Ab 1635 bezog Corneille die Politik in seine Stücke mit ein. Während er im „Cid“ noch den nur an seinem Glück interessierten und aufsässigen Rodrique das vom König - und wie auch im wahren Leben von Richelieu - nicht erwünschte Duell abhalten ließ, schien „Horace“ vier Jahre später die Allmacht des Staates und die damit einhergehende absolute Sich-Unterwerfung dieser Macht zu zelebrieren.
Es ist aus heutiger Sicht erstaunlich, dass „Horace“, mit der darin von Camille nicht gerade sparsam geäußerten Staatskritik, Richelieu nicht nur gewidmet, sondern von diesem die Aufführung auch genehmigt wurde. Die für den Leser unserer Zeit logische Denk- und Handlungsweise der Camille wird nämlich kaum vom Freispruch für Horace am Ende des Stückes anders gewertet als zu Beginn. Versetzt man sich allerdings in die Entstehungszeit des Stückes und betrachtet man die politischen sowie gesellschaftlichen Tugenden und Richtlinien vor dem geschichtlichen Hintergrund, so ist es gut möglich, dass eine abschreckende Schlussszene Camilles Wortgewalt zunichte macht. Nach eingehender Beschäftigung mit „Horace“ wird aber deutlich, dass sich Corneille anhand der Figur der Camille durchaus ein kritisches Sprachrohr geschaffen hat, das auch auf entsprechendes Gehör stoßen konnte. Dazu ist es besonders wichtig, nicht nur die historischen und politischen Hintergründe zu erforschen, sondern auch die Zuschauerperspektive zu definieren.
Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass die Meinungen über die Aussage des Stückes gespalten sind. So sieht Jaques Maurens in Corneille einen getreuen Ideologen Richelieus und dessen Staatsidee. Dementgegen stufen Werner Krauss und Bernard Dort Corneille als einen Vertreter des Bürgertums ein, da er deren politische Wünsche und Vorstellungen in seinen Stücken thematisiert. Nach Serge Doubrovsky schreibt Corneille ein théâtre réactionnaire. Zwar lassen sich für jeden der genannten Interpretationsansätze geeignete Textstellen finden, jedoch soll auf denen von Wolfgang Iser aufgebaut werden, wo festgehalten wird, dass in Corneilles Stücken von einem Zusammenhang zwischen Fiktion und Wirklichkeit auszugehen sei.
Inhalt
1. Einleitung
2. Le XVIIème siècle - Zeitliche Situierung
2.1. Das politische Geschehen um
2.2. Die Auswirkungen der Politik auf die französische Literatur
2.3. Die doctrine classique
2.4. Das politische Geschehen in „Horace“ in einem vergleichenden Bezug zur Realität
3. Der Begriff der Staatsräson im Vergleich zu „Horace“
4. Zum Begriff des Stoizismus
4.1. Im Allgemeinen
4.2. Der Stoizismus zu Corneilles Zeit
5. „Horace“ - Ein Resumée
6. Ist diese Tragödie wirklich tragisch?
7. Die Position der Camille
7.1. Ein Überblick
7.2. Camilles Taktik
7.3. Die Fortschrittlichkeit von Camilles Denkweise
8. Zur Rezeptionsperspektive
9. Schlussfolgerungen
9.1. Wie konnte die Staatskritik verschleiert werden?
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ab 1635 bezog Corneille die Politik in seine Stücke mit ein.[1] Während er im „Cid“[2] noch den nur an seinem Glück interessierten und aufsässigen Rodrique das vom König - und wie auch im wahren Leben von Richelieu - nicht erwünschte Duell abhalten ließ[3], schien „Horace“[4] vier Jahre später die Allmacht des Staates und die damit einhergehende absolute Sich-Unterwerfung dieser Macht zu zelebrieren. Freundschaft, Liebe, Moral, Gerechtigkeit, freies Denken und die Ehre des Helden sind der pouvoir untergeordnet. Warum es zu dieser Änderung in Corneilles Werk kommt, wieso es am Schluss „Vis pour servir l´État“[5] heißt und wie dies schließlich gedeutet werden kann, das soll in dieser Arbeit herausgearbeitet werden.
