Der Einfluss einer zu frühen Geburt auf die Schulleistungen


Trabajo/Tesis de Licenciatura, 2005

98 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1. Einführung

2. Frühgeburtlichkeit
2.1 Definition, Epidemiologie
2.2 Ursachen
2.3 Folgen der zu frühen Geburt
2.3.1 Biologische Entwicklung
2.3.2 Psychosoziale und emotionale Entwicklung

3. Probleme im Bereich der Schulleistung
3.1 Definition von Schulleistung
3.2 Lernbehinderung
3.3 Spezifische Lernstörungen
3.3.1 Lese-Rechtschreibstörung
3.3.2 Rechenstörung
3.3.3 Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten
3.4 Psychogene Lernstörungen
3.5 Underachievement
3.6 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
3.7 Schulphobie/ Schulangst

4. Studienergebnisse zum Thema Frühgeburt und Schulleistung
4.1 Studienergebnisse bis 2001
4.1.1 Bhutta, A. T. et al. (2002)
4.1.2 Horwood, L.J. et al. (1998)
4.2 Studienergebnisse im deutschsprachigen Raum
4.2.1 Schubiger, G. et al. (1999)
4.2.2 Wolke, D. et al. (1999)b
4.2.3 Sticker, E. et al. (1998)
4.2.4 Hanke, C. et al. (2002)
4.3 Studienergebnisse 2001-2005
4.3.1 Grunau. R. E, et al. (2002)
4.3.2 Grunau, R. E. et al. (2004)
4.3.3 Anderson, P.; Doyle, L.W. (2003)
4.3.4 Saigal et al. (2003)
4.3.5 Mick, E. et al. (2002)
4.3.6 Johnson, A. (2003)
4.3.7 Hack, M. et al. (2002)
4.3.8 Breslau, N. et al. (2004)
4.3.9 Ment, L. R. et al. (2003)
4.4 Zusammenfassung und Diskussion der Studienergebnisse

5. Risikofaktoren für schulische Probleme bei Frühgeborenen
5.1 Risikofaktoren auf neurologischer Ebene
5.1.1 White Matter / Grey Matter
5.1.2 Gehirn Volumen/ Hypocampus Volumen
5.1.3 Laterale Ventrikel
5.1.4 Exekutive Funktionen
5.1.5 Störungen im Bereich der visuellen Motorik
5.1.6 Neuromotorik
5.2 Risikofaktoren auf medizinischer Ebene
5.2.1 Prä- und neonatale Komplikationen
5.2.2 Krankheiten und Störungen, welche die Leistungsfähigkeit direkt beeinflussen
5.2.3 Medizinische Faktoren, welche die Leistungsfähigkeit indirekt beeinflussen
5.3 Risikofaktoren auf psychologisch- emotionaler Ebene
5.3.1 Studienergebnisse zum psychischen Ergehen von Frühgeborenen
5.3.2 Erklärungsansätze und Ursachen der psychischen Störungen
5.3.3 Folgen für die Schulleistungen
5.4 Risikofaktoren auf sozialer Ebene
5.4.1 Soziodemographische Faktoren
5.4.2 Qualitative Umwelt Faktoren: Die Familie
5.4.3 Qualitative Umweltfaktoren: Soziales Umfeld
5.5 Diskussion der Risikofaktoren
5.5.1 Soziale- versus biologisch-/medizinische Risikofaktoren
5.5.2 Zusammenfassung der Risikofaktoren

6. Langzeitprognosen bezüglich der schulischen Entwicklung von Frühgeborenen
6.1 Neonatale Prognose Faktoren
6.2 Prognosefaktoren im Kleinkind- und Vorschulalter
6.3 Biologische versus soziale Prognose Faktoren
6.4 Möglichkeiten und Grenzen der Langzeitprognose
6.4.1 Spannungsfeld Früherkennung/Prognose und Stigmatisierung

7. Präventivintervention
7.1 Interventionsstudien
7.1.1 Kombinierte Interventionen bei Eltern und Kind
7.1.2 Kind- zentrierte Interventionen
7.1.3 Elternzentrierte Interventionen
7.2 Diskussion der Präventivinterventionen
7.2.1 Dauer und Zeitpunkt der Interventionen
7.2.2 Inhalt der Interventionsstudien
7.2.3 Von der Forschung zur Umsetzung
7.3 Interventionskonzept zur Prävention von schulischen Problemen bei Frühgeborenen
7.3.1 Spannungsfeld zwischen Hilfe und Stigmatisierung
7.3.2 Dauer und Zeitpunkt der Intervention
7.3.3 Zielpublikum
7.3.4 Förderdiagnostik
7.3.5 Interdisziplinarität
7.3.6 Inhaltliche Aspekte
7.3.7 Kosten- Nutzen
7.3.8 Interventionsmodell

8. Therapie
8.1 Individuelle Therapie/ Förderung
8.2 Förderung Frühgeborener Kinder im Unterricht
8.3 Elternberatung

9. Rolle der Sonderpädagogik

10. Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis

1. Abstract

Eine Vielzahl von aktuellen Studien zeigt, dass Frühgeborene Kinder ohne offensichtliche Behinderungen, verglichen mit Termingeborenen Kindern, vermehrt vielschichtige schulische Probleme wie Schulleistungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten aufweisen.

