Identität und Imagination. Zu einer Ästhetik des Politischen bei Rilke


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

20 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: Rilke und die Politik

2. Hauptteil: Zur ästhetischen Struktur des Politischen
2.1 Suche nach einer Urform des Sozialen
2.2 Alles oder Nichts: Vom Unsagbaren zum Sagbaren
2.2.1 Der Status des Signifikanten und die Ermöglichung des Diskurses
2.2.1.1 Jacques Derrida: Die supplementäre Metapher
2.2.1.2 Ernesto Laclau: Der leere Signifikant
2.2.1.3 Rainer Maria Rilke: Das Ding
2.2.2 Erlebnis und Schicksal: ‚Die Frage nach dem Einzelnen‘

3. Schluss: Rilke und das Politische

1. Einleitung: Rilke und die Politik

Rilkes Verhältnis zum Politischen scheint selbst ein Politikum zu sein. Hatte die Rilke-Forschung dieses Thema lange und gerne umgangen, und sich mit biografischen und zeitgeschichtlichen Hinweisen zufriedengegeben, sah sie sich spätestens in den 70er Jahren zunehmend bedrängt, Rilkes Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus zu erklären und damit „das sphärische Bild [des Autors und seines Werks] mit Eklat zu sprengen“[1]. Dies endete dann entweder in der bedingungslosen Ablehnung bestimmter Dichtungen als neo-konservativ, jeden Bezug auf das Soziale ablehnend,[2] oder aber in einer vehementen Rechtfertigung von Werk und Autor[3]. Dass dieser Gegenstand keineswegs erschöpft ist, zeigt nicht zuletzt die Kritik, die der 1992 von Joachim Storck herausgegebene Band „Briefe zur Politik“ widerfuhr.[4]

Allen Beiträgen gemeinsam ist die Behandlung des Themas als etwas Peripheres. Demnach wird meist strikt unterschieden zwischen einem poetischen und einem politischen Paradigma. Letzteres bleibt dabei stets randständig, nebensächlich, ersterem untergeordnet. Bezüglich des Nationalsozialismus’ herrscht der Grundtenor der Verlegenheit.

Demgegenüber will diese Arbeit das Politische als eine spezielle Kategorie eines allgemeineren Prinzips begreifen, was m.E. heißt , dass Rilkes Verständnis des Politischen als genuin ästhetisches zu bestimmen ist. Die Frage nach der Konstitution und Beschaffenheit des Politischen wäre dann nicht unabhängig von Rilkes poetischer Produktion und den daraus ableitbaren poetologischen Konsequenzen zu beantworten.

Die Aufgabenstellung muss es also sein, zu fragen, ob und wie in Rilkes Texten dem Charakter des Politischen eine ästhetische (vielleicht sogar poetische) Disposition zugrunde gelegt werden kann. In der Arbeit soll anhand einiger explizit politischer Stellungnahmen Rilkes zunächst versucht werden, die dort entwickelte Gründung und Figuration des Politischen nachzuzeichnen. Es wird dann nach den politischen, gesellschaftlichen (und nicht zuletzt ästhetischen) Prämissen und Konsequenzen zu fragen sein, mit denen ein solcher Entwurf einhergeht.

2. Hauptteil: Zur poetischen Struktur des Politischen

Ein wahrscheinlich 1919 abgefasstes Fragment Rilkes bildet den Ausgangspunkt der Suche nach einer Kategorie des Politischen. Hier unterscheidet der Autor zwischen zwei unterschiedlichen Figurationen des Zeitlichen: Einer „eigentlich[en] Welt-Stunde“[5] steht demnach „die politische Uhr“(ebd.) gegenüber. Während erstere vom Menschen nicht beeinflussbar und lediglich an ihren natürlichen Ablauf gebunden ist, können die „Zeiger“ der „politischen Uhr“ umgestellt werden. Politische Zeit ist etwas Gemachtes, Produkt kultureller Formatierung und Funktionalisierung. Sie relativiert und strukturiert den ansonsten gleichgültig sich ereignenden natürlichen Zeithorizont.[6] Von hier aus muss die Problematik noch einmal präzisiert werden. Demnach gilt es zu klären, wie in einen natürlichen Zeithorizont ein politisches Bewusstsein angesiedelt werden kann, wobei sowohl nach der Beschaffenheit als auch nach der Vermittlung desselben gefragt werden muss.

