Der Entwurf des Emigrantenlebens in Andrej Belyjs "Im Reich der Schatten"


Term Paper (Advanced seminar), 2005

25 Pages, Grade: 1,3


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Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Einleitung
1.2 Gang der Untersuchung

2 Hauptteil
2.1 Andrej Belyj – Die Jahre vor Berlin
2.2 Motive zur Emigration
2.3 „Im Reich der Schatten“
2.3.1 Der Weg nach Berlin
2.3.1.1 Der Neue Nationalismus
2.3.1.2 Das „Deutschenparadoxon“
2.3.1.3 Das „Dorf“ Kaunas
2.3.1.4 Die Schifffahrt nach Berlin
2.3.2 Belyjs Darstellung Berlins
2.3.2.1 Das russische Berlin
2.3.2.2 Die Tauenzienstraße
2.3.2.3 Das Geheimnis der Kneipe
2.3.3 Der allgegenwärtige „Neger“
2.3.4 Moskau vs Berlin
2.4 Andrej Belyj in Berlin – Eine Außensicht
2.4.1 Il’ja Erenburg über Andrej Belyj
2.4.2 Marina Cvetaeva: „Ein gefangener Geist“

3 Resümee

4 Literaturverzeichnis

1 Einführung

1.1 Einleitung

„Berlin - Stiefmutter der russischen Städte“ schrieb einst der Dichter Vladislav Chodasevič.[1] Doch was war das Besondere an Berlin? Was war es, was tausende von russischen Emigranten und vor allem Schriftsteller in den 1920-ern anzog, die nächsten Jahre in dieser europäischen Metropole zu verbringen und wer waren diese Emigranten?

Berlin spielte schon in den Anfängen des 20. Jahrhunderts vor allem für das russische kulturelle Leben eine herausragende Rolle. Russland war der Berner Konvention nicht beigetreten; zur Wahrung des Copyrights bestand die einzige Möglichkeit darin, seine Bücher in einem Land dieser Konvention verlegen zu lassen. Eine Reihe von Verlagshäusern war hierauf spezialisiert; nach dem Krieg schlossen sich neue, auch emigrierte Verlagshäuser diesem russischen Buchmarkt an. Günstige ökonomische Bedingungen wie die schwache Reichsmark ermöglichten eine günstige Produktion. Bis 1923 sollten in Berlin 40 russischsprachige Verlagshäuser, 3 Tageszeitungen und mehr als 20 Magazine entstehen.[2] Weiterhin besaßen viele Russen noch in Devisen konvertierbares Vermögen, was ein weniger sorgenvolles Leben möglich machte.[3] Andrej Belyj entrüstete sich des Öfteren darüber, wie die Russen dank ihrer Finanzmanipulationen besser lebten als die Deutschen in ihrer eigenen Heimat und dünkelhaft auftraten.[4]

Abgesehen von den ökonomischen Grundlagen sei an dieser Stelle auch die geographische Nähe Berlins zur russischen Heimat genannt, welche die Stadt so attraktiv erschienen ließ und es leichter machte, an Rückkehr zu denken, zumal die meisten ohnehin nur mit einem kurzen Aufenthalt rechneten. Berlin war ein günstiger Standort, von dem man die Geschehnisse der roten Revolution in der russischen Heimat gut beobachten konnte, um in einem günstigen Moment zurückkehren zu können.

Neben den genannten Faktoren spielte auch die allgemeine Atmosphäre eine entscheidende Rolle. Viele Schriftsteller betitelten sie im Gegensatz zum übrigen Westen noch als erträglich: Gor’kij und A. Tolstoj betonten des Öfteren, „dass in Deutschland im Gegensatz zum sonstigen verfaulten Westen noch nicht alles verloren sei.“[5]

Folgendermaßen entstand in Berlin im Laufe der Zeit relativ schnell eine lebhafte russische Kulturszene. Viele Schriftsteller, u.a. Maksim Gorkij, Aleksej Remisov, Il’ja Erenburg, Aleksej Tolstoj, Marina Cvetaeva sowie Andrej Belyj verbrachten hier einige Jahre ihres Lebens und trafen sich zum gemeinsamen philosophieren vorzugsweise in den Cafes um den Nollendorfplatz und den Prager Platz. Besonderns beliebt hier war die „Prager Diele“. Belyj erfand sogar diesbezüglich das Wort „pragerdilieren“ (pragerdil’stvovat’), worunter er das philosophieren, umringt von blauem Dunst mit einem Glas Cognac verstand.[6]