Es ist aus heutiger Sicht erstaunlich, dass „Horace“, mit der darin von Camille nicht gerade sparsam geäußerten Staatskritik, Richelieu nicht nur gewidmet[6], sondern von diesem die Aufführung auch genehmigt wurde. Die für den Leser unserer Zeit logische Denk- und Handlungsweise der Camille wird nämlich kaum vom Freispruch für Horace am Ende des Stückes anders gewertet als zu Beginn. Versetzt man sich allerdings in die Entstehungszeit des Stückes und betrachtet man die politischen sowie gesellschaftlichen Tugenden und Richtlinien vor dem geschichtlichen Hintergrund, so ist es gut möglich, dass eine abschreckende Schlussszene Camilles Wortgewalt zunichte macht.[7] Nach eingehender Beschäftigung mit „Horace“ wird aber deutlich, dass sich Corneille anhand der Figur der Camille durchaus ein kritisches Sprachrohr geschaffen hat, das auch auf entsprechendes Gehör stoßen konnte. Dazu ist es besonders wichtig, nicht nur die historischen und politischen Hintergründe zu erforschen, sondern auch die Zuschauerperspektive zu definieren.
Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass die Meinungen über die Aussage des Stückes gespalten sind. So sieht Jaques Maurens in Corneille einen getreuen Ideologen Richelieus und dessen Staatsidee.[8] Dementgegen stufen Werner Krauss und Bernard Dort Corneille als einen Vertreter des Bürgertums ein, da er deren politische Wünsche und Vorstellungen in seinen Stücken thematisiert.[9] Nach Serge Doubrovsky schreibt Corneille ein „théâtre réactionnaire“.[10] Zwar lassen sich für jeden der genannten Interpretationsansätze geeignete Textstellen finden, jedoch soll auf denen von Wolfgang Iser aufgebaut werden, wo festgehalten wird, dass in Corneilles Stücken von einem Zusammenhang zwischen Fiktion und Wirklichkeit auszugehen sei.[11] Nach Iser reagieren fiktionale Texte immer auf ein Defizit „lebensweltlicher Sinnsysteme“[12]. Dass zu Corneilles Zeit herrschende defizitäre System war das der Politik. Die Monarchie wuchs quasi über die Köpfe des Volkes hinaus, was bedeutete, dass das Volk nicht mehr aktiver Mitträger des Staates war - so wurde aus dem Schwert- der Hofadel. Das hieß, dass der Adel nicht mehr auf die gewohnte Art der gloire seiner selbst würdig werden konnte. Er wurde sich seiner Stellung und seines Prestiges unsicher, da an Stelle des Konkurrenz-kampfes die Gunst des Königs trat.
Im Zusammenhang mit dem Funktionsverlust des Adels kann auch insofern auf die in Corneilles späteren Stücken auffällige Dominanz der Frauen verwiesen werden, als sie nun heroische Züge aufweisen.[13] Dass dies auch bei Camille der Fall ist, wird im Laufe der vorliegenden Arbeit deutlich.
2. Le XVIIème siècle - Zeitliche Situierung
2.1. Das politische Geschehen um 1640
1598 wurde von Heinrich IV. das Edikt von Nantes erlassen, so dass in Frankreich der innere Frieden eintrat. Dieser war dringend gefordert, da die jahrzehntelangen Religionskriege an den Kräften zehrten. Durch das Edikt von Nantes gelang es außerdem der Monarchie, an Ansehen zu gewinnen. Dieser positive Ruf währte jedoch nicht lange, da nach der Ermordung von Heinrich IV. (1610) die Zeit bis zur Ernennung des Kardinals von Richelieu zum Minister im Jahre 1624[14] von Konflikten zwischen Feudaladel und Monarchie, von Intrigen, Revolten und dem Wiederaufflackern der Religionskriege geprägt war - was wiederum die Verwundbarkeit dieser Staatsform verdeutlichte.