Die Arbeit untersucht folgende Fragestellung: „Inwiefern beeinflusst eine zu frühe Geburt die Schulleistungen?“. Es wird deutlich, dass Schulleistungsprobleme bei Frühgeborenen multikausal determiniert sind. Die Risikofaktoren sind auf drei Ebenen angesiedelt: Der biologisch/ medizinischen Ebene, der psychologischen Ebene und der sozialen Ebene. Bislang ist umstritten, ob soziale oder medizinische Faktoren einflussreicher sind. Studienergebnisse deuten darauf hin, dass bei den sehr kleinen Frühgeborenen, die biologisch/medizinischen gegenüber den sozialen Risikofaktoren überwiegen. Die Auswirkungen von sozialen Faktoren zeigten sich bislang eher additiv. Bei den grösseren Frühgeborenen hingegen, scheinen soziale Risikofaktoren einen grösseren Einfluss zu haben als biologisch/medizinische Faktoren. (vgl. Resnick et al. 1999, 74 ; Wolke et al. 1999b, 25ff) Auch wenn umstritten ist, wie gross der Einfluss von sozialen Faktoren tatsächlich ist, wird deutlich, dass das soziale Umfeld bei der schulischen Entwicklung von Frühgeborenen eine erhebliche Rolle spielt. Es ist deshalb wichtig, dass nebst der medizinischen Betreuung, auch die Umweltbedingungen optimiert werden

In einem weiteren Schritt untersucht die Arbeit folgende Fragestellung: „Wie gestalten sich mögliche Präventivinterventionen?“ Aufgrund der Risikofaktoren lässt sich ein mehrdimensionales, interdisziplinäres Interventionskonzept ableiten. Da die längerfristigen kognitiven Effekte bisheriger Interventionsstudien nur im Einzelfall untersucht wurden, sollte die Überprüfung der Wirksamkeit verschiedener Interventionsmöglichkeiten für die Schulleistungen, Ansatzpunkt künftiger Forschungen sein.

Die Arbeit macht deutlich, dass es Auftrag der Sonderpädagogik ist, die Folgen der zu frühen Geburt mit Hilfe nachbarschaftlicher Disziplinen so weit als möglich zu minimieren, damit eine erfolgreiche Schulbildung gewährleistet ist.

1. Einführung

Ungefähr vier bis neun Prozent aller Säuglinge kommen zu früh, d. h. vor der 38. Schwangerschaftswoche, zur Welt. (vgl. Dick et al. 1999, 19) Fortschritte in der neonatalen Intensivmedizin haben dazu geführt, dass die Überlebenschancen von Frühgeborenen in den letzten Jahren stark gestiegen sind. (vgl. Wood et al. 2000, 378) Die Verbesserung der Überlebenschancen vergrössert aber die Sorge um die längerfristige Entwicklung dieser Kinder. Frühgeborene Kinder stellen epidemiologisch die grösste Risikogruppe für postnatale Entwicklungsstörungen dar. (vgl. Largo et al. 1996, 1769) Während die Zahl der schweren Behinderungen in den letzten 10 Jahren konstant blieb, werden heute vermehrt leichte, kognitive Beeinträchtigungen und Dysfunktionen festgestellt. Diese Störungen treten meist erst im Schulalter auf und äussern sich in Form von Schulleistungsdefiziten und Verhaltensauffälligkeiten. (vgl. Aylward 2003, 752)

Folgende Arbeit hat zum Ziel herauszufinden, welche Faktoren dazu führen, dass Frühgeborene in der Schule vermehrt auf Probleme stossen. Folglich lautet die erste Fragestellung:

„Inwiefern beeinflusst eine zu frühe Geburt die Schulleistungen?“

Es existiert eine Vielzahl von mehrheitlich medizinischen Studien über den Einfluss einer zu frühen Geburt auf die Schulleistungen. Psychologisch oder pädagogisch orientierte Studien zum Thema sind rar. Vorliegende Arbeit soll dazu dienen, einen Überblick über vorhandene Literatur, Studien und Theorien zu schaffen. Weiter wird der Schwerpunkt auf pädagogisch und sonderpädagogisch relevante Aspekte gelegt.

Das Feld der Sonderpädagogik interessiert sich vor allem dafür, wie die Entwicklungschancen von Risikokindern optimiert werden können. Die Arbeit setzt sich deshalb in einem weiteren Schritt damit auseinander, wie Frühgeborene Kinder, trotz der ungünstigen Vorraussetzungen, optimal gefördert werden können, damit eine erfolgreiche Schulbildung gewährleistet ist. Insofern lautet die zweite Frage:

„Wie gestalten sich mögliche Präventivinterventionen?“

Die Gestaltung von Präventivinterventionen bei Frühgeborenen ist bislang vernachlässigt worden. Die Arbeit macht deutlich, dass Interventionen zur Prävention von schulischen Problemen von Frühgeborenen wichtig sind. Verschiedene Aspekte, die bei der Entwicklung einer präventiven Intervention zu beachten sind, werden zusammengetragen und appellieren, weiterführende Forschungen zu betreiben.

Der Ablauf der Arbeit gestaltet sich wie folgt:

In einem ersten, einführenden Schritt, wird das Phänomen Frühgeburtlichkeit näher erläutert und definiert. Es folgt eine Einführung in die verschiedenen Probleme und Störungen, die im Bereich der Schulleistungen auftreten können. Die Einführungen ins Thema ermöglichen es, die Phänomene der Frühgeburtlichkeit mit den verschiedenen Problemen auf schulischer Ebene in Beziehung zu setzen. Das folgende Kapitel vier gibt einen Überblick über aktuelle Studienresultate zum Thema Frühgeburt und Schulleistung. Dies soll dazu beisteuern, über die Vielzahl der zum Teil unterschiedlichen Untersuchungen, aufzuklären und zu informieren. Aufgrund der beschriebenen Studienergebnisse und weiterführender Literatur werden in Kapitel fünf die verschiedenen Risikofaktoren für Probleme im Bereich der Schule näher erläutert und diskutiert. Hier wird vor allem die Diskussion der sozialen versus biologisch-/medizinischen Risikofaktoren dargestellt. Folgend werden die Möglichkeiten und Grenzen von Langzeitprognosen bezüglich der schulischen Entwicklung von Frühgeborenen diskutiert.

In einem weiteren Schritt beschäftigt sich die Arbeit mit dem Bereich der Präventivinterventionen. Vorhandene Interventionsstudien werden dargestellt und diskutiert. Anschliessend wird aufgrund der Ergebnisse der vorhergegangenen Kapitel ein Interventionskonzept zur Prävention von schulischen Problemen bei Frühgeborenen entwickelt. Kapitel acht beschäftigt sich kurz mit den Therapie Möglichkeiten. Vor der Schlussfolgerung wird die Rolle der Sonderpädagogik näher beschrieben und diskutiert.

