Die föderalen Strukturen in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich

Eine Analyse anhand exemplarisch ausgewählter Aspekte


Dossier / Travail de Séminaire, 2005

39 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen zum Föderalismus
2.1 Grundgedanke und Definition
2.2 Zur Typologisierung unterschiedlicher Föderalismusmodelle

3. Die unterschiedlichen föderalen Grundstrukturen
3.1 Das US-amerikanische Modell des dualen Föderalismus
3.2 Das deutsche kooperative Föderalismusmodell
3.3 Das Konzept der Pfadabhängigkeit als möglicher Erklärungsansatz für
die diametralen föderalen Grundstrukturen
3.3.1 Ursprünge und Kernidee des Konzepts
3.3.2 Ursachen der unterschiedlichen föderalen Entwicklungspfade

4. Das divergierende Föderalismusverständnis und ihre Rolle bei der spezifischen Ausgestaltung des Föderalismus
4.1 Die Relevanz der politischen Kultur für das Föderalismusverständnis
4.1.1 Die Elemente der politischen Kultur in den USA
a) Staatliche Machtbegrenzung
b) Individuelle Freiheit
c) Gesellschaftliche Pluralität
4.1.2 Die Elemente der politischen Kultur in der BRD
a) Gesellschaftliche Homogenität
b) Betonung eines organischen Staatsverständnisses
4.1.3 Die unterschiedlichen Beiträge der jeweiligen politischen
Kulturen zur Vitalität des Föderalismus
4.2 Implikationen der politischen Kultur für die spezifische Ausgestaltung des Föderalismus
4.2.1 Die Beteiligung der Gliedstaaten an der Bundespolitik
a) Das Senatsprinzip der USA
b) Das Bundesratsprinzip der BRD
4.2.2 Die Kompetenzverteilung zwischen den Staatsebenen
a) Nach Politikfeldern in den USA
b) Nach Kompetenzarten in der BRD

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Der Föderalismus im Spannungsverhältnis zentrifugaler und zentripetaler Kräfte

Abbildung 2: Das Modell des interstaatlichen Föderalismus

Abbildung 3: Das Modell des intrastaatlichen Föderalismus

Abbildung 4: Die Elemente der politischen Kultur in den USA

Abbildung 5: Die Elemente der politischen Kultur in der BRD

1. Einleitung

Das föderative Prinzip, das gegenwärtig in nahezu allen demokratisch organisierten Staaten der Welt realisiert ist, wurde erstmals auf dem amerikanischen Kontinent erprobt, indem die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika 1787 dieses konstruktive Ordnungselement im neu zu errichtenden Staatengebilde verfassungsrechtlich verankerten.[1] Die Leistung des föderalstaatlichen US-Prototyps bestand nun vor allem darin, dass er als tragendes Element der Staatswerdung eine innere Ordnung zwischen den bereits vor der Gründung des neuen Staates existierenden selbstbewussten Provinzen und einer als unentbehrlich erachteten zentralstaatlichen Bundesgewalt auf friedlichem Wege herzustellen vermochte. Durch diese positive Erfolgsgeschichte des Föderalismus wurde zweierlei bewirkt. Zum einen konnte die praktische Lebensfähigkeit des bis dahin rein wissenschaftstheoretisch reflektierten Konstrukts unter Beweis gestellt werden, und zum anderen besaß diese US-Föderalismusvariante zugleich Modellcharakter für die künftige Ausgestaltung anderer Staaten nach föderalen Grundsätzen.[2] Jedoch ist diese Vorbildfunktion des US-Föderalismus in seiner Reichweite begrenzt. Die weltweit stark divergierenden Ausprägungsformen des Föderalismus zeigen, dass die föderale Staatsorganisation kein universell anwendbares Konstruktionsprinzip verkörpert, das in allen Staaten nach einheitlichen Maßstäben realisiert werden kann. Vielmehr ist sie in eine je ländertypisch abweichende politische Kultur zu integrieren.[3]

In dieser Arbeit soll nun die föderale Ausgestaltung der beiden Staaten USA und BRD anhand exemplarisch ausgewählter Aspekte analysiert werden. Gemäß der Empfehlung von Leipold für seriöse wissenschaftliche Vergleiche von politischen Systemen werden die polit-kulturellen Eigenheiten der beiden Vergleichsobjekte in die Analyse miteinbezogen, um so aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten.[4]