[15] Um ihr wieder zu Aufschwung und Stabilität zu verhelfen, bediente sich der Kardinal „Mittel[ ] brutaler Machtpolitik“[16], die dem zentralistischen Königtum zu Gunte kommen sollten. Währenddessen boten die politischen Auseinander-setzungen in der Zeit zwischen der Ermordung Heinrichs IV. bis zur Konstituierung der absoluten Monarchie den Nährboden für lebhafte philosophische und theologische Kontroversen. So wurde von Descartes die Meinung vertreten, dass die Größe des Individuums sich in der Beherrschung seiner Leidenschaften durch die Vernunft erweise, was sich insofern in „Horace“ wiederfindet, als Camille gerade dies nicht möglich ist.[17]
2.2. Die Auswirkungen der Politik auf die französische Literatur
Das 17. Jahrhundert war in Frankreich ein Jahrhundert der disziplinierten Literatur. Dies lag in den damaligen politischen wie bürgerlichen Turbulenzen begründet, die ein Bedürfnis nach Ordnung hervorriefen - eine Diziplin, die von der absoluten Monarchie gefordert wurde, damit der Staat nicht auseinander brach.[18] Malherbe, die zahlreichen Salons (darunter besonders das Hôtel de Rambouillet) und die 1635 gegründete Académie française verliehen dem neuen Bedürfniss nach Ordnung Ausdruck. Was die Autoren dabei forderten, war die Fähigkeit, sich klar auszudrücken und Werke nicht nur gemäß den Regeln des bon goût zu verfassen, sondern ebenso nach denen von Boileau, wie er sie in seiner „Art poetique“[19] festhielt. Für Theater-stücke waren vor allem die Erkenntnisse des Aristoteles von Bedeutung.[20] Kurzum: es wurde sich um klassische Dämpfung[21] der vom barocken Überschwang gekennzeichneten franzö-sischen Literatur bemüht.
Die beiden wichtigsten Philosophen dieser Zeit, René Descartes und Blaise Pascal, beschäftigten sich zu diesem Zeitpunkt mit der Vernunft.[22] Daraus folgte, dass die menschlichen Gefühle gemieden, beziehungsweise der Vernunft untergeordenet wurden - was für das 17. Jahrhundert bezeichnend war.[23]
Mit Richelieu begann eine auf den Absolutismus zugeschnittene Kulturpolitik. So ließ er beispielsweise die Zensur, die zu Zeiten der Religionskriege existierte, nicht nur erneuern, sondern auch verschärfen. Wurde durch sie einst lediglich das pivilège du roi[24] erteilt, sobald die offiziellen Zensoren nichts fanden, was gegen die Religion und die Würde des Königs sprach, so machte Richelieu aus ihr unter Ludwig XIV. eine rein politische Zensur. Damit ging auch das von Richelieu eingesetzte Mäzenatentum einher, da durch Gratifikationen die Arbeit der so Unterstützten beeinflusst werden konnte.[25] Auch Corneille erhielt von Richelieu ein solches Salär.[26]
Da sich Richelieu der Wirkungsmöglichkeit des Theaters bewusst war, gründete er zudem die société des cinq auteurs, der zeitweilig auch Corneille angehörte. So „unterbreitet[e] er [der société ] Dramenvorschläge, die die Autoren in wirksame Theaterstücke umsetzen [sollten]“[27]. Wirksam in dem Sinne, dass Richelieu das Theater nicht nur als Schule der hônneteté[28], sondern auch als „Instrument der Propagierung einer staatlich sanktionierten (Ordnungs-) Ideologie“[29] verstand.
Er verpflichtete des weiteren die Autoren dazu, die Regeln der bienséance[30] in ihre Werke mit einzubeziehen, um „die Anziehungskraft der höfischen Mitte zu verstärken. Die Komödie sollte aus den Niederungen der Farce emporgezogen und dem Stilbereich des heroischen Dramas angenähert werden.“[31]
Dadurch, dass Richelieu von den zeitgenössischen Dichtern verlangte, die Gesinnung des Staates hinauszutragen, erhielten sie einen „gesellschaftlichen Auftrag[ ]“[32].