2. Frühgeburtlichkeit

2.1 Definition, Epidemiologie

Ungefähr vier bis neun Prozent aller Säuglinge kommen zu früh zur Welt, d. h. vor der 38. Schwangerschaftswoche. Die meisten von ihnen haben ein Geburtsgewicht unter 2500 Gramm. 20 Prozent dieser Frühgeborenen Kinder kommen vor der 31sten Schwangerschaftswoche zur Welt; dies sind die sogenannten ‚sehr frühen’ Frühgeborenen. Bei einem Geburtgewicht von unter 2500 Gramm spricht man von einem niedrigen Geburtsgewicht (ca. 32. -37. SSW), bei weniger als 1500 Gramm (28.-32. SSW) von einem sehr niedrigen Geburtsgewicht und bei weniger als 1000 Gramm (22.-28 SSW) von einem extrem niedrigen Geburtsgewicht. (vgl. Aly 2002, 29; Dick et al. 1999, 19; Friese et al. 2000, 117)

Im Folgenden werden die Abkürzungen ELBW (Extremely Low Birth Weight: <1000g)VLBW (Very Low Birthweight: <1500g), LBW (Low Birth Weight: <2500g) , und NBW (Normal Birth Weight: >2500g) verwendet.

Frühgeborene haben bereits ab der 22. Schwangerschaftswoche Überlebenschancen. Da der Preis für dieses Überleben jedoch sehr hoch sein kann, werden in der Schweiz erst ab der 25. Schwangerschaftswoche intensiv-medizinische Massnahmen angewendet.

Der Grad der Gefährdung wird durch den sogenannten Apgar- Index beurteilt:

Darstellung 1: Apgar Index nach Dick et al. 1999, 21

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Mortalitätsrate der Frühgeborenen unter 1000 Gramm betrug in den vergangenen Jahren ungefähr 50 Prozent. Ist das Kind zwischen 1000 und 1500 Gramm schwer, überlebt es zu ca. 90 %. Ab 1500 Gramm ist die Sterblichkeitsrate unter einem Prozent. (vgl. Friese et al. 2000, 376)

2.2 Ursachen

Ursachen für eine vorzeitige Geburt können unter anderem sein: (Dick et al. 1999, 19ff)

- Die Sauerstoff- und/ oder Nährstoffversorgung ist unzureichend
- Die Platzverhältnisse sind zu eng
- Die hormonelle Homöostase ist gestört
- Die Gebärmutter enthält zu wenig oder zu viel Fruchtwasser
- Infektionskrankheiten (Gebärmutter, Fötus)
- Chronische Erkrankungen der Mutter
- Trauma
- Fetale Missbildungen oder andere Erkrankungen

2.3 Folgen der zu frühen Geburt

2.3.1 Biologische Entwicklung

Das Hauptproblem eines Frühgeborenen ist die Unreife der Lunge. Respiratorische Erkrankungen führen zu einem Mangel der Sauerstoffsättigung im Blut, was die Sauerstoffversorgung aller Organe, vor allem aber die des Gehirns gefährdet. (vgl. Aly 2002, 30)

Das Gehirn steuert fast alle Stoffwechselvorgänge, wie Atmung, Kreislauf, Temperatur und Muskelspannung. Durch die Unreife des Gehirns können Regulationsstörungen entstehen, die Atemstillstände, Herzfrequenzveränderungen etc. verursachen können. Das unreife Gehirn ist besonders anfällig für Blutungen. Viele dieser Blutungen bleiben ohne Folgen, können aber das Hirn massiv schädigen.

Infolge des unreifen zerebralen Nervensystems, ist oft auch die Verdauung des Frühgeborenen gestört. Der kleine Magen ist of nicht in der Lage, die benötigte Menge Nahrung aufzunehmen. In solch einer Situation besteht die Möglichkeit, die Nahrung direkt in die Vene zu geben. (vgl. Strobel 1988, 39)

Frühgeborene sind besonders gefährdet durch Infektionen. Reife Neugeborene erhielten in den letzten drei bis vier Schwangerschaftswochen Immunstoffe ihrer Mutter, welche dem Frühgeborenen Kind fehlen. Der Inkubator sollte deshalbt Schutz vor Erregern bieten. (vgl. ebd., 39)

Behinderungen

Studienergebnisse über die Epidemiologie von körperlichen und geistigen Behinderungen bei Frühgeborenen Kinder variieren.

Lorenz fasste alle Untersuchungen über die Todes- und Behinderungsraten von ELBW Kindern (<800g) von 1970 bis 1998 zusammen. 22 bis 24% der überlebenden ELBW Kinder wiesen mindestens eine schwere Behinderung auf. Davon hatten eine 14% Geistige Behinderung, 12% Cerebral Parese, 8% waren blind und 3% taub. Diese Prozentsätze sind über die Jahre stabil geblieben. (vgl. Lorenz et al. 1998, 425)

Folgende Darstellung zeigt das Outcome von ELBW Frühgeborenen (<500 g) 30 Monate nach der Geburt:

Darstellung 2: Behinderung bei Frühgeborenen nach Wood et al. 2000, 378

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diese aktuelleren Zahlen zeigen höhere Behinderungsraten, was darauf zurück zu führen ist, dass Wood extrem kleine Frühgeborene untersuchte, die weniger als 500 Gramm wogen.

Aylward berichtet von einer in den vergangenen 10 Jahren konstant gebliebenen Behinderungs- Rate zwischen 15 und 20 % der ELBW und VLBW Kinder. Grundsätzlich lässt sich sagen, je niedriger das Geburtsgewicht, desto grösser das Risiko einer Behinderung. (Aylward 2003, 752)

Aufgrund der Unreife des Gehirns oder als Folge von Sauerstoffmangel, werden bei Frühgeborenen Kindern überdurchschnittlich viele zerebrale Schädigungen wie spastische Diplegien, cerebrale Bewegungsstörungen, Hör- und Sehschwächen und verzögerte Sprachentwicklungen festgestellt. Ein Frühgeborenes Kind, das eine schwere Cerebrale Störung hat, ist oft auch von einer geistigen Behinderung betroffen. (vgl. Sarimski 2000, 18ff)

Nebst den offensichtlichen, schweren körperlichen und geistigen Behinderungen, stellt man heutzutage vermehrt fest, dass Frühgeburtlichkeit auch leichte, oft schwer erkennbare, Dysfunktionen wie Lernbehinderungen und Aufmerksamkeitsdefizite zur Folge haben kann. (vgl. Kapitel 4)

2.3.2 Psychosoziale und emotionale Entwicklung

Frühgeborene haben einen anderen Start ins Leben als Termingeborene Kinder. Sie verbringen die ersten Wochen ihres Lebens von der Mutter getrennt, unter höchst unangenehmen Bedingungen. Dass die ersten Jahre im Leben eines Kindes von grosser Bedeutung sind, wird in der Entwicklungspsychologie betont. Es ist deshalb anzunehmen, dass dieser oft schwierige Start ins Leben bei den Frühgeborenen Kindern Spuren in der emotionalen Entwicklung hinterlassen kann. Diese, durch biologische Risiken vorbelasteten Kinder, sind zusätzlich vulnerabel für ungünstige psychosoziale Bedingungen.