Aus diesem Grund ist das Erkenntnisinteresse in dieser Arbeit primär daraufhin ausgerichtet, herauszufinden, welche Rolle die jeweilige politische Kultur in beiden Staaten für das Föderalismusverständnis spielt und welche Implikationen hieraus für die spezifische Ausgestaltung des Föderalismus abgeleitet werden können. Zu diesem Zweck werden im zweiten Abschnitt allgemeine theoretische Grundlagen zum Föderalismus erörtert. Hierin wird primär die Begriffsklärung des Föderalismus vorgenommen und die typologische Klassifikation für Föderalismusmodelle von Schultze vorgestellt. Daran anschließend werden im dritten Kapitel die unterschiedlichen föderalen Grundstrukturen der USA und der BRD in diese Klassifikationssystematik von Schultze eingeordnet und mit Hilfe des Konzepts der Pfadabhängigkeit dahingehend untersucht, welche Ursachen dazu führten, dass in beiden Staaten das jeweils diametrale Föderalismusmodell realisiert wurde. Im folgenden vierten Kapitel werden die unterschiedlichen politischen Kulturen der beiden Staaten vorgestellt, welche die Grundlage für das Föderalismusverständnis bilden. Darauf aufbauend werden die daraus länderspezifisch variierenden Implikationen für die Ausgestaltung der Föderalismuskonstruktionen in beiden Staaten abgeleitet, wobei exemplarisch die beiden Schwerpunkte „Beteilung der Gliedstaaten an der Bundespolitik“ und „Kompetenzverteilung zwischen den Staatsebenen“ behandelt werden, bevor im fünften und letzten Kapitel die zentralen Erkenntnisse kurz und bündig zusammengefasst werden.

2. Theoretische Grundlagen zum Föderalismus

2.1 Grundgedanke und Definition

Der Wortursprung des Terminus Föderalismus leitet sich von dem lateinischen Begriff foedus ab, was soviel wie Bund oder Bündnis bedeutet.[5] In seiner heutigen Erscheinungsform stellt der Föderalismus ein demokratietheoretisches Organisations- bzw. Konstruktionsprinzip dar, das summarisch unterschiedlichste Ausprägungsvarianten einer geteilten Herrschaftsausübung zwischen einer nationalen Ebene des Gesamtstaates, einer subnationalen Ebene mehrerer Gliedstaaten und einer regionalen Ebene von Städten und Kommunen umfasst. Demnach ist Föderalismus ein Überbegriff für ein Mehrebenensystem, in dem die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte auf die eben genannten Hierarchiestufen aufgeteilt wird.[6] In der Literatur verbleiben jedoch definitorische Operationalisierungsansätze für das Strukturprinzip des Föderalismus sowohl bei den deutsch- als auch bei den englischsprachigen Autoren meist auf einem höheren Abstraktionsniveau.

Laufer/Münch beispielsweise definieren den Begriff Föderalismus als ein „Organisationsprinzip für ein gegliedertes Gemeinwesen, in dem grundsätzlich gleichberechtigte und eigenständige Glieder zu einer übergreifenden politischen Gesamtheit zusammengeschlossen sind.“[7]

Etwas konkreter aber immer noch relativ abstrakt klingt die 1975 von Riker modulierte Definition: “Federalism is a political organization in which the activities of government are divided between regional governments and a central government in such a way that each kind of government has some activities on which it makes final decisions.”[8]

Darin bringt Riker das wichtigste demokratietheoretische Charakteristikum aller föderalen Konzeptionen auf den Punkt: die vertikale Gewaltenteilung. Staatliche Machtressourcen werden zwischen einer nationalen und einer subnationalen Ebene vertikal parzelliert, wobei jede Staatsebene über hinreichende Handlungsspielräume verfügt, um in ihren jeweiligen Zuständigkeitsressorts weitgehend autonom endgültige Entscheidungen treffen zu können.