2.3. Die doctrine classique
Bei der doctrine classique handelt es sich um ein rational begründetes Regelsystem des französischen Klassizismus mit gesellschaftlicher Funktion: Die Literatur sollte durch sie einen neuen Verhaltenskodex vermitteln, wie er in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts besonders von Nöten war[33] - so war es Richelieus Absicht, die pädagogische Leistung der Literatur in den Dienst des Staates zu stellen.[34] Dabei geht die Geschichte der doctrine classique auf die Wiederentdeckung der griechischen Originalfassung von Aristoteles´ Schrift „Über die Dichtkunst“[35] zurück, deren Übersetzung im „17. Jahrhundert großen Einfluss auf die französischen Theoretiker und die Entstehung der normativen Poetik“[36] ausübte. Während Nicolas Boileau-Despreaux in seiner „Art poétique“[37] die Prinzipien der doctrine classique zusammenfasste, ließ sich Corneille in seinen „Trois discours sur le poème dramatique“[38] von dieser normativen Poetik inspirieren und die „Querelle du Cid“[39] war unter anderen Werken eine wichtige Etappe in der Ausarbeitung derselben.
Die in der Tradition des Aristoteles stehende klassische Poetik sieht die Dichtkunst primär als ein von Jedermann zu erlernendes Handwerk (ars) an, dessen Vorbilder für die französische Literatur des 17. Jahrhunderts vor allem im modernen Italien und Spanien, aber auch in der griechisch-römischen Antike zu finden sind. Bei der doctrine classique handelt es sich quasi um einen Wettstreit (aemulatio/émulation) in der Nachahmung der Alten (imitation des Anciens).[40]
Oberstes Gebot bei der Erziehung der Gesellschaft durch die Literatur im Sinne der doctrine classique ist, die Belehrung durch Mittel der Unterhaltung zu erreichen: plaire et instruire ist das Ziel der doctrine classique. Dazu gilt es ein Regelwerk zu befolgen, demnach in der Literatur die Natur nachgeahmt werden soll (Mimesis/imitation de la nature), ohne gegen den bon sens oder die raison zu verstoßen. Es kommt darauf an, der vraisemblance (Wahrscheinlichkeit) und der bienséance (gesellschaftlichen Schicklichkeit)[41] zu entsprechen. Durch dieses „Mimesisgebot“[42] wird das prinzipiell Vernünftige, Gute und Schöne der Natur - also ihr einzig „wahres“ Erscheinungsbild - dargestellt. Dies entspricht einer „idealistischen, vom Neuplatonismus der Renaissance inspirierten Konzeption.“[43]
Die Übertragung der Regeln der doctrine classique bedeutet für das Theater - der beliebtesten und am intensivsten diskutierten Gattung der Zeit - bezüglich den Anforderungen der vraisemblance und der bienséance, die aristotelischen Regeln der drei Einheiten[44] sowie die der Schicklichkeit[45] zu erfüllen.
„Horace“ ist Corneilles erste Tragödie, die ganz dieser von Richelieu geforderten klassischen Dramaturgie entspricht.[46] Dass es Corneille aber schwer fällt, sich den Regeln der klassischen Poetik gemäß den Anforderungen Richelieus zu unterwerfen[47] und ihnen nur bedingt folgt[48], bemerkt man an seiner Umsetzung der Forderungen der vraisemblance und der bienséance. So bringen nicht nur die Beschreibung des Kampfes zwischen den Horatiern und Curatiern, sondern auch der Schwestermord die auf Aristoteles zurückgehende Einheit von Handlung, Ort und Zeit aus dem Gleichgewicht. Während für Corneille der Mord im Verborgenen hinter der Bühne die einzige Möglichkeit ist, Anstand und Schicklichkeit zu wahren und somit einer zweiten querelle zu entgehen, was er im examen auch ausführlich zu erklären sucht[49], bedient er sich bei der Kampfbeschreibung des Termicus technicus des Boten-Berichtes, was ihn noch die Grenzen der bienséance wahren lässt.