Verschiedene Studien zeigen, dass Frühgeborene Kinder vermehrt Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen aufweisen als Termingeborene Kinder. (vgl. Elgen et al. 2002, 128; Hanke 2002, 61ff,84ff; Wolke et al. 1999, 27, 28; Grunau et al. 2004, 725; Nadeau et al. 2001, 7; Horwood et al. 1998; Anderson et al. 2003, 3264ff)

Ein wichtiger Faktor im Zusammenhang mit der Psychosozialen- emotionalen Entwicklung des Frühgeborenen ist die Mutter/Eltern- Kind Beziehung.

Eltern-Kind Beziehung

Die Geburt eines Frühgeborenen findet meist in einer Notfallatmosphäre statt und ist häufig ein Schockerlebnis. Die erste, natürliche Annäherung zwischen Mutter und Kind ist vielfach nicht möglich, da das neugeborene Kind sofort notfallmässig behandelt werden muss. Viele Mütter trauern über die ihnen vorenthaltene, ursprüngliche, erste Begegnung mit dem eigenen Kind. (vgl. Vonderlin 1999, 53)

„Durch die Frühgeburt eines Kindes werden wichtige Phasen der Schwangerschaft, die den Eltern helfen, sich auf die Geburt des Kindes vorzubereiten, nicht durchlaufen.“ (ebd., 53)

Die Eltern sind noch nicht bereit für ihr Kind, haben noch keine Gelegenheit gehabt, sich vorzubereiten. Die Situation kann eine grosse Überforderung sein, was vor allem die Mütter dazu veranlasst, sich zurückzuziehen und sich vom Kind abzuwenden.

Oft suchen die Mütter die Ursachen der frühen Geburt bei sich selbst, was Schuldgefühle und Selbstvorwürfe auslöse kann. Diese Schuldgefühle können den Aufbau der Beziehung zum Kind erschweren. Statt Glück, Stolz und Freude, zeigen diese Mütter vor allem Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung und wenden sich vom Kind ab. (vgl. ebd., 53)

Der lange Aufenthalt des Kindes in der Klinik kann eine weitere Belastung für die Eltern-Kind Beziehung darstellen. Die Eltern können auf Grund medizinischer Massnahmen nur beschränkt Kontakt mit ihrem Kind aufnehmen, was ein Gefühl von Fremdheit dem Kind gegenüber wecken kann. Die hochtechnisierte Umgebung auf den Stationen lässt wenig Raum für ein ruhiges und entspanntes Zusammensein mit dem Kind.

Auch nach der Entlassung aus der Klinik können Frühgeborene Kinder eine grosse Belastung für die Eltern sein. Sie verlangen mehr Aufmerksamkeit und sind irritierbarer als Termingeborene Kinder, was dazu führt, dass die Eltern angespannt und unsicher sind. (vgl. ebd., 55)

Die Belastungssituation kann zu Überforderung, Entmutigung und Resignation der Eltern führen. Sie geben die Bemühungen um ihr Kind auf, was wiederum die Schwierigkeiten der Kinder verstärkt, so dass es zu einem Teufelskreis kommen kann. (Stricker et al. 1998, 150)

3. Probleme im Bereich der Schulleistung

Störungen im Bereich des Lernens bzw. des Verhaltens sind bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter weit verbreitet. Hinter dem Phänomen des Schulversagens verbirgt sich eine Vielzahl von Ursachen, Definitionen und Störungen. Gegenwärtig gibt es kaum einheitliche Klassifizierungen, Abgrenzungen sind schwierig zu machen. Das ICD-10 ordnet schulische Probleme den Entwicklungsstörungen zu und klassifiziert sie wie folgt:

F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

F81.0 Lese- und Rechtschreibstörung

F81.1 isolierte Rechtschreibstörung

F81.2 Rechenstörung

F81.3 kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten

F81.8 sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

F81.9 nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

Die folgenden Kapitel beschreiben einzelne Störungsbilder/Syndrome und deren möglichen Ursachen und bringen wo nötig, bzw. möglich, Klärung in die Begriffs- und Definitionsvielfalt.

Die Darstellung verschiedener Probleme im Bereich der Schule soll dazu dienen, die Phänomene der Frühgeburtlichkeit mit Schulproblemen in Beziehung setzen zu können.

In dieser Arbeit wird der Begriff Schulprobleme oder Schulschwierigkeiten im Sinne einer umfassenden Bezeichnung für alle möglichen Störungen und Probleme, die im Bereich der Schulleistung auftreten können, verwendet.

Um sich mit den Störungen im Bereich der Schulleistungen auseinandersetzen zu können, bedarf es zuerst einer Definition von Schulleistung.