Die einzelnen Schriftsteller hatten verschiedene Gründe für ihren Aufenthalt in Berlin. Tolstoj und Gor’kij z.B. sahen Berlin mehr als eine Art Zwischenstation auf ihren Wegen, welche sie nutzen und zugleich alsbald wieder verlassen wollten. Für Andrej Belyj dagegen war Berlin „nur ein Rastplatz auf einer ruhelosen Flucht vor sich selbst“.[7] Belyj blieb während seiner Berliner Zeit ohne Verständigungsbasis – sein Aufenthalt sollte nicht der Start zu einem Neubeginn werden, sondern gerät zu einem großen Missverständnis. Er beginnt, seine inneren Widersprüche auf seine Umwelt zu projizieren und sich von der Realität zu entfernen. Versunken im eigenen Ich entwickelt sich seine Emigration zur Flucht vor und Suche nach sich selbst.[8]

1.2 Gang der Untersuchung

In der folgenden Arbeit möchte ich nach einem kurzen hinführenden Überblick der Jahre Belyjs vor seiner Emigration zunächst seine Motive aufzeigen, die ihn dazu bewegt haben, nach Berlin zu emigrieren. Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Arbeit soll daraufhin sein polemisch gehaltener Essay „Im Reich der Schatten“ sein, in welchem Belyj seine in Berlin verlebte Zeit und die daraus gewonnen Eindrücke schildert. Hier gilt es, vor allem den sarkastisch geschilderten Gegensatz des selbst „guten“ Belyjs auf der einen Seite sowie der „bösen“ ihm in Berlin begegneten Umwelt auf der anderen Seite hervorzuheben. Besondere Aspekte hierbei sind seine Reise nach Berlin, Berlin selbst sowie der ihm in Berlin begegnete „Neger“, denen besonderes Augenmerk zu schenken ist. Die Wahrnehmungen Belyjs von Außen, besonders seitens Il’ja Erenburg und Marina Cvetaeva, sollen als Kontrast den Hauptteil abrunden, woraufhin im Resümee die Ergebnisse meiner Arbeit zusammenfassend dargestellt werden.

2 Hauptteil

2.1 Andrej Belyj – Die Jahre vor Berlin

Andrej Belyj wurde am 29. Oktober 1880 unter dem Namen Boris Nikolaevič Bugaev in Moskau geboren, wo er 1934 an den Folgen einer Gefäßkrankheit auch starb. Während sein Vater an der Moskauer Universität lehrte, versuchte seine musisch und malerisch begabte Mutter, den kleinen Andrej in Mädchenkleider zu stecken und ihm Locken wachsen zu lassen, um das „Verbrechen der hohen Stirn“ zu verdecken, damit auf keinen Fall ein Professor aus ihm werde. Seine Eltern waren verschiedener Natur, verschiedener konnten sie nicht sein – und er – zwischen seinen Eltern im Ehekrieg. Nicht selten spielten sie ihn gegen sich aus. Belyj flüchtete aus dieser Entzweiung indem er den dummen Sohn mimte, der er seinerzeit auch war. Erst mit 7 lernte er mühsam lesen. Seine Erziehung blieb größtenteils den Kindermädchen überlassen; seiner letzten Gouvernante hatte er es auch zu verdanken, dass er sein fehlendes Wissen nachholen konnte. Mit 13 begann er, täglich in der Bibliothek zu sitzen und alles zu lesen, was ihm unter die Augen kam.[9]

Sein Pseudonym „Andrej Belyj“ ist sehr religiös geprägt. Zum einen ist der Jünger Andrej im orthodoxen Christentum der Erstberufene und genießt somit in Russland besonderes Ansehen. Belyj hingegen ist das russische Wort für „weiß“ und gilt in der orthodoxen Kirche als Farbe der Verklärung sowie Auferstehung.[10] Mit „Andrej der Weiße“ wollte er auf die bis zur Weißglut angestrebte ethische Haltung hinweisen und damit das geistige Anliegen als Symbolist herausstellen.[11] Als Belyj diese Farbe als ein Symbol für das reine Licht gewählt hatte konnte er wohl noch nicht ahnen, dass im Zuge der roten Revolution und ihrer „Weißen“ Gegner sein Pseudonym in Russland keinen Anklang mehr finden würde.[12]