2.4. Das politische Geschehen in „Horace“ in einem vergleichenden Bezug zur Realität
Einer der Gründe für den Erfolg des Stückes findet sich in der damaligen Nähe zum aktuellen Zeitgeschehen. Der in „Horace“ zwischen Rom und Alba geführte Krieg lässt sich mit der Historie - wie sie sich zur Entstehungs- und Aufführungszeit von „Horace“ zugetragen hat - in Verbindung bringen. Denn die in dem Stück dargestellten Verflechtungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und politischen Konflikten lassen sich mit denen des Krieges zwischen Frankreich und Spanien vergleichen: Anna von Österreich ist nicht nur die Frau von Louis XIII., sondern auch die Schwester des Königs von Spanien, Phillip IV. Zudem ist Spaniens König mit der Schwester von Louis XIII., Königin Elisabeth, verheiratet. Aufgrund der Kriegssituation sind die verschwägerten Monarchen somit nun auch verfeindet.[50]
Corneille findet im Text des Titus-Livius[51] ein Thema der römischen Geschichte, das mit den aktuellen Ereignissen zu vergleichen ist, da nicht nur Camille in ihren verwandschaftlichen Bezügen mit der Position Annas von Österreich zu vergleichen ist - so kann es die Königin zu Kriegszeiten nicht unterlassen, mit ihrem Heimatland in Kontakt zu bleiben[52] - sondern es ist auch das kriegerische Geschehen zwischen den Ländern der Regenten Phillip IV. und Louis XIII. mit dem Kampf zwischen den Horatiern und Curiatiern zu vergleichen, da beide Parteien auf verwandschaftlicher Ebene miteinander verbunden sind.
3. Zum Begriff der Staatsräson im Vergleich zu „Horace“
In seinem Buch “Im Namen des Staates - Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit“ (Frankfurt/M. 1987) hat sich Herfried Münkler detailliert mit dem Begriff und der Geschichte der Staatsräson auseinandergesetzt. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, sollen an dieser Stelle nur wesentliche Aspekte, beziehungweise solche, die auf „Horace“ zu beziehen sind, aufgeführt werden.[53]
Der erstmals bei Pontano und etwas später bei Machiavelli erwähnte Begriff der Staatsräson kommt in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa zur Anwendung.[54] Mit Staatsraison ist dabei im Prinzip gemeint, politische Entscheidungen ausschließlich zu Gunsten des Staates zu treffen.[55] Dabei entspricht die Staatsräson einer weitreichenden „Rechtsdurchbrechungs-befugnis“[56], wobei die Rechtsdurchbrechung dem Staat entweder nützlich oder für dessen Erhalt nötig ist.[57] Somit verändert sich auch der Begriff der Souveränität, denn galt im Mittelalter noch derjenige als Souverän, der das Recht zu urteilen besaß, so ist es nun derjenige, der das Recht besitzt, das Gesetz, nachdem geurteilt wird, zu erlassen. Der Souverän ist zwar weiterhin an das Gesetz gebunden, er steht aber gleichzeitig auch über ihm. Dabei ist es - wie oben schon erwähnt - das Ziel, die Interessen des Staates zu wahren, was beinhaltet, dass der Souverän nicht zwangsläufig zu seinen eigenen Gunsten entscheidet.[58] Anders gesagt bedeutet im Sinne der Staatsräson zu handeln, dass „im Konfliktfall Staatsinteressen allen anderen Rechtsgütern und Interessen voranzustellen und für ihre Durchsetzung notfalls die Rechtsordnung und die allgemeinen Moralitätsregeln zu durchbrechen“[59] sind. Diese Definition findet sich auch in „Horace“ wieder, da dort Horace durch den Schwestermord nicht nur Recht und Moral ignoriert, sondern dies auch vom Souverän geduldet wird. Dies ist möglich, da Horace im Interesse des Staates gehandelt hat: er duldete nicht dessen Verfluchung. Dass Horaces Wiederherstellung des Staatsansehens durch eine extreme Handlung geschieht, animiert vor allem aus heutiger, demokratischer Sicht zum Nachdenken über die Aussage des Stückes.
[...]
[1] Gaillard, Pol: Corneille. Horace, Paris 1641, S.20.
[2] 1636/37 entstanden, Text s. z.B.: Corneille. Œvres complètes. Bd. I. Textes établis, présentés et annotés par Georges Couton. Bibliothèque de la Pléiade. Editions Gallimard, Paris 1980, S. 689-829.
[3] Richelieu ist gegen das Duell, da das „Recht der Selbsthilfe [...] nicht nur der mühsam erkämpften Oberhoheit des Staates [widersprach], sondern [auch] den Adel [schwächte] und [...] ihn von seinen militärischen Aufgaben [ablenkte].“ (Krauss, Werner: Corneille als politischer Dichter, Marburg 1936, S. 15f.)
[4] 1640 entstanden, Text s. z.B.: Corneille. Œvres complètes, a.O., S. 831-901.