3.1 Definition von Schulleistung

Zu den Schulleistungen gehören Lernprozesse wie auch Lernprozessergebnisse. Es handelt sich um ein bisher nicht eindeutig bestimmbares Konstrukt. Am ehesten trägt die Intelligenz zur Aufklärung der Schulleistung bei, zunehmend stärker wird aber auch die Bedeutung weiterer Merkmale wie Schulangst, Leistungsmotivation oder soziale Schichtzugehörigkeit betont. Die Erfassung der Schulleistung erfolgt durch Lehrerurteile und Zensuren; beide können aber verfälschende Beurteilungsfehler beinhalten, so dass zur objektiveren und zuverlässigeren Messung, sowie zur Selbstkontrolle des Lehrers, Schulleistungstests sinnvoll eingesetzt werden können. (vgl. Dupuis et al. 1992, 560)

Laut Heller ist Schulleistung multikausal determiniert und setzt sich aus folgenden Bedingungen zusammen: Vorwissen, kognitive Denkfähigkeiten, meta- kognitive Kompetenzen, familiäre-, schulische- und Peer- Sozialisationseinflüsse, motivationale und nicht kognitive Persönlichkeitsmerkmale des Lernenden und konstitutionelle Entwicklungs- und Leistungsbedingungen. (vgl. Heller 1997, 185)

Es wird deutlich, dass Schulleistung viele Dimensionen hat und nicht nur durch kognitive Fähigkeiten bestimmt wird. Je nach Bereich (z.B. Mathematik, Biologie, Sprache etc. ) sind unterschiedliche Prozesse und Faktoren für die jeweilige Leistung verantwortlich.

3.2 Lernbehinderung

Während Jahrzehnten diente der Begriff Lernbehinderung als Bezeichnung für schwerwiegendes, umfangreiches, und lang andauerndes Schulversagen. Eine Lernbehinderung wurde als Defizit, als Eigenschaft von den SchülerInnen verstanden. Dieses sogenannte medizinische Modell legitimierte stigmatisierende, didaktische Konzepte und Vorgehensweisen.

Der in der Sonderpädagogik während der 80er Jahren stattgefundene Paradigmawechsel veränderte die Betrachtungsweise von Behinderung. An die Stelle der Defizitorientierung trat eine neue ressourcenorientierte Auffassung von Pädagogik. In den 1990er Jahren wandten sich auch konservative Vertreter der Sonderpädagogik vom medizinischen Modell ab. Während dieser Zeit fand auch die Abkehr von alten sonderpädagogischen Begriffen statt. Der Begriff Lernbehinderung wurde seltener verwendet, man griff zu Umschreibungen wie z.B. ‚sonderpädagogischer Förderbedarf’. (vgl. Mand 2003, 13ff)

Dennoch konnte sich kein neuer Begriff durchsetzten. Noch immer wird der Begriff ‚Lernbehinderung’ vor allem in der Alltagssprache oft verwendet, wenn auch mit einer gewissen Befangenheit. Und noch immer ist der Begriff Gegenstand sonderpädagogischer Diskussionen, es gibt eine kaum überschaubare Zahl von Definitionsversuchen. Die Debatte ist im weiten Sinne vor allem auch eine Diskussion über Integration und Sonderschule. (vgl. ebd., 18ff)

„Einigermassen klar scheint immerhin seit einigen Jahren zu sein, was Lernbehinderung nicht ist: Lernbehinderung ist kein klar umschriebener und definierter Begriff.“ (ebd., 20)

Aus schulorganisatorischer Sicht bedeutet Lernbehinderung, dass ein Schüler den Anforderungen der Regelschule auch nach ein- oder mehrmaliger Klassenwiederholung nicht gewachsen ist. (vgl. Haeblerin et al. 1991, 21 )

Von der medizinisch-diagnostischen Seite her wird der Begriff Lernbehinderung folgendermassen definiert:

„...bedeutsam ist eine Abgrenzung der Lernstörungen von der Lernbehinderung. Letztere lässt sich als ein in Beziehung zum Altersdurchschnitt allgemein erniedrigtes Leistungsvermögen im Sinne eines Kapazitätsdefizites kennzeichnen. Dabei kommt der normative Bezug in der Definition zum Ausdruck, dass die Lernbehinderung durch eine erniedrigte Intelligenz im Bereich IQ=70-85 definiert wird. Die Lernbehinderung ist das Ergebnis vor allem psychosozialer, aber auch genetischer und in geringem Masse auch neuropsychologischer Belastungsfaktoren.“ (Steinhausen 2002, 117)

Diese Definition zeigt, dass Lernbehinderung in medizinischen Kreisen noch immer als Defizit beschrieben wird. Auch die Definition über den IQ ist hinsichtlich des neuen sonderpädagogischen Paradigmas problematisch, vielmehr sollten die Schüler im Hinblick auf bestimmte Aufgaben und Lernbedingungen beurteilt werden.

Auch wenn die obige Definition aus sonderpädagogischer Sicht kritisch betrachtet werden muss, liefert sie doch einen wichtigen Hinweis zur Begriffsklärung: Es wird deutlich, dass der Begriff Lernbehinderung ein allgemeines, erniedrigtes Leistungsvermögen beschreibt, während der Begriff der spezifischen Lernstörungen isoliert vorkommende, spezifische Schwachpunkte definiert.

3.3 Spezifische Lernstörungen

Von Spezifischen Lernstörungen spricht man, wenn ein Kind bei normaler Intelligenz und fehlender Sinnesbehinderung in den Bereichen von Lesen, Schreiben und/oder Rechnen in Bezug zur Altersnorm extrem niedrige Leistungen aufweist. (vgl. Steinhausen 2002, 117)

Der Begriff spezifische Lernstörung deckt sich mit den ’umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten’ des ICD-10. Eine weitere, oft favorisierte Bezeichnung ist ‚Teilleistungsstörung’.

Die Erscheinungsformen von spezifischen Lernstörungen sind sehr heterogen. Um dieser Vielfalt gerecht werden zu können, muss vom normativen Altersbezug im Diskrepanzmodell Abstand genommen werden. Vielmehr muss auf ein Individuelles Modell im Sine eines heterogenen Leistungsprofiles fokussiert werden. (vgl. Steinhausen 2002, 117)

Generell beobachtet man bei den spezifischen Lernstörungen eine hohe Komorbidität mit Verhaltens- oder emotionalen Störungen. ( vgl. Pettermann 2003, 193)

Die Prävalenz Angaben variieren erheblich. Die meisten aktuellen Studien gehen von einer Häufigkeit von 3 bis 6 % aus. (vgl. ebd., 193)

Als Ursache von spezifischen Lernstörungen werden vorallem neuropsychologische Funktionsstörungen genannt. Auch genetische Faktoren können eine Rolle spielen. Psychische Störungen, Umwelt und Sozialfaktoren stellen keine primären Ursachen dar. (vgl. Steinhausen 2002, 117, Jacobs et al. 2003, 198)

3.3.1 Lese-Rechtschreibstörung

Die Lese- Rechtschreibstörung oder auch Legasthenie oder Dyslexie, ist die häufigste Lernstörung. Sie beinhaltet erschwertes Erlernen des Lesens und ungewöhnlich viele Rechtschreibfehler bei ansonsten befriedigenden schulischen Leistungen und normaler Intelligenz.