Auch Watts identifiziert dieses Element der vertikalen Gewaltenteilung als übergeordnetes Gestaltungsprinzip aller föderal verfassten Systeme und stimmt insofern mit Riker überein: "(T)he distribution of constitutional powers between governments is a major feature of all federal systems.”[9]

Der relativ hohe Abstraktionsgrad, der in diesen Definitionen zum Ausdruck kommt, trägt dem Tatbestand Rechnung, dass es sich bei dem Phänomen des Föderalismus nicht um eine weltweit einheitliche Universalkonstruktion handelt, sondern dass sie vielmehr in eine je länderspezifisch variierende politische und gesellschaftliche Kultur eingebettet ist, die deren konkrete Ausprägungsform determiniert.[10] Entsprechend den interstaatlich stark differierenden gesellschaftlich-kulturellen Eigenheiten ergibt sich hieraus eine enorme Variationsbreite an konkreten Ausgestaltungsmöglichkeiten einer föderalen Staatsstruktur. Frenkel beispielsweise unterscheidet in seiner Typologie nicht weniger als 255 Erscheinungsformen des Föderalismus.[11] Die gesellschafts- und kulturspezifische Bedingtheit der Föderalismuskonstruktion manifestiert sich auch in linguistischer Hinsicht. Während die Vokabel federalism in erster Linie einen zentralistisch organisierten Bundesstaat und die Stärkung der Einheit beschreibt, meint Föderalismus im Deutschen umgekehrt eine überwiegend dezentrale Staatskonstruktion mit höchstmöglicher Souveränität und Eigenständigkeit der einzelnen Gliedstaaten.[12]

2.2 Zur Typologisierung unterschiedlicher Föderalismusmodelle

Diese eben dargestellten sprachlichen Disparitäten machen deutlich, dass dem in den USA gebräuchlichen Terminus federalism und dem in Deutschland verwendeten Begriff Föderalismus unterschiedliche Konzeptualisierungsansätze zugrunde liegen. Um diese im späteren Verlauf der Arbeit herausarbeiten zu können, wird an dieser Stelle als theoretische Basis das Konzept der Einheit in Vielfalt erläutert.

Das Fundament für alle weltweit existierenden demokratisch-föderalen Staatskonstruktionen bildet der Grundsatz Einheit in Vielfalt.[13] Darunter versteht man, dass in geographisch, ethnisch, religiös oder sozial fragmentierten Gesellschaften die darin angelegten, heterogen ausgeprägten Identitäten, Interessen und politischen Kulturen unter einem gemeinsamen Dach integriert, also zu einer politischen Einheit formiert werden, ohne dass die divergierenden identitätsstiftenden Merkmale unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilgruppen vollständig eingeebnet werden. In einfachen Worten ausgedrückt soll ein gewisses Maß an Vielfalt innerhalb einer Einheit erhalten werden, weshalb man das Prinzip der Einheit in Vielfalt auch als Einheit durch Vielfalt bezeichnen könnte.[14]

Jede föderale Konzeption hat somit generell den schwierigen Balanceakt zu meistern, die beiden diametralen Gegenpole Einheit und Vielfalt in Einklang zu bringen. Zum einen gründet der Föderalismus auf einem bestimmten Mindestmaß an politischem und gesellschaftlichem Konsens, weshalb dem Zentralstaat grundsätzliche Regelungsbefugnisse übertragen werden, mit dem Ziel, homogene Rahmenbedingungen für das gesamte Staatsgebiet zu generieren. Hieraus erwächst zwangsläufig ein gewisses Volumen an gesamtstaatlicher Einheit. Zum anderen verkörpert die föderale Struktur gleichzeitig eine Dimension der Selbstbestimmung und Eigenständigkeit subnationaler bzw. regionaler Einheiten, die durch eine differenzierte und flexible bürgernahe Politik vor Ort ein bestimmtes Quantum an gesellschaftlicher Pluralität und Vielfalt zu gewährleisten imstande ist.[15] Schultze definiert zur Verdeutlichung dieses Spannungsverhältnisses, dem jedes demokratisch-föderal verfasste System ausgesetzt ist, ein bipolares Kontinuum, auf dem er die oben beschriebenen diametral wirkenden Kräfte abbildet:

Einerseits die auf Integration und Gleichheit der Lebensbedingungen gerichtete zentripetale Grundorientierung hin zu einem stark zentralistisch organisierten Einheitsstaat sowie andererseits die auf Eigenständigkeit und Vielfalt der Lebensbedingungen abzielenden zentrifugalen Kräfte hin zu einer partikularistisch geprägten Struktur mit einer hohen Autonomie der Gliedstaaten (Abb. 1).[16]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Je nachdem, ob sich in einem Staat eher die zentripetalen Strömungen in Richtung Einheit oder die auf Vielfalt abzielenden zentrifugalen Kräfte durchsetzen, können unterschiedliche föderale Erscheinungsformen differenziert werden.[17] Die beiden hieraus abzuleitenden föderalen Basistypen sind auf der einen Seite der duale bzw. interstaatliche Föderalismus mit stark ausgeprägten zentrifugalen Tendenzen hin zu einer hohen Eigenständigkeit der Gliedstaaten und auf der anderen Seite der kooperative bzw. intrastaatliche Föderalismus mit hoher Zentripetalwirkung, bei dem durch intensive horizontale und vertikale Staatsbeziehungen ein hohes Maß an Kooperation und Konsens im Sinne einer Einheit praktiziert wird.[18]