2.1 Suche nach einer Urform des Sozialen

In einem 1922 verfassten Brief an Margot Gräfin Sizzo-Noris-Crouy schreibt Rilke:

„Haben Sie gelesen mit welchen Worten kürzlich der Kaiser von Annam, Khai-Dinh, das Wesen des französischen Geistes neben dem seines Volkes ausgewogen [...] hat. Er sagte, in Paris: ‚Vous êtes une grande idée vivante, active, créatrice et féconde. Nous sommes une grande idée mélancolique et calme […]’ – ist’s nicht herrlich?Und wie wäre die Welt zu harmonisieren, wenn Völker sich einander so zugeben wollten, jedes zu seiner Art und der des anderen ehrfürchtig und staunend zugestimmt.“[7]

Augenfällig ist die Leidenschaftlichkeit, mit der sich hier politisches Bewusstsein als nationale Wesenhaftigkeit artikuliert. Sinngemäß existieren hiernach bestimmte originäre Muster metaphysischer Beschaffenheit, die nicht nur geeignet sind, die politische Verortung des Individuums zu organisieren sondern darüber hinaus die Stabilisierung und Harmonisierung jeder Form des Zusammenlebens garantieren können: Ideen, Wesenszüge, Arten. Die Konstitution des Politischen arbeitet der Erfüllung eines übersinnlich Vorgegebenen, Urtümlichen vermeintlich entgegen. Jedes vordergründige Abweichen vom ideell Vorhandenen, erschüttert das Gegebene keineswegs sondern bestätigt vielmehr dessen Geltung: „Übrigens versteh ich unter Revolution die Überwindung von Mißbräuchen zugunsten der tiefsten Tradition, [...]“[8]

Fragt man nach den Eigenschaften jenes Originären, scheint es so, als versage jegliche Möglichkeit der Beschreibung dieses Urzustands: „das Unbegreiflichste der Macht“[9], das „Unantastbare“[10] und die „große verschwiegene Idee“[11] verweigern einen semantischen Zugang zu ihrem Gegenstand. Die Frage nach einer Urform des Politischen, eben der Idee, rührt unmittelbar an die Frage nach dessen Gründung. Der Moment, in dem Menschen von einem Zustand des losen Nebeneinander in einen Zustand politischer Gemeinschaft gelangen, markiert „eine fundamentale Paradoxie: Jede sich auf sich selbst berufene Gemeinschaft muss im Moment ihrer Gründung schon gewesen sein, um als Gemeinschaft gelten zu können.“[12] Jede politische Ideologie, auch die Rilkes, muss demnach prinzipiell den Ursprung ihres gedanklichen Gehaltes immer neu rechtfertigen. Indem eine solche Fundierung zunächst als ‚unbegreiflich‘ und ‚verschwiegen‘ verweigert wird, ist ein Topos[13] aufgerufen, der den Horizont (hier: die Grenze zwischen Apolitischem und Politischem) als Ort beschreibt, der semantisch nicht begehbar ist.[14]

Trotzdem scheint diese Tatsache (nicht nur für Rilke) kein Grund zu sein, jede semantische Annäherung an den Gegenstand von vornherein abzulehnen. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, „in einem ‚Ding‘ das Unbegreiflichste der Macht sich rein zu erhalten“[15], spricht demnach vielmehr von der Aussicht, etwas von seinem Ursprung an Unzugängliches, nämlich die Schwelle des Politischen als ‚Idee‘, in einer bestimmten Weise ‚ding‘-fest zu machen:

„Der Horizont als Grenzphänomen ist [...] für die Regulation der Absenz zuständig, kraft derer die Zeichen des von ihm umschlossenen Wahrnehmungsfeldes eine semantische Spannung erhalten, in ein Gefälle von Verweisungen eingelegt und dadurch sinnträchtig werden.“[16]

Zu fragen ist im folgenden also nach der genauen Relation und Vermittlungsstruktur zwischen immateriellem, unaussprechlichem Gedankengut und gegenständlicher Manifestation.