Die Lesestörung nimmt mit zunehmendem Alter ab, während die Rechtschreibschwäche bei älteren Kindern dominiert. (vgl. Warnke 2001, 230)

Die meisten Untersuchungen zeigen, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen zwei bis viermal häufiger betroffen sind. (vgl. ebd., 231)

Häufige Komorbidiät besteht mit sprachlichen Auffälligkeiten, visuo- motorischen Symptomen und grafomotorischen Schwierigkeiten. Oft besteht eine Koexistenz mit einer Aufmerksamkeits- Hyperaktivitäts- Störung oder verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten. (vgl. Warnke 2001, 239)

Von der Lese- Rechtschreibstörung abgegrenzt werden nicht altersgemässe Lese- Rechtschreibleistungen aufgrund von sozio- ökologischen Benachteiligungen bzw. Belastungen. (vgl. Steinhausen 2002, 120) Weiter abgegrenzt werden Lese-Rechtschreibstörungen, welche aufgrund von Hirnschädigung oder psychischer Krankheit erworben wurden. (vgl. Warnke 2001, 230)

Es kann auch eine isolierte Rechtschreibstörung diagnostiziert werden.

Sowie die Erscheinungsformen heterogen sind, sind auch die Ursachen mehrdimensional. Im Rahmen der neuropsychologischen Forschung werden Lese-Rechtschreibstörung als Ausdruck dysfunktioneller visueller oder sprachlicher Informationsverarbeitung angesehen. Übersetzungsvorgänge zwischen visuellen und sprachlichen Informationsvorgängen werden alternativ dafür verantwortlich gemacht. Das heisst, den Betroffenen gelingt es nicht, visuell aufgenommene Sprache in akustische Sprache zu übersetzen. Die Fähigkeit, sprachliche Einheiten wie Wörter zu erkennen ist gestört. (vgl. Petermann 2003, 194, Steinhausen 2002, 121)

Der genetischen Verursachung der Lese- Rechtschreibstörung wird eine grosse Bedeutung beigemessen. Molekulargenetische Studien zeigen, dass Störungen auf den Chromosomen 6 und 15 zu phonologischen Koordinierungsschwächen und Defiziten der visuellen Worterkennung führen. (vgl. ebd., 121)

3.3.2 Rechenstörung

Im ICD-10 wird die Rechenstörung, oder auch Dyskalkulie genannt, folgendermassen definiert:

„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten , die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden.“ (Dilling et al. 2000, 277)

Von einer Rechenstörung abgegrenzt werden erworbene Rechenstörungen (Akalkulie) und Rechenschwierigkeiten, welche aufgrund unangemessener Unterrichtung entstanden sind. (vgl. Dilling et al. 2000, 278)

Typische komorbide Störungen sind andere Lern- und Verhaltensstörungen, emotionale Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. (vgl. Steinhausen 2002, 123, Jacobs 2003, 198)

Bisher gibt es nur sehr wenige Erkenntnisse über die Ursachen der Rechenstörung. Im Mittelpunkt einiger theoretischer Modelle stehen Annahmen über neuropsychologische Defizite.

Belegt ist der Einfluss genetischer Faktoren. Verschiedene Studien zeigen, dass rechenschwache Kinder vermehrt Familienangehörige mit Lernstörungen haben. (vgl. Steinhausen 2002, 123, Jacobs 2003, 198)

3.3.3 Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten

Die Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten wird im ICD-10 wie folgt definiert:

„Dies ist eine schlecht definierte, unzureichend konzeptualisierte (jedoch notwendige) Restkategorie für Störungen, bei denen sowohl Rechen- als auch Lese- und Rechtschreibfähigkeiten eindeutig beeinträchtigt sind, die Schwäche jedoch nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine deutlich unangemessene Beschulung erklärbar ist. Sie sollte für kombinierte Störungen verwendet werden, welche die Kriterien für die Rechenstörung und entweder die Lese-Rechtschreibstörung oder die isolierte Rechtschreibstörung erfüllen.“ (Dilling et al. 2000, 278)

Synonym für den Begriff ‚Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten’ werden auch folgende Begriffe verwendet: ‚Allgemeine Lernschwäche’, ‚kombinierte Schulleistungsstörung’, ,kombinierte Teilleistungsstörung’ und ‚Allgemeine Schulleistungsschwäche’.

3.4 Psychogene Lernstörungen

Wenn die Lern- und Leistungsfähigkeit eines Kindes aufgrund von psychischen Problemen oder Beziehungsstörungen zwischen dem Kind und der Familie gehemmt wird, spricht man von einer psychogenen Lernstörung oder auch von einer psychosozial bedingten Lernstörung. Obwohl die Psychogene Lernstörung in der Praxis oft diagnostiziert wird, wird sie von den internationalen Klassifikationssystemen nicht berücksichtigt.

Psychogene Lernstörungen sind eng verschränkt mit emotionalen Störungen wie Anpassungsstörungen, Schulangst, Schulphobie und Entwicklungskrisen der Adoleszenz.