3. Die unterschiedlichen föderalen Grundstrukturen

3.1 Das US-amerikanische Modell des dualen Föderalismus

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das föderative System der USA ist gemessen auf der bipolaren Skala von Schultze durch starke zentrifugal wirkende Kräfte gekennzeichnet, und ist konzeptionell dem auf Trennung und Konkurrenz abzielenden Grundmodell des interstaatlichen Föderalismus zuzurechnen, dessen idealtypischen Merkmale in obiger Abbildung dargestellt sind (Abb. 2).[19]

Das Pendel des US-Föderalismus bezüglich des Grundsatzes der Einheit in Vielfalt schlägt also eindeutig in Richtung Eigenständigkeit und Vielfalt aus, wohingegen die konträren gesellschaftlichen Zielvorstellungen der Integration und Gleichheit von Lebensbedingungen in den USA keine erwähnenswerte Rolle spielen.

Falke stimmt diesem Befund zu, indem er dem Streben nach Einheitlichkeit der Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten von Amerika als gesellschaftliche Triebkraft bei der Entwicklung des Föderalismus eine kategorische Absage erteilt.[20] Auch andere Autoren verweisen darauf, dass die Einheitsbildung in den USA niemals als erstrebenswertes Ziel angesehen und verfolgt wurde.[21] Entgegen der landläufigen Meinung hat das gesamtpolitische System der USA und das darin integrierte Subsystem des Föderalismus nie den Versuch unternommen, ihre in ethnischer, religiöser, geographischer und sozialer Hinsicht stark segmentierte Gesellschaft zu einem großen Schmelztiegel zu fusionieren und damit die intragesellschaftlich existierenden Unterschiede zu nivellieren.[22]

Das Gegenteil ist der Fall. Die dualistisch-föderale Ausgestaltung der Vereinigten Staaten verhilft dem in ihrer politischen Kultur verankerten Streben nach Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Pluralität und der daraus resultierenden Vielfalt der Lebensbedingungen zum Durchbruch. Dies gelingt vor allem dadurch, dass nicht alle politischen Regelungskompetenzen auf den Zentralstaat vereint werden, sondern großzügig wichtige Policyfelder an die unteren, autonom handelnden Gebietskörperschaften delegiert werden, wodurch den bestehenden ethnischen, sozialen und geographischen Divergenzen besser Rechnung getragen werden kann.[23] Durch die verfassungsrechtliche Begrenzung der Einflusssphäre des Zentralstaats und der Übertragung der ihm entzogenen Regelungsbefugnisse auf die subnationalen gliedstaatlichen und regionalen Gebietskörperschaften, die diese Zuständigkeitsbereiche autonom regulieren dürfen, können nämlich lokal variierende und flexiblere Lösungen für die vielschichtigen und regional sehr unterschiedlich ausgeprägten realpolitischen Problemstellungen generiert werden, als dies bei zentralstaatlich organisierten Lösungsstrategien der Fall ist.[24] Augrund dieser regional variierenden Entscheidungsprozeduren, die in nicht unerheblichem Umfang in den unteren Gebietskörperschaften der dezentral organisierten US-Verwaltungsstruktur realisiert werden, bleibt die soziale Pluralität und die daraus erwachsende Vielfalt der unterschiedlichen Lebensverhältnisse erhalten und wird hierdurch sogar noch verstärkt.

