Am 15. Juli 1922 schildert Rainer Maria Rilke seiner Brieffreundin Margot Gräfin Sizzo-Noris-Crouy den Staatsbesuch des vietnamesischen Kaisers in Frankreich:
Haben Sie gelesen, mit welchen Worten kürzlich der Kaiser von Annam, Khai-Dinh, das Wesen des französischen Geistes neben dem seines Volkes ausgewogen und, in orientalischer Anmut, gerühmt hat. Er sagte, in Paris: ‚Vous êtes une grande idée vivante, active, créatrice et féconde. Nous sommes une grande idée mélancolique et calme s’attachant avec charme au culte du Passé’ – ists nicht herrlich? Und wie wäre die Welt zu harmonisieren, wenn Völker sich einander so zugeben wollten, jedes zu seiner Art und der des anderen ehrfürchtig und staunend zugestimmt.
Rilke nimmt den Bericht über ein realpolitisches Ereignis zum Anlass, die Frage nach den Möglichkeiten internationaler Koalitionen zu stellen. Dazu werden die Worte des Kaisers – die aus pragmatischer Sicht wohl eher Ausdruck diplomatischen Kalküls waren – für ein gesamtgesellschaftliches Zukunftsmodell in Anspruch genommen, das sich auf die vollständige symbiotische Harmonisierung und Gleichberechtigung politischer Einzelakteure richtet. Voraussetzung und Muster einer solchen – staatenübergreifenden – Allianz bildet dabei zunächst die explizite Artikulation einer nationalen Homogenität, die en miniature jene kulturellen Praktiken sichtbar werden lässt, die auch für die Konstituierung eines weltumspannenden Gemeinschaftssinns erforderlich zu sein scheinen. So heißt es weiter im besagten Brief:
Dazu [zur Harmonisierung der Welt] freilich ists not, daß man die Art rein erkenne, ja daß mans – ach – zur Art bringe und, und in der Mitte der Art, zur Idee!
Bedingung für internationale Harmonisierung ist demnach ein Bewusstsein eigener ‚Art’. Dass sich eine solche Vorstellung nationaler Spezifik indes nicht als außermaterielle Transzendenz, sondern als imaginärer Bezirk erweist, der – das zeigt die Raumsemantik („in der Mitte“) unmissverständlich an – topisch beschritten und damit artikulatorisch zugänglich gemacht werden will, wird durch die Tatsache erhellt, dass es sich bei der kollektiven Identität offensichtlich um eine aktive Suchbewegung handelt, die von der Gemeinschaft um ihrer eigenen Selbstbeschreibung willen auszugehen hat. Die Eigenheit einer gemeinschaftlichen Idee vermag sich offenbar nicht unter Rückgriff auf einen metaphysischen Ursprung zu legitimieren sondern bleibt auf die imaginären Praktiken des Systems selbst angewiesen.
Inhaltsverzeichnis
- BEGEGNUNG MIT DER MACHT: ZU EINER POLITISCHEN SIGNIFIKATION DER OBERFLÄCHE
- OBERFLÄCHEN DES POLITISCHEN: ,DIE WEISE VON LIEBE UND TOD DES CORNETS CHRISTOPH RILKE’
- SEHNSÜCHTE
- Abwesende Heimat
- Abwesende Frauen
- Abwesende Männer
- AHNUNGEN
- Poesie und Andacht
- Frauenopfer I
- Männerbund und Poetologie des Abendmahls
- SCHÖPFUNGSGESCHICHTEN
- Cornet!
- ,,Mann!\"/Frauenopfer II
- EIN GEMALTER BRIEF
- ENTSCHEIDUNGEN
- Weibliche Feste und männliche Träume
- Investitur/Devestitur
- Frauenopfer III
- Fahne: Fetisch und leerer Signifikant
- Krieg und Gartenpartys
- UNBEGRIFFLICHKEIT UND MACHT
- Die politische Signifikation der Oberfläche
- Die Rolle von Symbolen und Sinnbildung in der Konstruktion nationaler Identitäten
- Die Frage nach der ‚Art' und die Artikulation nationaler Spezifik
- Die Bedeutung von gemeinschaftlichen Imaginationen und der Prozess der Selbstbeschreibung
- Die Bedeutung von materiellen Objekten und der Verdinglichung von Sinnbildern
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Genese und Wirkungsweise politischer Imaginationen um 1900. Sie konzentriert sich auf die Analyse von Rainer Maria Rilkes Werk und betrachtet die Rolle von Oberfläche und Sinnbildung in der Konstruktion nationaler Identitäten. Die Arbeit stellt die Frage, wie sich in Rilkes Werk der Prozess der Selbstbeschreibung und der Herstellung von kollektiven Identitäten im Kontext des politischen Wandels und der Herausforderungen des frühen 20. Jahrhunderts vollzieht.
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der politischen Bedeutung der Oberfläche und der Frage, wie diese in Rilkes Werk zum Ausdruck kommt. Das zweite Kapitel analysiert die verschiedenen Oberflächen des Politischen, die in Rilkes Werk ,Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke' zum Vorschein kommen. Dieses Kapitel gliedert sich in verschiedene Unterkapitel, die sich mit den Themen Sehnsüchte, Ahnungen, Schöpfungsgeschichten, Entscheidungen sowie der Frage nach dem Krieg und Gartenpartys auseinandersetzen.
Schlüsselwörter
Politische Imagination, nationale Identität, Oberfläche, Symbol, Sinnbildung, ‚Art', Gemeinschaft, Selbstbeschreibung, Verdinglichung, Rilke, ,Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke', Österreich, Ungarn, Stephanskrone.
- Quote paper
- Mirko Mandic (Author), 2005, "Das Unbegreiflichste der Macht" - Zur Genese und Wirkungsweise politischer Imaginationen um 1900, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48075