2.2 Alles oder Nichts: Vom Unsagbaren zum Sagbaren

Unter Bezugnahme auf geschichtliche Konstellationen im Europa nach dem 1. Weltkrieg macht Rilke das Konzept des politischen Bewusstseins als Idee anschaulich. Während er für Deutschland und Österreich aus verschiedenen Gründen die Durchsetzung ihrer nationalen Idee bestreitet, spricht er sie einem anderen Staat zu:

„Ungarn müßte eine haben: denn sein Glauben an seine Krone, dieser stille, unbeirrliche Drang durch die Jahrhunderte hin, in einem ‚Ding‘ das Unbegreiflichste der Macht sich rein zu erhalten, kann nichts anderes sein, als eine große verschwiegene Idee; [...]“[17]

Hier wird eine mögliche Bedingung für das Vorhandensein nationalen Bewusstseins artikuliert. Demzufolge scheint die Vorstellung einer Idee des Sozialen eng an die Existenz symbolischer Formen gekoppelt zu sein. Im Falle Ungarns ist es die Stephanskrone, die die Anwesenheit und Nachweisbarkeit transzendentaler politischer Gehalte garantieren soll.

In welcher Beziehung stehen nun aber ‚Idee‘ und ‚Ding‘? In welchem (politischen oder ästhetischen) Sinn kann eine solche Verknüpfung einerseits begriffen, andererseits als Erfordernis einer gewaltlosen Gesellschaftsordnung relevant werden? Rilke selbst äußert eine mögliche Form der Beziehung, indem er die Stephanskrone als den „Akkumulator dieser ins Unantastbare und Gemeinsame hinein gesparten Kraft; [...]“[18] kennzeichnet. Die Möglichkeiten des Dings bestehen dann lediglich im Anhäufen, Sammeln und Speichern einer bestimmten Geschichte ideellen Sinns. Eine solche Auslegung greift in dreierlei Hinsicht zu kurz:

1. Das ‚Unbegreiflichste der Macht‘ erhält sich im Ding ‚rein‘. Während die Vorstellung einer Akkumulation die heterogene Aufsummierung kultureller Bruchstücke impliziert und „eine unstrukturierte Menge von Elementen, einen unsortierten Vorrat“[19], und damit alles andere als solch ein letztlich geordnetes Bedeutungsgefüge wie eine Idee produziert, scheint die Verbildlichung des Metaphysischen in der Krone für Rilke ohne inhaltlichen oder strukturellen Verlust einher zu gehen.

2. Entgegen einer Vorstellung der Repräsentation eines ‚Eigentlichen‘ auf ein ‚Uneigentliches‘, die das Ding als bloßes Objekt begreift, das wie ein Platzhalter fungiert, wird die Krone als Subjekt ihrer eigenen Ideengehalte verstanden: „‘sie [die Krone] denkt‘, es denkt in ihr wie in einem goldenen Haupte...“[20] Das Ding verkörpert dann eigenständig die in ihr liegende Merkmalsordnung und deren Transformation, ohne Rückgriff auf etwas Vorgängiges. Diese Autonomie der Krone geht mit Unnahbarkeit und nahezu erhabener Verehrung einher:

„Noch weiß ich die besondere Art Herzklopfen, die mich (vor so vielen Jahren! 1895, ich glaube,) in Pest überfiel, als Sie [sic!], die Krone, in den Festtagen der Millenniums-Feier, in ihrer eigenen Karosse ruhend, langsam, gegen Ofen hinauf an mir vorüberfuhr.“[21]