3.2 Das deutsche kooperative Föderalismusmodell

Während die gesellschafts- und politkulturellen Strömungen in den USA eine stark zentrifugale Dynamik entwickelten, wurde der bundesdeutsche Föderalismus primär durch die diametral wirkenden zentripetalen Triebkräfte konstituiert, die den gesellschaftlichen Wunsch ausdrückten, regionale Disparitäten abzubauen, divergierende Lebensverhältnisse aneinander anzunähern sowie wirtschaftliche und kulturelle Homogenität zu generieren.[25] Im Gegensatz zur US-Föderalismusvariante zeichnet sich die deutsche Föderalismuskonstruktion durch eine auf Kooperation und Konsens gerichtete Organisationsstruktur aus, die durch die Gestaltungsmerkmale des intrastaatlichen Föderalismus abgebildet werden kann (Abb. 3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie in den vorherigen Ausführungen bereits angedeutet, zeigt das föderaldemokratische Prinzip der Einheit in Vielfalt in der bundesdeutschen Ausgestaltungsform des Föderalismus eine klare Entwicklungstendenz in Richtung Einheit. Im Gegensatz zu den USA spielten die zentrifugal wirkenden Grundströmungen der gesellschaftlichen Heterogenität sowie der Schutzgedanke für die Multikulturalität im föderalen Konstituierungsprozess der Bundesrepublik Deutschland keine Rolle.[26]

Diese relativ einseitige Betonung des Einheitsgedankens im bundesdeutschen Föderalismus ist entwicklungsgeschichtlich determiniert. Anders als in den Vereinigten Staaten stellte der Föderalismus in Deutschland nie ein konstruktives Gestaltungsprinzip mit prägender Kraft dar, sondern wurde vielmehr als Mittel zum Zweck benutzt, um zu einer politischen Einheit zu gelangen.[27]

Als mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 die deutschen Territorien formal ihre volle staatliche Souveränität und Eigenständigkeit erreichten, wurden die Rufe insbesondere der kleineren Staaten nach Gründung eines neuen deutschen Nationalstaates immer lauter. Der Föderalismus in Form eines Staatenbundes schien eine akzeptable Kompromisslösung für die nach nationaler Einheit strebenden Kräfte auf der einen Seite und den nach Souveränität der Einzelstaaten abzielenden Bewegungen auf der anderen Seite anzubieten, weil eine föderal organisierte Staatsstruktur sowohl die deutsche Einheit als auch ein gewisses Maß an Autonomie der Einzelstaaten zu sichern versprach.[28] Dieser Charakter einer Hilfs- bzw. Ersatzfunktion des Föderalismus gilt, wenn auch abgeschwächt, für all seine Entwicklungssequenzen – angefangen von den ersten föderativen Ansätzen beim Rheinbund und Deutschen Bund über den Bismarckschen Bundesstaat und der Weimarer Ordnung bis hin zur Wiedererstehung des Föderalismus nach 1945.[29]

Als erstes Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass die föderalen Ausprägungen in den USA und der BRD generell unterschiedlichen Grundmodellen zuzuordnen sind: Das US-Konstrukt stellt eine Ausgestaltungsvariante des auf vertikaler Gewaltenteilung und einzelstaatlicher Autonomie gründenden interstaatlichen Föderalismus dar, wohingegen die bundesdeutsche Föderalismuskonzeption das Modell des intrastaatlichen Föderalismus abbildet, das auf funktionaler Aufgabenverteilung und Gewaltenverschränkung aufbaut.[30] Theoriegeschichtlich bilden beide Modelle zwei konträre Interpretationsansätze der Gewaltenteilungslehre von Montesquieu ab. Die erste Interpretation der distribution des pouvoirs stellt nicht die Trennung und wechselseitige Kontrolle der staatlichen Institutionen in den Vordergrund sondern akzentuiert vielmehr die Funktions- und Arbeitsteilung von staatlichen Arbeitsaufgaben. Aus dieser Philosophie leiten sich die in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten Prinzipien Kooperation und Konsens ab, die letztlich zur faktischen Gewaltenverschränkung zwischen den staatlichen Institutionen führen. Die zweite Interpretationsvariante der séparation des pouvoirs hingegen hebt die Autonomie der unterschiedlichen staatlichen Einheiten hervor und propagiert die vertikale Gewaltentrennung zwischen Bund und Gliedstaaten als Erweiterungsmechanismus für die horizontale Gewaltenteilung. Diese auf Trennung und Konkurrenz abzielende Grundposition ist eindeutig in der US-Verfassung verwirklicht, indem der Präsidentialismus und die horizontale Gewaltentrennung zwischen Administration, Kongress und Supreme Court durch das föderale System im Sinne einer vertikalen Gewaltenteilung zwischen Zentral- und Gliedstaaten ergänzt wird.[31]