So ist das Versagen in der Schule das Ergebnis von verschiedenen Bedingungsfaktoren, welche einerseits beim Kind andererseits in der Umwelt angesiedelt sind. (vgl. Steinhausen 2002, 124ff)

3.5 Underachievement

Von Underachievement oder auf Deutsch ‚Minderleistung’ spricht man, wenn die Leistung eines Kindes nicht seinem angemessenen Potential entspricht. Die Klassifikation wird durch den Abweichungsgrad zwischen der Intelligenz und der Schulleistung bestimmt. Als Ursachen für das Phänomen werden seitens des Betroffenen vor allem motivationale Faktoren genannt. Seitens der Umwelt werden ungünstige familiäre oder schulische Bedingungen verantwortlich gemacht. (vgl. Dupuis et al., 1992)

3.6 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Es gibt wohl kaum ein Syndrom, das so viele Bezeichnungen kennt wie die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. In den 80er Jahren unterschied die American Psychiatric Asscociation (APA) noch zwischen einer ‚Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität’ und einer ‚Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität’. 1987 wurde im DSM-III-R der Begriff der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung eingeführt. Aktuell heisst das Syndrom im DSM-IV Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, oder auf Englisch: Attention Deficit Hyperactivity Disorder, kurz ADHD. (vgl. Lauth 2002, 11)

Das ICD –10 ordnet den ‚Hyperkinetischen Störungen’ vier Subtypen zu: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, Sonstige hyperkinetische Störung, und nicht näher bezeichnete Hyperkinetische Störung. (vgl. Dilling et al. 2000, 291)

Weitere Bezeichnungen sind: Hyperkinetisches Syndrom, Hyperkinetische Störungen, (HKS) Hyperkinese, Hyperaktivität, Aufmerksamkeits- Defizit Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und auch Minimale Cerebrale Dysfunktion bzw. Psychoorganisches Syndrom (POS).

Das ADHD gehört zu den häufigsten Verhaltensstörungen bei Kindern im Grundschulalter.

Typisch für die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sind Unaufmerksamkeit, erhöhte Ablenkbarkeit, Impulsivität und motorische Überaktivität. Aufmerksamkeitsstörungen zeigen sich vor allem im Zusammenhang mit der Schule. Aufgaben betroffener Kinder werden meist hektisch, nachlässig, fehlerhaft und unzureichend bewältigt. (vgl. Lauth 2002, 6ff)

Viele Kinder mit ADHD sind auch von Lernstörungen und dissozialen Störungen betroffen. Häufig ist auch eine Koexistenz mit der frühkindlich entstandenen Hirnfunktionsstörung. (vgl. Steinhausen 2002, 91)

Zur Ursache des ADHD können keine spezifische und allgemeingültige Angaben gemacht werden. Es besteht jedoch kein Zweifel an der Annahme, dass neurobiologische Bedingungen wirksam sind. Verschiedene Tests zeigen strukturelle Anomalien und auch einen verminderten Hirnstoffwechsel in den Bereichen des Kortex und Subkortex. Weitere Annahmen beziehen sich auf Störungen neurochemischer Systeme. Ferner deuten viele empirische Tatsachen auf die Wichtigkeit genetischer Faktoren hin. Eine weitere Annahme basiert darauf, dass betroffene Kinde allergisch auf bestimmte Nahrungsmittelzusätze reagieren. Für diese Annahme konnten bislang keine überzeugende wissenschaftliche Belege gefunden werden. Aus mehreren Studien kann geschlossen werden, dass Alkohol- und Nikotinmissbrauch während der Schwangerschaft ein grosser Risikofaktor ist. (vgl. ebd., 94ff)

3.7 Schulphobie/ Schulangst

Schulphobie ist keine auf die Schule gerichtete Angst, sondern im Kern eine Trennungsangst. Das Kind weigert sich die Schule zu besuchen und bindet sich übermässig eng an eine primäre Bindungsperson. Neben extremer Ängstlichkeit und depressiven Verstimmungen kommen häufig körperliche Symptome mit psychischem Ursprung vor, z.B. Übelkeit, Bauch- und Kopfschmerzen. (vgl. Steinhausen 2002, 130)

Die Schulangst ist eine auf die Schule gerichtete Angst. Angstauslösend ist z.B. das Verhalten von Lehrern oder Mitschülern. Die Schulangst kann aber auch ein Teil einer umfassenderen Angststörung sein. Leistungsängste und psychogene Lernstörungen sind oft koexistent mit der Schulangst. (vgl. ebd., 130)

Im Einzelfall ist auch eine Überschneidung von Schulphobie und Schulangst möglich.

Die Ursachen einer Angststörung können im Temperament des Kindes begründet sein. Bedeutsam sind ferner belastende Lebensereignisse wie Trennungserfahrungen, Erkrankung oder Verlust von Bezugspersonen durch Tod, Eheprobleme oder Krankenhausaufnahmen des Kindes mit medizinischen Massnahmen bzw. Operationen oder soziale Veränderungen mit Verfolgung oder Not.“ (ebd., 132)

Neben spezifischen Umweltbedingungen sind auch genetische Faktoren für die Entstehung von Ängstlichkeit und speziell von Trennungsängstlichkeit bedeutsam.

Zahlreiche Befunde der frühkindlichen Bindungsforschung weisen darauf hin, dass eine im Säuglingsalter bestehende ängstlich- unsichere Bindung möglicherweise in Verbindung mit dem Temperament eine Rolle für die Entwicklung von Angststörungen im Kindes- oder Jugendalter spielt.“ (ebd., 133)

4. Studienergebnisse zum Thema Frühgeburt und Schulleistung

Folgende Kapitel bieten einen Überblick über vorhandene Studienergebnisse zum Thema Frühgeburt und Schulleistung. Ältere Studien wurden bereits in der Metaanalyse von Bhutta et al. (2002) zusammengefasst und analysiert. (vgl. Kapitel 4.1) Da es eine Vielzahl aktueller Studien gibt und neuere Metaanalysen fehlen, erscheint es sinnvoll, die aktuellen Ergebnisse zusammenzufassen. (vgl. Kapitel 4. 3) Da sich die Situation der Frühgeborenen aufgrund der medizinischer Fortschritte ständig verändert, sind vor allem aktuelle Daten aufschlussreich. Ältere Studien sind für die heutige Zeit nur bedingt aussagekräftig. Da der grosse Teil der Studien aus dem englischsprachigen Raum stammt geht Kapitel 4. 2. auf Studienergebnisse des deutschsprachigen Raum ein.

4.1 Studienergebnisse bis 2001

4.1.1 Bhutta, A. T. et al. (2002)

„Cognitive and Behavioral Outcomes of School-Aged Children Who Were Born Preterm. A Meta-analysis.“

Es gibt eine grosse Anzahl Studien zum Thema Kognition und Verhalten von Frühgeborenen im Schulalter. Die Ergebnisse sind zum Teil sehr verschieden, was auf die meist kleinen Stichproben und die unterschiedlichen Methoden zurück zu führen ist. Viele dieser Studien wurden kritisiert, nicht repräsentativ zu sein.