[5] “Horace“, Akt V, Szene III, V. 1763, s. z.B.: ebda.
[6] Widmungsbrief s. z.B.: ebda., S. 833ff.
[7] Es sein denn, der staatstreue Zuschauer des 17. Jahrhunderts ist nicht schon während des ganzen Stückes von Camilles Verhalten empört und wartet nur auf die Bestrafung der Fervlerin.
[8] vgl. Maurens, Jacques: La Tragédie Sans Tragique - Le néo-stoïcisme dans l´œuvre de Pierre Corneille, Paris 1966, bes. S. 198ff.
[9] vgl. Krauss, a.a.O., bes. S. 8ff, und Dort, Bernard: Corneille dramaturge, Paris 1957, bes. S. 7ff, 138f.
[10] vgl. Doubrovsky, Serge: Corneille et la dialectique du héros, Paris 1963, S. 96.
[11] vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte - Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1974 (Konstanzer Universitätsreden).
[12] Mazat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München 1982, S. 133.
[13] vgl. ders., 134 und Doubrovsky, a.O., S. 292, 355ff, 425. Hier prägt Doubrovsky den in diesem Zusammenhang gebräuchlichen Begriff der „inversion des sexes“.
Außerdem sei angemerkt, dass in „Cinna“ (1641 entstanden, Text s. z.B.: Corneille. Œvres complètes, a.a.O., S. 903-969) die Staatsraison „ihre männliche Schroffheit [verliert]. [...] Diese neue Ordnung beruht auf der Anerkennung des Frauentums, dessen mittegebende Geltung Corneille im gesellschaftlichen Umkreis der Marquise von Rambouillet erfahren hatte.“ (Krauss, a.a.O., S. 36.)
[14] Bis dato übernahm Maria de Medici, die Frau von Heinrich IV. für den noch minderjährigen Louis XIII. die Regentschaft. Richelieu regierte von 1624-1642 als Minister.
[15] Grimm, Jürgen (Hrsg): Französische Literaturgeschichte, Stuttgart u.a. 1999, S. 137.
[16] ebda., und vgl. Krauss, a.a.O., S. 16, und auch Thuau, Etienne: Raison d´État et Pensée Politique à l´Époque de Richelieu, Athen 1966, S. 120ff, worin er auf die Schrift von Mathieu de Morfus bzgl. eines Frankreich unter der Tyrannei Richelieus eingeht.
[17] s. auch Krauss, a.a.O., S. 27: „Die zeitliche Nähe des Descartesschen ‘Discours de la methode’ spricht unverkennbar aus den herrischen Sätzen des Testaments [von Richelieu]. Dem irrationalen Prinzip der gottgewollten Monarchie gewährt das Ministeriat die wichtigste Stütze: die Verfügungsgewalt über die gesammelte Macht der Vernunft.“
[18] Der Stoizismus fungiert dabei als ein weiteres Mittel zur Herstellung der Ordnung. vgl. Münkler, Herfried: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M., S. 189. Darauf wird noch in Kapitel 4 „Zum Begriff des Stoizismus“ dieser Arbeit eingegangen.
[19] Bodin, Jean: Sechs Bücher über den Staat. Übers. und mit Anm. vers. von Bernd Wimmer, hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch, 2 Bde., München 1981/86.
[20] vgl. Mironneau, Adolphe; Royer, Edmond: Lecture expliquée et eléments d´histoire littéraire, Paris 1929, S. 29.
[21] Hierbei handelt es sich um ein dramaturgisches Prinzip, das besagt, dass die Tragödie in ihrer klassizis-tischen Dramenkonzipierung den Maßgaben der bienséance, also der Wohlanständigkeit, Folge leisten muss. s. dazu auch Kapitel 2.3 „Die doctrine classique “ dieser Arbeit.
[22] vgl. ihre Werke: Descartes, Renée: Die Leidenschaften der Seele - Les Passions de l´âme. Dt-frz. Hrsg. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1984, und Pascal, Blaise: Pensées. Edition établie d´après la copie de la référence de Gilberte Pascal, Paris 1986.
[23] vgl. Mironneau/Royer, a.O., S. 30.