3.3 Das Konzept der Pfadabhängigkeit als möglicher Erklärungsansatz für die diametralen föderalen Grundstrukturen

Das grundlegende Defizit der traditionellen Theorien und Typologien des Föderalismus ebenso wie die in dieser Arbeit vorgestellte Klassifikationssystematik von Schultze liegt nach Benz darin begründet, dass sie keine hinreichenden Erklärungen dahingehend liefern, warum sich bestimmte föderalstaatliche Ausprägungen in einem Staat durchsetzten und allen Reformbestrebungen zum Trotz als sehr erneuerungsresistent erwiesen, obwohl sie sich wie im Falle Deutschlands nachweislich als suboptimale Systemkonfiguration herauskristallisierten. Aus diesem Grund wird in der international vergleichenden Föderalismusforschung seit den 1990er Jahren das Konzept der Pfadabhängigkeit verstärkt dazu heranzogen, dieses Phänomen zu erklären.[32] Da eine derartig umfassende Analyse bezogen auf die beiden Staaten der BRD und der USA den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird sich nun darauf beschränkt, den Wesensgehalt der Pfadabhängigkeit kurz zu skizzieren und die hieraus abzuleitenden Erklärungen bezüglich der Ursachen für die in den USA und der BRD differierenden Entwicklungspfade des Föderalismus darzustellen.

3.3.1 Ursprünge und Kernidee des Konzepts

Die Kernaussage der Pfadabhängigkeit, die darin besteht, dass historische Bedingungen aktuelle Entscheidungen und zukünftige Entwicklungsrichtungen determinieren, ist denkbar alt und liegt vielen entwicklungstheoretischen Konzeptionen unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen explizit oder implizit zugrunde.[33] Es waren jedoch Ökonomen in persona von Arthur und David, die dieses Phänomen als expliziten Erklärungsansatz für spezifische Aspekte des Marktversagens in den 1980er Jahren wiederentdeckten und präzise modellierten. Ihr Erkenntnisinteresse zielte daraufhin ab, herauszufinden, warum bestimmte ineffiziente Technologien die Märkte auch dann noch dominieren und dem Verdrängungswettbewerb standhalten, wenn nachweislich und für alle Marktteilnehmer erkennbar leistungsfähigere Alternativtechnologien existieren. Als Paradebeispiel hierfür gilt die weltweite Ausbreitung der Schreibmaschinentastatur vor einem Jahrhundert. Obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass deren Buchstabenanordnung für die Schreibgeschwindigkeit suboptimal ist, und daraufhin eine Tastatur entwickelt wurde, mit der sich eine weitaus höhere Tippgeschwindigkeit erzielen ließ, behauptete sich auf dem Markt trotzdem die ursprüngliche ineffiziente Tastaturvariante.[34]

[...]


[1] Konrad Reuter, Föderalismus: Grundlagen und Wirkungen in der Bundesrepublik Deutschland. (Heidelberg: Hüthig Verlag, 1996), S. 163-164.

[2] Ernst Deuerlein, Föderalismus: Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips. (München: Paul List Verlag, 1972), S. 64-65.

[3] Thomas Döring, „Finanzföderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich“, in: Bettina Wentzel, Dirk Wentzel, (Hrsg.), Wirtschaftlicher Systemvergleich Deutschland/USA, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2000, S. 55.

[4] Helmut Leipold, „Die kulturelle Einbettung der Wirtschaftsordnungen: Bürgergesellschaft versus Sozialstaatsgesellschaft“, in: Bettina Wentzel, Dirk Wentzel (Hrsg.), Wirtschaftlicher Systemvergleich Deutschland/USA, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2000, S. 1-2.

[5] Rüdiger Görner, Einheit durch Vielfalt. Föderalismus als politische Lebensform (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996), S. 5.

[6] Rudolf Hrbek, „Föderalismus und demokratische Legitimität“. Positionspapier für die Internationale Föderalismus-Konferenz 2005 in Brüssel. International Conference on Federalism. 2005,
S. 3. URL: http://www.federalism2005.be/home/attachment/i/577 [12. September 2005].

[7] Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland (München: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 1997), S. 14.

[8] William H. Riker, „Federalism“, in: F.I. Greenstein, N.W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political
Science 5
(Reading: Addison-Wesley Verlag, 1975), S. 101.

[9] Ronald L. Watts, „Federalism, Federal Political Systems, and Federations”, in: Annual Review of Political Science, Jg. 1998, Nr. 1, S. 117.