Belyj war zeitlebens auf der Suche nach sich selbst. Er hatte eine umfassende Bildung – neben seinem Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften beschäftigte er sich gleichzeitig mit deutscher Philosophie, Musik sowie allem Okkultem und Irrationalen. Vor allem die Theosophie[13] traf um die Jahrhundertwende den Geist der Zeit, dem sich auch Belyj anfangs anschloss.[14]

Ein folgenreiches Ereignis in Belyjs Leben war 1912 seine erste Begegnung mit Rudolf Steiner. Steiners Lehre der Anthroposophie[15] hinterließ einen prägenden Eindruck auf Belyj – von nun an sollte sie seinen sowie den Lebensweg seiner Lebensgefährtin von 1909-1916, Asja Turgeneva, mitbestimmen. Welche Qualen für ihn hieraus resultieren sollten vermochte Belyj zu jener Zeit noch nicht ahnen. Als Belyj 1916 in die russische Armee eingezogen werden sollte, blieb Asja im sicheren Dornach, dem Zentrum der Anthroposophie, zurück. Obwohl er in Moskau doch nicht zum Dienst gerufen wurde, konnte Belyj dennoch auf Grund des Krieges das Land nicht mehr verlassen. Quälende Gefühle der Eifersucht setzten ein, denn Belyj glaubte in Dornach gespürt zu haben, dass seine Lebensgefährtin sich unter dem Einfluss Steiners von ihm trennen könnte.[16] Er sollte Recht behalten.

In Moskau begann Belyj, sich als Gesandter Steiners zu fühlen. Er lebte seine anthroposophischen Gefühle aus und begann, in St. Petersburg eine spiritualistische Bewegung anzuführen. Enttäuscht vom bolschewistischen Umsturz und dem neuen aufkommenden Staatsapparat in Russland, welcher die Kulturszene immer mehr zu beschneiden anfing, setzt sich Belyj 1921 nach Berlin ab.[17]

2.2 Motive zur Emigration

Am 22. November 1921 verkündete die Zeitung Golos Rossii 3 Tage nach seiner Ankunft: „Der berühmte Schriftsteller Andrej Belyj ist in Berlin angekommen“.[18] Doch was war es, was ihn dazu bewegt hat? Deutschland war ihm nicht fremd. In einer autobiographischen Notiz schwärmt er von der deutschen Literatur, Musik, Philosophie, Wissenschaft; wie seine Gouvernante ihm in den Kinderjahren deutsche Gedichte vorgelesen hat. In dieser Notiz kommt Belyj zu der Schlussfolgerung, dass alles, was er im Westen liebe, unfreiwillig irgendwie für ihn mit Deutschland verbunden sei.[19]

Seine Motive zur Emigration scheinen nicht eindeutig, doch wahrscheinlich sind sie eher persönlicher als politischer Natur.[20] Für eher persönliche Gründe sprechen Belyjs einleitende Sätze im „Reich der Schatten“: „Der „Jemand“ floh nicht aus Sovjetrußland; der „Jemand“ hatte im Ausland dringende, lebenswichtige Dinge zu erledigen; […].“[21]

Neben dem Umgehen der politischen und ökonomischen Umstände in Sowjetrussland strebte Belyj somit 2 Ziele an, die es in Berlin zu erfüllen galt: Ein Wiedersehen mit seinem Meister Rudolf Steiner zum einen, und zum anderen ein für ihn weitaus wichtigeres Ziel: Das Wiedersehen mit seiner Ehefrau Asja Turgeneva.

Das erste Treffen mit Rudolf Steiner sollte alsbald erfolgen, zu bald wie sich herausstellen sollte. Bereits am ersten Abend des 19. November besuchte Belyj eine Vorlesung Steiners mit dem Titel „Anthroposophie und Wissenschaft“. Steiner war überhaupt nicht vorbereitet auf ein Wiedersehen mit Belyj, so sollte es anstatt zu einem herzlichen Willkommen nur für ein „Nu - kak dela?“ reichen. Diese höfliche, aber dennoch äußerst kühle Begrüßung führte zu einem Realitätsbruch bei Belyj und bildete die Grundlage für seine persönliche Krise, die er in Berlin erfahren würde.[22]

In seiner späteren Selbstbiographie erinnert Belyj sich mit Schauer an diesen Moment:

„Mich fröstelt, wenn ich mich an den mit 300 Menschen bis in den letzten Winkel überfüllten Saal erinnere […]. Alles Soziale, was sich in fünf Jahren angesammelt hatte, zerbrach […], in meinem Bewusstseinszustand entfielen verständlicherweise alle Absichten, Fragebündel, Wiedersehen; selbst Steiner, der mich gefragt hatte ‚Nun, wie geht’s?’ – konnte ich nur mittels grimassierender Gesichtsmuskeln unter freundlichem Lächeln antworten: ‚Schwierigkeiten mit dem Wohnungsamt’. Darauf beschränkte sich jegliches Gespräch, das von mir seit fünf Jahren so dringend ersehnt war.“[23]

Auch das Wiedersehen mit seiner Ehefrau Asja verlief für Belyj mehr als enttäuschend, da Asja ihn zunächst gar nicht sehen wollte. Erst nach einem ersten Treffen in Beisein Rudolf Steiners ließ sie sich dazu überreden, einem Gespräch unter 4 Augen zuzustimmen. Dieses Gespräch endete in einer so lautstarken Streiterei zu nächtlicher Stunde, dass Belyj sogar aus dem 1. Stock seines Pensionszimmers sprang. In der folgenden Zeit gab Asja Andrej mehr als deutlich zu verstehen, dass sie nicht zu ihm zurückkehren werde. In Emigrantenzeitungen ließ sie gar publizieren, dass sie nie verheiratet gewesen wären, und zu alle dem fing sie eine Affäre mit 10 Jahre jüngeren Dichter und Barden Aleksander Kusikov an, der kein besonderes Ansehen genoss. Um den Schmerz Belyjs zu vervollständigen besuchte das Paar die gleichen Örtlichkeiten wie er, um in seinem Beisein öffentlich Zärtlichkeiten auszutauschen.[24] Belyj sollte keine schöne Zeit in Berlin verbringen dürfen.

[...]


[1] Urban 2003, S. 9.

[2] S. Beyer 1990, S. 98.

[3] Vgl. Drews 1981, S. 120.

[4] Vgl. Urban 2003, S. 10.

[5] S. Drews 1981, S. 121.

[6] Vgl. Urban 2003, S. 19.

[7] S. Drews 1981, S. 127.

[8] Vgl. Drews 1981, S. 129.

[9] Vgl. Gut 1997, S. 10f.

[10] Vgl. Dutli 1998.

[11] S. Kasack 1994, S. 44.

[12] S. Urban 2003, S. 80.

[13] Die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 von Jelena Petrovna Blavatskaja gegründet und basiert auf den Grundprinzipien und Wirkungsweisen der Natur. Die Anhänger der Theosophie gehen von einem „Körper der Wahrheit“ aus und lehnen das Christentum ab. Mehr zur Theosophie unter: http://theosophie.adlexikon.de/Theosophie.shtml

[14] Vgl. Dutli 1998.

[15] „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zu dem Geistigen im Weltall führen möchte“ (Rudolf Steiner). Charakteristisch für die Anthroposophie ist die Überzeugung, dass jeder Mensch die geistige Welt erkennen kann, wenn er nur entsprechend an sich arbeitet. Sie fordert eine Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffs. Weitere Informationen zur Anthroposophie unter: http://www.anthroposophy.com/. Zum Einfluss der Anthroposophie auf Belyj und seine Werke siehe auch Gut 1997.

[16] Vgl. Urban 2003, S. 80f.

[17] Vgl. Urban 2003, S. 80.

[18] Vgl. Beyer 1995, S. 312.

[19] Belyj: „Avtobiografičeskaja spravka“, zitiert bei Beyer 1990, S. 100.

[20] S. Dodenhoeft 1993, S. 64.

[21] Belyj 1987a, S. 13.

[22] Vgl. Beyer 1990, S. 101f.

[23] Belyj 1987b, S. 175, 178.

[24] Vgl. Urban 2003, S. 81f.

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Details

Title
Der Entwurf des Emigrantenlebens in Andrej Belyjs "Im Reich der Schatten"
College
University of Mannheim  (Slavisches Seminar)
Course
Russische Emigration im Berlin der 20er Jahre
Grade
1,3
Author
Year
2005
Pages
25
Catalog Number
V47404
ISBN (eBook)
9783638443616
ISBN (Book)
9783638659116
File size
623 KB
Language
German
Keywords
Entwurf, Emigrantenlebens, Andrej, Belyjs, Reich, Schatten, Russische, Emigration, Berlin, Jahre
Quote paper
Natalie Webbeler (Author), 2005, Der Entwurf des Emigrantenlebens in Andrej Belyjs "Im Reich der Schatten", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47404

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