[24] Ein Auszug des privilège du roi findet sich in: L´Abbé d´Aubignac: Dissertations contre Corneille. Edition critique par Nicolas Hammond et Michael Hawcroft, Exeter 1995, S. 146.
[25] Grimm, a.a.O., S. 142.
[26] ebda.
[27] ders., S. 158.
[28] Der Absolutismus ist zu Corneilles Zeit gerade dabei, sich zu etablieren. Jean Bodin hat in seinen 1576 erschienenen „Sechs Bücher über den Staat“ (ders., a.a.O.) diese Herrschaftsform theoretisch vorweg-genommen, Richelieu setzt ihn während seiner Ministerschaft durch und Louis XIV. lässt ihn verkommen, da er die Zurschaustellung der Macht mit deren Ausübung verwechselt. Dabei kaschieren sowohl das Theater als auch die Architektur und Malerei so geschickt die „Revolten des Adels [...und...] die soziale Unsicherheit des ‘Dritten Standes’“ (Eder, Klaus: Pierre Corneille und Jean Racine, Hannover 1969, S. 22, vgl. auch S. 23f bzgl. des politischen Chaos´),dass trotz der großen politischen Unruhen das 17. Jahrhundert als grand siècle gilt. Vor diesem Hintergrund erwähnt Rudolf von Albertini, dass trotz der realen Wirren „das politische Denken eine seltene Geschlossenheit [zeigt]“ (vgl. ders.: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus, Marburg 1951.) Und zwar bezüglich des Haupgedankens der Ordnung, wozu es eines Regelwerks bedarf, das sowohl Methode und Logik, als auch die doctrine classique umschließt. Bezüglich der Vernunft und der Wahrheit meldet sich dann auch René Descartes zu Wort. So wie sich Descartes` Schiften zuweilen wie eine Theorie des klassizistischen Dramas lesen, gilt es, die oben genannten Aspekte beim Verfassen eines solchen zu berücksichtigen. Somit wird Aristoteles´ Einheit von Zeit, Ort und Handlung (vgl. Fußnote 45 dieser Arbeit) bald durch die Einheit von „Logik, Wahrscheinlichkeit und Moral“ (Eder, a.a.O., S. 28) abgelöst, beziehungs-weise erweitert. Und so werden die Themen dieser Epoche der Antike entnommen, wo sich nicht nur große, absolute Herrscher finden lassen, sondern wo auch Klarheit, Ordnung und Vernunft als Handlungsmaßstäbe gelten. Dies zusammen genommen ergibt das Ideal für den honnête homme, das erstrebenswerte Vorbild des vornehmen Mannes (vgl. dazu bes. Kapitel 2.3 „Die doctrine classique “ dieser Arbeit.)
[29] Grimm, a.a.O., S. 158.
[30] vgl. Fußnote 47 dieser Arbeit.
[31] Krauss, a.a.O., S. 5.
[32] ders., S. 17.
[33] vgl. Kapitel 2 „ Le XVIIème siècle - Zeitliche Situierung“ dieser Arbeit.
[34] vgl. Fußnote 42 dieser Arbeit
[35] Aristoteles: Über die Dichtkunst. Neu übers. u. mit e. Einl. u. e. erklärenden Namen- und Sachver. vers. von Alfred Gudemann, Leipzig 1921.
[36] Grewe, Andrea: Die französische Klassik. Literatur, Gesellschaft und Kultur des 17.Jahrhunderts, Stuttgart 1998, S. 42.
[37] Boileau-Despreaux, Nicolas: L´Art Poétique. Hrsg., eingel. u. kommentiert von August Buck, München 1970.
[38] 1660 veröffentlicht. Dazu s.: L´Abbé d´Aubignac, a.a.O., S. XIIIff.
[39] Feb./März - Dez. 1637. Ein Abdruck der querelle findet sich z.B. in: Corneille. Œvres complètes, a.a.O., S. 779-829.
[40] Grewe, a.a.O., S. 42.
[41] Es ist wichtig zu unterscheiden, dass dieser Aspekt erst durch Richelieu der aristotelischen vraisemblance hinzugefügt worden ist. Denn nur durch diese berechnende Modifizierung des Kardinals gerät die Poetik in den Dienst des Staates.
[42] Grewe, a.a.O., S. 43.
[43] dies., S. 43.