[10] Döring, „Finanzföderalismus USA/BRD“ S. 55.

[11] Max Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat (Bern: Peter Lang Verlag, 1984), S. 113-121.

[12] Ebd., S.109.

[13] Roland Sturm, Föderalismus in Deutschland (Opladen: Verlag Leske + Budrich, 2001), S. 8-9.

[14] Rudolf Hrbek, „Föderalismus sui generis“, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, Jg. 1, Nr. 03/2003, S. 435.

[15] Sturm, Föderalismus in Deutschland, S. 9-10.

[16] Rainer-Olaf Schultze, „Politikverflechtung und konföderaler Föderalismus“. Gesellschaft für Kanada-Studien. 1982, 2. Jg., Nr. 2, Bd. 3, S. 8. URL: http://www.kanada‑studien.de/Zeitschrift/zks3/Schultze.pdf [29. September 2005].

[17] Rainer-Olaf Schultze, „Föderalismus“, in Dieter Nohlen (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik (München: Beck Verlag, 2001), S. 128.

[18] Hrbek, „Föderalismus und demokratische Legitimität“, S. 4.

[19] Döring, „Finanzföderalismus USA/BRD“, S. 55.

[20] Andreas Falke, „Föderalismus und Kommunalpolitik“, in: P. Adams, P. Lösche (Hrsg.), Länderbericht USA (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1998), S. 264.

[21] Laufer/Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 20.

Wolfgang Jäger/Wolfgang Welz, Regierungssystem der USA (München: Oldenbourg Verlag, 1998), S. 82.

[22] Peter Lösche, „Einige unsystematische Anmerkungen zum Vergleich des deutschen und amerikanischen Föderalismus“, in: R. Meier-Walser, G. Hirscher (Hrsg.), Krise und Reform des Föderalismus – Analysen zu Theorie und Praxis bundesstaatlicher Ordnungen. (München: Olzog Verlag, 1999), S. 140-141.

[23] Döring, „Finanzföderalismus USA/BRD“, S. 61.

[24] Hrbek, „Föderalismus und demokratische Legitimität“, S. 5.

[25] Rainer-Olaf Schultze, „Statt Subsidiarität und Entscheidungsautonomie - Politikverflechtung und kein Ende.“, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1993, Jg. 4, S. 229.

[26] Rainer-Olaf Schultze, „Föderalismus als Alternative? Überlegungen zur territorialen Reorganisation politischer Herrschaft“, in: G. Hirscher (Hrsg.), Die Zukunft des kooperativen Föderalismus in Deutschland. (München: Hanns-Seidel-Stiftung, 1991), S. 226-227.

[27] Laufer/Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 33.

[28] Sturm, Föderalismus in Deutschland, S. 17.

[29] Weiterführende Informationen:

Laufer/Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 33-54.

Sturm, Föderalismus in Deutschland, S. 17-29.

[30] Döring, „Finanzföderalismus USA/BRD“, S. 54.

[31] Schultze, „Föderalismus als Alternative?“, S. 229-230.

[32] Arthur Benz, „Themen, Probleme und Perspektiven der vergleichenden Föderalismusforschung“, in: A. Benz, G. Lehmbruch (Hrsg), Föderalismus – Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive. (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2002), S. 19.

[33] Helmut Leipold, „Zur Pfadabhängigkeit der institutionellen Entwicklung. Erklärungsansätze des Wandels von Ordnungen“, in: D. Cassel (Hrsg.), Entstehung und Wettbewerb von Systemen. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 246, (Berlin: Duncker & Humblot, 1996), S. 95.

[34] Ebd., S. 96.

Fin de l'extrait de 39 pages

Résumé des informations

Titre
Die föderalen Strukturen in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich
Sous-titre
Eine Analyse anhand exemplarisch ausgewählter Aspekte
Université
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg
Note
1,0
Auteur
Année
2005
Pages
39
N° de catalogue
V47850
ISBN (ebook)
9783638447034
ISBN (Livre)
9783638690881
Taille d'un fichier
719 KB
Langue
allemand
Mots clés
Strukturen, Vereinigten, Staaten, Amerika, Bundesrepublik, Deutschland, Vergleich, Analyse, Aspekte
Citation du texte
Dipl.-Hdl. Michael Schießl (Auteur), 2005, Die föderalen Strukturen in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47850

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