3. Stellt der Akkumulator immer nur einen gewissen Vorrat zur Verfügung, der an sich keinerlei Bedeutung stiftet und deshalb stets auf Anderes verweisen muss, organisieren sich die semantischen Einheiten in und durch die Krone selbst. Diese direkte Präsenz von Sinngehalten konstituiert das Ding als etwas, das von sich aus alle Bedeutung hervorbringt: „bei so viel Beziehung zum ‚Ding‘, zum gesteigerten, bedeutenden, zum endgültigen Ding, [...]“[22].

[...]


[1] Por, 152.

[2] Egon Schwarz schließt seine Arbeit streng unterweisend: „Was das Beispiel Rilkes sowohl den historisch wie den poetisch Orientierten lehrt, ist zumindest dies: daß eine Auffassung des Lebens und der Geschichte, die den Protest gegen das Menschenunwürdige ausschließt, der finstersten Interessenherrschaft den Weg ebnet.“ Das verschluckte Schluchzen, S. 110. Vgl. auch: Grimm: Von der Armut und vom Regen.

[3] Vgl. den Begleittext von J. Storck in: ’Rainer Maria Rilke. 1875-1975’. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. Stuttgart 1975. S. auch: Storck, Joachim: Politisches Bewußtsein bei Rilke. In: Ders. (Hg.): Rainer Maria Rilke. Briefe zur Politik. S. 697-725.

[4] Vgl. Por

[5] Rilke, Werke (XI, 1093). Im folgenden zitiere ich aus der Werkausgabe. Römische Ziffern bezeichnen den Band, arabische die Seitenzahl.

[6] In dieser Darstellung der Anfangspassage schließe ich mich Görner an.

[7] Rilke, BzP, 392.

[8] Ebd., 237

[9] Rilke, BzP, 392

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Bonacker, 143.

[13] Rilke selbst siedelt seine Vorstellung von einer begrifflich nicht zu schildernden politischen Urstruktur in einem imaginären Raum an: „ja daß mans – ach – zur Art bringe und, und in der Mitte der Art, zur ‚Idee‘!“ (Rilke, BzP, 392)

[14] Vgl. schon Kant, 294f.: „Die Realität unserer Begriffe darzutun werden immer Anschauungen erfordert. [...] Verlangt man gar, daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkanntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann.“ In literarischer Analyse vgl.: Koschorke, 7: „Der Horizont als landschaftlich-visuelles Phänomen entzieht sich [...] inhaltlichen und intentionalen Bestimmungen. Er ist nicht als symbolischer Schauplatz auslegbar. Er ist kein Gegenstand innerhalb des Gebiets der Empirie, der sich einer variationsfähigen ästhetischen Überformung anbietet [...].“

[15] Rilke, BzP, 392

[16] Koschorke, 8

[17] Rilke, BzP, 392

[18] Ebd.

[19] Assmann, 122

[20] Rilke, BzP, 392

[21] Rilke, BzP, 392

[22] Ebd., 393

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Identität und Imagination. Zu einer Ästhetik des Politischen bei Rilke
Hochschule
Universität Konstanz
Veranstaltung
Rilke - George - Hofmannsthal
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
20
Katalognummer
V48428
ISBN (eBook)
9783638451444
Dateigröße
757 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anhand unterschiedlicher Texte Rilkes wird eine ästhetische Begründung des Poltischen im Werk R. M. Rilkes nachgezeichnet und anhand theoretischer Modellbildungen (Derrida, E. Laclau) erläutert.
Schlagworte
Identität, Imagination, Politischen, Rilke, George, Hofmannsthal
Arbeit zitieren
Mirko Mandic (Autor:in), 2002, Identität und Imagination. Zu einer Ästhetik des Politischen bei Rilke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48428

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