Die Nikomachische Ethik gilt als der wichtigste Text der aristotelischen Ethikkonzeption. Im Gegensatz zur fragmentarisch überlieferten Eudemischen Ethik und zur Magna Moralia, deren Authentizität umstritten ist, handelt es sich hierbei um ein in sich kohärentes, abgeschlossenes Buch mit systematisch-logischem Aufbau. Das inhaltlich dichte und komplexe Werk beeinflusste signifikant die Philosophiegeschichte des Abendlandes und scheint bis heute kaum an Aktualität eingebüßt zu haben. Zunächst definiert Aristoteles das Endziel des Strebens nach einem guten Leben als Glück (eudaimonia) und schließt daran eine ausführliche Untersuchung der ethischen und dianoethischen Tugenden an. Die Untersuchung der Freundschaft (Buch VIII und IX) bildet den Höhepunkt gegen Ende des Buches, da hier Bedingung und Konsequenz des moralisch- glücklichen Lebens (das Zusammenleben in der Gemeinschaft) aufgezeigt werden. Auffällig ist, dass der aristotelische Freundschaftsbegriff ein weiteres Feld menschlicher Beziehungen umfasst als die Freundschaft in der (post-)postmodernen Welt und darüber hinaus auch von politischer Relevanz ist, ohne dabei den Privatmenschen und seine Bedürfnisse auszuklammern.
Die heute selbstverständliche und tiefgreifende Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem/politischen Leben war zur Zeit der hellenistischen Monarchien geradezu unbekannt. Für Aristoteles ist ein glückliches und gelungenes Leben untrennbar mit politischer Aktivität als Polisbürger verbunden. Dabei spielt Freundschaft (philia) eine besondere Rolle, deren Bedeutung weit über privates, innerliches Glücksgefühl (oder die sinnliche Liebe- aphrodisia) hinausreicht. Im Folgenden werde ich die verschiedenen Aspekte der Freundschaft (ihre Erscheinungsformen, verschiedene Beziehungen zu den Mitmenschen, Selbstliebe und die Konsequenzen für das Polisleben) darstellen und in einen Zusammenhang bringen, der zeigt, dass Aristoteles vor ca. 2300 Jahren (unabhängig von christlichem Einfluss) eine Theorie des ganzen Menschen entwarf, in der alle Seelenteile1 und Aspekte des Lebens von Vernunft und Selbstbeherrschung vereint und integriert werden, um so ein glückliches Leben anstreben und verwirklichen zu können.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Nutzen und Erscheinungsformen der Freundschaft
- Freundschaft als Tugend der Gemeinschaft
- Drei Arten der Freundschaft
- Individuelle/ private Freundschaftsbeziehungen und ihr Verhältnis zum öffentlichen Gemeinwesen
- Freundschaft und Recht
- Staatsformen und gleichartige familiäre Beziehungen
- Die Einheit von privater Beziehung und öffentlicher Institution am Beispiel der Ehe
- Freundschaft mit sich selbst
- Das Selbst und seine Verdoppelung im Anderen
- Selbstopferung und das Paradoxon des Glücklichen
- Das tätige Leben als wertvolles Gut an sich
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem aristotelischen Freundschaftsbegriff, der im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik behandelt wird. Ziel ist es, die verschiedenen Aspekte der Freundschaft - Erscheinungsformen, Beziehungen zu Mitmenschen, Selbstliebe und Auswirkungen auf das Polisleben - zu beleuchten und in einen Kontext zu stellen, der zeigt, wie Aristoteles vor über 2.300 Jahren eine Theorie des ganzen Menschen entwarf, in der alle Seelenteile und Lebensaspekte durch Vernunft und Selbstbeherrschung vereint und integriert werden, um ein glückliches Leben anzustreben und zu verwirklichen.
- Der Freundschaftsbegriff bei Aristoteles
- Die Bedeutung der Freundschaft für das gesellschaftliche Leben
- Die verschiedenen Arten der Freundschaft und ihre moralische Bedeutung
- Die Verbindung von individueller Freundschaft und politischer Aktivität
- Die Rolle der Selbstliebe für das glückliche Leben
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung stellt die Nikomachische Ethik als wichtigsten Text der aristotelischen Ethikkonzeption vor und hebt dessen Bedeutung für die Philosophiegeschichte des Abendlandes hervor. Der Freundschaftsbegriff in Buch VIII und IX wird als Höhepunkt des Werkes präsentiert, da hier das Zusammenleben in der Gemeinschaft als Bedingung und Konsequenz des moralisch-glücklichen Lebens dargestellt wird.
Nutzen und Erscheinungsformen der Freundschaft
Dieses Kapitel beleuchtet die Freundschaft als Tugend der Gemeinschaft und untersucht ihre verschiedenen Zwecke. Dabei werden die verschiedenen Ansichten zum Thema Freundschaft in der Mehrheitsmeinung (endoxa) zusammengefasst und diskutiert. Aristoteles betont die unabdingbare Bedeutung der Freundschaft für das Gemeinschaftsleben und zeigt auf, wie sie zum tugendhaften Handeln anregt und somit zur Bedingung des glücklichen Lebens wird.
Drei Arten der Freundschaft
Dieses Kapitel beschreibt die drei Arten der Freundschaft, die sich aus den verschiedenen Formen des Liebenswerten ergeben: Freundschaft um der Lust, des Nutzens oder der Charaktereigenschaften willen. Freundschaften um der Lust oder des Nutzens willen werden als akzidentelle Freundschaften bezeichnet, da sie nicht auf dem Wesen und den Charaktereigenschaften des Freundes basieren, sondern auf einem Nutzen- oder Lustverhältnis. Charakterfreundschaften, die auf den Eigenschaften und dem Wesen des Freundes basieren, werden als vollkommene Form der Freundschaft dargestellt.
Individuelle/ private Freundschaftsbeziehungen und ihr Verhältnis zum öffentlichen Gemeinwesen
Dieses Kapitel behandelt die individuellen und privaten Freundschaftsbeziehungen und ihre Beziehung zum öffentlichen Gemeinwesen. Es untersucht die Verbindung von Freundschaft und Recht, die verschiedenen Staatsformen und ihre entsprechenden familiären Beziehungen sowie die Einheit von privater Beziehung und öffentlicher Institution am Beispiel der Ehe.
Freundschaft mit sich selbst
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Freundschaft mit sich selbst, die als Verdoppelung des Selbst im Anderen betrachtet wird. Es beleuchtet die Themen Selbstopferung, das Paradoxon des Glücklichen und das tätige Leben als wertvolles Gut an sich.
Schlüsselwörter
Die zentralen Schlüsselwörter der Arbeit sind: Aristoteles, Nikomachische Ethik, Freundschaft (philia), Tugend, Gemeinschaft, Polis, Glück (eudaimonia), Selbstliebe, Selbstbeherrschung, Vernunft, Charakterfreundschaft, Lustfreundschaft, Nutzenfreundschaft.
- Quote paper
- Vera Ohlendorf (Author), 2004, Der Begriff der Freundschaft bei Aristoteles (Nikomachische Ethik, Buch VIII und IX), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47768