Bhutta verfasste eine Meta- Analyse über Studien, welche in den Jahren 1980 bis 2001 auf Englisch veröffentlicht wurden. Aus 227 Studien zum Thema wählte er Untersuchungen aus, welche folgende Kriterien erfüllten: Ein ‚Case- Control design’ war vorhanden, Daten über Kognition und/oder Verhalten waren vorhanden, Die Evaluation fand nach dem 5. Geburtstag statt und die Drop-out Rate betrug weniger als 30 Prozent. Nur 15 Studien mit Daten zur Kognition und 16 Studien mit Daten zum Verhalten erfüllten diese Kriterien.

Die Synthese der Daten zeigte, dass die Kontrollgruppen signifikant bessere kognitive Werte zeigten als die Frühgeborenen. Die durchschnittlichen kognitiven Werte sind direkt proportional zum jeweiligen Geburtsgewicht und Gestationsalter. Weiter zeigten die Frühgeborenen Kinder in 81% der Studien vermehrt externalisierendes und/oder internalisierendes Verhalten. 75% der Studien stellten bei den Frühgeborenen signifikant mehr Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsprobleme fest. (vgl. Bhutta et al. 2002, 728 ff)

Zur Ergänzung folgend die Ergebnisse einer Studie, welche in die Meta- Analyse von Bhutta integriert war.

4.1.2 Horwood, L.J. et al. (1998)

„Cognitive, educational, and behavioural outcomes at 7 to 8 years in a national very low birthweight cohort.“

Die Neuseeländische Studie von Horwood untersuchte sieben- bis achtjährige ELBW und VLBW Frühgeborene, welche im Jahr 1986 zur Welt kamen. (N= 298) Parallel dazu wurde eine Kontrollgruppe von 1000 gleichaltrigen Termingeborenen untersucht.

Die Frühgeborenen zeigten in allen gemessenen Bereichen signifikant tiefere Werte und mehr Probleme: 20% zeigten Verhaltensprobleme, 25% hatten einen unterdurchschnittlicher IQ Wert, 24-40% zeigten sehr schlechte Schulleistungen und knapp ein Viertel erhielt ‚special education assistance’. 70% der Frühgeborenen zeigten in mindestens einem der folgenden Bereiche Problematische Werte: Verhalten, Kognition, Schulleistung oder ‚Special needs’.

Grundsätzlich zeigt die Studie, dass je niedriger das Geburtsgewicht, desto schlechter die Ergebnisse.

Auch nach Ausschluss neuro-sensorisch beeinträchtigter Kinder, zeigten die Frühgeborenen immer noch signifikant schlechtere Werte.

Männliche Frühgeborene hatten signifikant schlechtere Werte als die Frühgeborenen Mädchen. Dasselbe Phänomen wurde aber auch in der Kontrollgruppe festgestellt. (vgl. Horwood 1998, 12ff)

4.2 Studienergebnisse im deutschsprachigen Raum

Im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige Studien zum Thema Frühgeburt und Schulleistung. Bhutta fand bei seiner Meta- Analyse von 1980 bis 2001, 227 englischsprachige und nur vier anderssprachige Untersuchungen. Keine dieser anderssprachigen Untersuchungen war auf Deutsch. (vgl. Bhutta 2002, 733) Dies kann natürlich auch daran liegen, dass Studien aus anderen Sprachräumen oft auch auf Englisch publiziert werden.

Folgend sind die Resultate der aktuellsten deutschsprachigen Studien kurz dargestellt, damit festgestellt werden kann, ob sich die Ergebnisse von denen der Englischsprachigen Studien unterscheiden.

4.2.1 Schubiger, G. et al. (1999)

„Entwicklung ehemaliger Frühgeborener mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm: Konzept und Resultate von Nachkontrollen bis zum Schulalter in der Zentralschweiz.“

Diese Arbeit untersuchte die Entwicklung von 102 VLBW Frühgeborenen (<1500 g) bis ins Schulalter. Die Kinder kamen in den Jahren 1980-1986 zur Welt.

95% der Frühgeborenen besuchten eine Normalschule. Davon zeigten 41% Schulprobleme, 6% besuchten eine Kleinklasse, 12% hatten eine oder mehrere Klassen repetiert.

Folgende Hilfen wurden nach Entlassung aus der entwicklungsneurologischen Sprechstunde beansprucht: 36% Physiotherapie, 22% psychomotorische Therapie, 16% logopädische Betreuung, 25% Stützunterricht.

Die Aussagekraft der Studie ist eingeschränkt, weil keine Kontrollgruppe mituntersucht wurde. (vgl. Schubiger et al. 1999, 1025ff)

4.2.2 Wolke, D. et al. (1999)b

„Ergebnisse der Bayerischen Entwicklungsstudie: Implikation für Theorie und Praxis“

Die Bayerische Entwicklungsstudie untersuchte die Entwicklung von Kindern, die während der ersten zehn Lebenstage in den Jahren 1985 bis 1986 in eine südbayerische Kinderklinik aufgenommen wurden. Dazu gehörten VLBW Kinder und neonatale Risikokinder (>31. SWW) und eine Kontrollgruppe mit reifgeborenen Kindern.

[...]

Final del extracto de 98 páginas

Detalles

Título
Der Einfluss einer zu frühen Geburt auf die Schulleistungen
Universidad
University of Zurich  (Sonderpädagogik)
Autor
Año
2005
Páginas
98
No. de catálogo
V47204
ISBN (Ebook)
9783638442015
Tamaño de fichero
903 KB
Idioma
Alemán
Notas
Inwiefern beeinflusst eine zu frühe Geburt die Schulleistungen? Wie sehen mögliche Präventivinterventionen aus?
Palabras clave
Einfluss, Geburt, Schulleistungen
Citar trabajo
lic. phil. Eliane Zürrer-Tobler (Autor), 2005, Der Einfluss einer zu frühen Geburt auf die Schulleistungen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47204

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