zu bringen, um so deren große Bedeutung für die Bekehrung herauszustellen: „Im Leiden und durch das Leiden erlebt die Seele eine Form tiefer Gemeinschaft mit dem Herrn, die Trost und Kraft gibt.“51 Im Gegensatz zum christlichen Symbol des Kreuzes ist die angestrebte Vereinigung zwischen Gott und Mensch im Lied besser erkennbar, besonders in der letzten Strophe. Vor allem das Adverb ,hinein‘ versucht, diese Vereinigung adäquat zu beschreiben.

Sowohl der Dreischritt der christlichen Mystik als auch Van Andels Ausführungen zum Heilsweg lassen sich in Tersteegens Gedicht – mit Einschränkungen – wiederfinden. Ein einzelnes Gedicht kann nicht als Abbild einer ganzen Theologie gelten; aber ein Blick auf den Pietismus hilft bei dem Versuch, Tersteegens Gottesvorstellung zu präzisieren. Zwar versucht Van Andel, den mystischen Dreischritt, wie Wehr ihn erläutert, nicht darzulegen, dennoch nimmt auch er das zentrale Thema der ,unio mystica‘ auf.52 Unabhängig einer bestmöglichen Terminologie spielen Buße, Leiden, Bekehrung, Selbstverleugnung und Gebet bei Tersteegen eine immense Rolle. All diese Begrifflichkeiten sind aber nur schwer voneinander abzugrenzen, deshalb fällt die Reduzierung auf ein Modell, das eindeutig drei Stufen des mystischen Weges nennt und voneinander abgrenzt, alles andere als leicht. Ganz eng mit seiner Theologie ist die Christologie bei Tersteegen verknüpft. Gott ist nur durch Christus erfahrbar; ein besonderes Interesse richtet sich dabei auf Jesus Christus als Kind. Wie sich das Kind der Mutter hingibt, so soll der Mensch sich in den Schoß des Vaters sinken lassen. Dann scheint eine intime Gemeinschaft möglich. Ausgangssituation der Gott-Mensch- Beziehung bei Tersteegen ist ein Dualismus zwischen Gott und Mensch, welcher sich durch die Hinwendung des Menschen zur ,exteriora‘ anstelle der ,interora‘ an Gott versündigt hat. Der Mensch selbst ist nicht der Initiator seines innerlichen Wandels hin zur Gemeinschaft mit Gott, sondern „das liebevolle Eingreifen Gottes.“53 Die Gnade, die dem Menschen zu Teil wird, kommt nicht von ihm selbst, sondern von Gott: „Sie wird im klassischen Pietismus als die Liebe Gottes im Herzen erfahren, Gnade und menschliche Vernunft haben nichts miteinander zu tun.“54 Einen anderen Blickwinkel auf die Mystik versucht Günther durch Aspekte der Religionspsychologie zu gewinnen: „Sie [Die Mystik] wird daher immer dann akut, wenn des Menschen Inneres abgezogen und abgetrieben ist von den eigentlichen tiefsten Quellen des geistigen Lebens, vom Göttlichen, Ewigen oder Absoluten.“55