[44] Es handelt sich um die Einheit von Handlung, Ort und Zeit eines Stückes. Dabei ist von Aristoteles eigentlich nur die Einheit der Handlung gefordert worden - die Einheiten der Zeit und des Ortes waren durch die grie-chische Aufführungspraxis bereits geregelt. vgl. Eder, a.a.O., S. 35.
Dies bezieht sich auf die dramaturgische Ebene eines Stückes.
[45] Dies bezieht sich auf die inhaltliche Ebene des Stückes.
[46] Den „Cid“ musste Corneille aufgrund der Einsprüche seitens der Académie française überarbeiten, so dass die geforderte aristotelische Einheit von Handlung, Ort und Zeit schließlich vorhanden war und auch keine Missachtung der bienséance mehr vorlag. vgl. z.B. Grimm, a.a.O., S. 160.
[47] Corneille scheint die Poetik von Aristoteles geradezu misszuverstehen. vgl. Magnien, Michel: Introduction, in: Aristote: Poétique, Paris 1990, S. 19-97, hier: S. 75-80.
bzgl. seiner Art, mit den drei Einheiten umzugehen: vgl. Scherer, Jürgen: La Dramaturgie classique en France, Paris 1986.
[48] Krauss stellt diesbezüglich auch fest: „Der Fall des ‘Cid’ und später die ‘Théodore’ verraten einen vollständigen Mangel [Corneilles] an Witterung für das, was politisch wünschenswert oder einfach gesellschaftlich tragbar war.“ (ders., a.a.O., S. 18.)
[49] vgl. Corneille. Œvres complètes, a.a.O., S. 839-843.
[50] Gaillard, a.a.O., S. 21.
[51] s. z.B.: T. Livi. Ab urbe condita. Liber primus. Tite-Live. Histoires. Livre I. Edition, introduction et commentaire de Jaques Heurgon, Paris 1970. In dieser Ausgabe befindet sich auf den Seiten 84-101 die Beschreibung des Konflikts zwischen Rom und Alba.
[52] Couton, Georges: Corneille, Nouvelle édition revue et corrigée, Paris 1958, S. 60.
[53] So konstatiert auch Münkler, dass der Staatsräson in einer kurzen und prägnanten Definition nicht nahe zu kommen ist. (vgl. ders., a.a.O., S. 269.)
[54] Die Souveräne des 17. Jhds. beziehen sich u.a. auf die Machttheorien von Machiavelli, vgl. ders., a.a.O., S. 216. Dazu vgl. auch Thuau, a.a.O., S. 33-102, bes. ab S. 48.
bzgl. Pontano und Machiavelli: vgl. Münkler, a.a.O., S. 165 und ders.: Macchiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M., 1995, S. 282ff.
[55] So wird in Frankreich der Begriff der Staatsräson häufig durch den des „Staatsinteresses“ ersetzt (vgl. Münkler. a.a.O., S. 261), wobei „Staatsinteresse eher für eine agressive Politik als [für] Staatsraison“ steht. (ebda., S. 262.) Auf diesen Aspekt der ungerechtfertigten, bzw. ungerechten Staatsräson arbeitet dieses Kapitel der vorliegenden Hausarbeit hin, um die hier verfolgte Möglichkeit einer kritischen Sichtweise von Corneilles „Horace“ zu untermauern.
[56] ders., a.a.O., S. 167.
[57] Anders gesagt ist die Staatsräson „die Kenntnis der Mittel und Maßnahmen [ ], die notwendig sind, einen Staat zu gründen, zu erhalten und zu vergrößern.“ (nach dem Anfang der Schrift von Botero, Giovanni: Della Ragion di Stato libri dieci, Venedig 1589. Neu hrsg. von Luigi Firpo: Classici Politici. Bd. 2, Turin 1948. vgl. Münkler, a.a.O., S. 169.), was auch bedeutet, nach innen das bestehende Recht zu brechen und nach außen die eigenen Interessen zu verfolgen.
[58] bzgl. der Definition des frühneuzeitlichen Souveräns s.: Bodin, a.a.O.
[59] Quaritsch, Helmut: Staatsraison in Bodins „République“. in: Schnur, Roman (Hrsg.): Staatsraison. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975, S. 43-63, hier S. 59.
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