Tersteegens Theologie ist aber nicht nur in Bezug auf die Mystik zu ergründen, sondern auch vor dem Hintergrund des Pietismus zu beleuchten. Der letztere wird definiert „als noch religiös gebundene Anfangsstufe der Emanzipation des seelischen Erlebens […].“56 Der Pietismus fokussiert individualistische Glaubenselemente, wie es im Gedicht zu Tage tritt: Der Mensch setzt sich ganz persönlich mit Gott auseinander. So rückt auch im Pietismus – ähnlich wie in der Mystik – die Gestalt Jesus Christus in den Vordergrund.57 Die womöglich offensichtliche Tatsache, dass das Lied einem dem Gebet verwandten Duktus ähnelt, darf nicht übersehen werden. Es ist folglich auch Ausdruck eines individuellen Gebetslebens, welches der Gläubige pflegt. Dabei hilft eine geistesgeschichtliche Einordnung, die den Pietismus als „die seelische Krisis der Übergangszeit zwischen Barock und Aufklärung“58 verortet, nicht wesentlich weiter. Entscheidend sind theologische Inhalte: „Das religiöse Grundelement des P. ist das Bewußtsein der Südhaftigkeit und die ,Wiedergeburt‘ oder der ,Durchbruch‘.“59 Dabei wird das jeweilige Verhältnis der Seele zu Gott beleuchtet. Das Besondere dieses Verhältnisses ist deren Dualität: „Das pietistische Selbstgefühl schwankt in beständiger Unstetigkeit zwischen höchster Gotterfülltheit und tiefster Gottverlassenheit […].“60 Eine solche Skala kann verschiedenste seelische Zustände von der Verlassenheit, dem Leid, der Stille bis hin zur ,unio mystica‘ annehmen. Und der feinfühlige Ausdruck eben dessen ist eine pietistische Errungenschaft: „Zum erstenmal in nhd. Zeit lernt man, auch die zartesten Regungen zu analysieren und solche Beobachtungen sprachlich auszudrücken. Die Genauigkeit und Feinheit der Schilderung ist in dieser Zeit einzigartig.“61 Wendet man auf Tersteegens Gedicht den mystischen Weg an, so sieht man den Dichter darin bemüht, verschiedenste Gemütslagen, die die jeweiligen Stufen beschreiben, sichtbar werden zu lassen. Andererseits muss man von einem bedachten, feinen Umgang und schließlich einer sensiblen Verschriftlichung dieser Seelenzustände durch Tersteegen ausgehen, sodass eine klare Positionierung und Nennung solcher leiser vernehmbarer Schwingungen nicht ohne weiteres möglich ist. Dabei bleibt aber festzuhalten, dass Tersteegens Pietismus sich nicht im strengen Sinne von der Mystik trennen lässt. Die Mystik muss als eine Theologie des Erfahrbaren gesehen werden, und eben auch dem Pietismus liegt das Erfahrbare zugrunde: „Das religiös-ethische ,Erlebnis‘, in welchem die Totalität des eigenen geistigen und persönlichen Daseins lebendig erfahren wird, bildet den psychologischen Ausgangspunkt dieser Gemütsverfassung.“62 Eine solch erlebnisbasierte Fokussierung durchzieht auch das Verständnis und den Stellenwert der heiligen Schrift, der Bibel. Zwar muss man ihr in Tersteegens Leben einen hohen Stellenwert zusprechen, aber erreicht sie ihre größte Bedeutung beim Mystiker und Pietisten erst in der erlebten Erfahrung: „Zum Schluß geht es kaum noch darum, was die Schrift ist, sondern wie sie im persönlichen Leben des einzelnen Menschen wirkt.“63 Günther geht einen Schritt weiter, degradiert die Bibel zum Erbauungsbuch als eine Abkehr von der Kirche und sieht den Gottesbeweis durch die Selbsterfahrung Gottes in einem neu aufkommenden Maßstab der religiösen Ethik:

Das pietistische Selbst zieht sich mit verstärkter Kraft aus dem Bannkreis der Kirche zurück und verlegt die ganze Macht der subjektiven Evidenz in die eigene innere Erfahrung, in sich selber. Damit ist ein neuer Maßstab für die religiösen Werten gefunden: die Existenz Gottes kann nicht durch Bibel, Dogma und Kirche hinreichend verbürgt werden, sondern nur dadurch, daß sich die Gottheit im eigenen Erlebnis unmittelbar bezeugt. […] Die Bibel wird zum Erbauungsbuch, zur Anregerin religiöser Erlebnisse.64

Solche religiösen Erlebnisse werden im Pietismus subjektiv und individuell erlebt. Das Gedicht ,Die Seele entzieht sich der Mannigfaltigkeit‘ beschreibt eine individualistisch erlebte Glaubenserfahrung des Menschen, welche verschiedenste, auf Gegensätzen beruhende Befindlichkeiten des Menschen, die Tersteegen zu zeichnen versucht, offenbart. Dualistische Strukturen finden sich nicht nur im Seelenleben des Menschen, sondern lassen sich auch durch die nähere Betrachtung des dem Menschen Inneren und Äußeren aufzeigen, was nun an dem Terminus der Zufriedenheit aufzuzeigen ist.

3.1.3 Zufriedenheit

Schon der erste Vers des Gedichts, welche den Menschen durch die weltliche Sättigung als deren müde bezeichnet, gibt Hinweise auf den Terminus der Zufriedenheit. Das wahre Satt-Sein, eine innerliche Zufriedenheit, scheint somit nur durch Gott und in ihm möglich. Dazu aber ist das Äußerliche des Menschen gar nicht fähig, wie Tersteegen es an dem Terminus der Vernunft aufzeigt: „Sie ist das Vermögen des Menschen, Gott und die geistlichen Wahrheiten als gegenwärtig, lebendig und wesentlich zu erkennen. Weder die Sinnesorgane noch die Vernunft sind fähig, den Menschen zu solcher Erkenntnis zu bringen.“65 Durch den Umgang mit der ,ratio‘ ist die Beziehung zu Gott wesentlich – im negativen Sinne – eingeschränkt und steht der inneren Gemeinschaft mit Gott entgegen. Die Vernunft darf als fester, aktiv gelebter Bestandteil des menschlichen Lebens jedoch als nicht gering geschätzt werden, sieht man in ihr den Ausdruck einer Lebensführung des Menschen seit Ende des Feudalsystems.66 Stellt sich

[...]


1 Für Basisinformationen zur allgemeinen Musiklehre siehe: Helmut K.H. Lange: Allgemeine Musiklehre und musikalische Ornamentik. Teil 1. Allgemeine Musiklehre, S.1-85.

2 Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Gedichte, Geistliche Oden und Lieder. Band

II, S.105-109. Im Folgenden zitiert als GS II.

3 Vgl. Carsten Schlingmann: Gellert: Eine literarhistorische Revision, S.147.

4 Sikander Singh: Christian Fürchtegott Gellert, S.78.

5 Carsten Schlingmann: Gellert: Eine literarhistorische Revision, S.156.

6 Vgl. Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein, S.33-36. Im Folgenden zitiert als GBG.

7 Hans-Jürgen Scharder: Hortulus mystico-poeticus, S.58.

8 Ebd.

9 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen, S.341.

10 Gerhard Ruhbach: Gerhard Tersteegen, S.266.

11 Vgl. Cornelis Pieter van Andel: Paul Gerhardt, ein Mystiker zur Zeit des Barock, S.172-184.

12 Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock, S.15.

13 Vgl. Waltraud-Ingeborg Geppert: Kirchenlied, S.819-852.

14 Vgl. Ebd., S.819.

15 Vgl. Irmgard Scheitler: Ebd., Grafik S.36.

16 Vgl. Irmgard Scheitler: Ebd., S.38.

17 Matthias Biermann: „Das Wort sie sollen lassen stahn….“, S.62.

18 Vgl. Irmgard Scheitler: Ebd.

19 Ebd.

20 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, S.111.

21 Cornelis Pieter van Andel: Ebd., S.103.

22 Ebd., S.122.

23 Vgl. Ebd., S.123.

24 Vgl. Dieter Hoffmann: Der Weg zur Reife, S.161-210.

25 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen, S.335.

26 Vgl. Ebd.

27 Vgl. Ebd.

28 Gerhard Tersteegen: Briefe 2, S.29.

29 Vgl. Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, S.110.

30 Vgl. Ebd., S.105.

31 Ebd., S.113.

32 Ebd.

33 Gerhard Wehr: Die deutsche Mystik, S.148.

34 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, S.123.

35 Gerhard Wehr: Ebd., S.26.

36 Cornelis Pieter van Andel: Ebd., S.124.

37 Ebd., S.122.

38 Dieter Hoffmann: Der Weg zur Reife, S.212.

39 Markus Brecht (Hg.): Der Pietismus im 18. Jahrhundert, S.390-410.

40 Josef Quint: Mystik, S.544.

41 Vgl. Gerhard Wehr: Die deutsche Mystik, S.31-38.

42 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, S.142.

43 Ebd.

44 Vgl. Gerhard Wehr: Die deutsche Mystik, S.36.

45 Henri Bremond: Falsche und Echte Mystik, S.213.

46 Josef Quint: Mystik, S.544.

47 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, S.216.

48 Gerhard Wehr: Ebd.

49 Vgl. Gerhard Wehr: Ebd., S.36.

50 Gottfried Wolff: Solus Christus, S.83.

51 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, S.124.

52 Vgl. Ebd., S.140-145.

53 Ebd., S.149.

54 Kurt Berger: Barock und Aufklärung im geistlichen Lied, S.89.

55 Hans Günther: Jung-Stiling, S.13.

56 August Langen: Pietismus, S.103.

57 Vgl. Ebd.

58 Kurt Berger: Ebd., S.89.

59 August Langen: Pietismus, S.103.

60 Kurt Berger: Ebd., S.88.

61 August Langen: Ebd.

62 Hans Günther: Jung-Stiling, S.131.

63 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte,

64 Hans Günther: Ebd., S.137.

65 Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, S.106.

66 Vgl. Hans Günther: Jung-Stiling, S.134.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Literarische, theologische und musikalische Diskurse bei Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen und Christian Fürchtegott Gellert
Hochschule
Universität des Saarlandes
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
77
Katalognummer
V471395
ISBN (eBook)
9783668962125
ISBN (Buch)
9783668962132
Sprache
Deutsch
Schlagworte
literarische, diskurse, paul, gerhardt, gerhard, tersteegen, christian, fürchtegott, gellert
Arbeit zitieren
Jonas Abel (Autor:in), 2016, Literarische, theologische und musikalische Diskurse bei Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen und Christian Fürchtegott Gellert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/471395

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