Das Berufsvorbereitungsjahr. Ist die Kritik der mangelden Ausbildungsreife berechtigt?

Ein Vergleich von Theorie und Praxis


Masterarbeit, 2014

74 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Themenhinführung
1.1 Motivation
1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit

2. Das schulische Berufsvorbereitungsjahr
2.1 Historischer Abriss und Einordnung in das Übergangssystem
2.2 Aufbau und Ziele

3. Die Förderung der Ausbildungsreife als Gütekriterium des BVJ
3.1 Zur Problematik der mangelnden Ausbildungsreife Jugendlicher
3.2 Das schulische BVJ als Maßnahme gegen mangelnde Ausbildungsreife Jugendlicher
3.3 Das Konzept der Ausbildungsreife – Kriterienkatalog der Bundesagentur für Arbeit

4. Berufswahlreife als Dimension von Ausbildungsreife
4.1 Berufswahlreife im Kriterienkatalog
4.2 Berufswahlreife in der Literatur
4.2.1 Abgrenzung der Begriffsvielfalt
4.2.2 Das Berufswahlreifekonzept von D. E. Super
4.3 Theoretische Eingrenzungen in Bezug auf das Forschungsvorhaben

5. Das Berufsvorbereitungsjahr an der Praxisschule

6. Empirische Erhebung zur Förderung der Berufswahlreife an der Praxisschule
6.1 Methodenwahl
6.1.1 Das qualitative Interview
6.1.2 Erstellung des Interviewleitfadens
6.1.3 Sampling
6.2 Auswertung des Interviews
6.3 Ergebnisse der Untersuchung

7. Auswirkung der Ergebnisse auf die Berufswahlreife der BVJ-Schüler

8. Theorie- / Praxisvergleich und Abweichungen

9. Handlungsempfehlungen zur Förderung der Berufswahlreife von BVJ-Schülern
9.1 Förderung der Informationskompetenz
9.2 Förderung der Selbsteinschätzungskompetenz mit Realitätsorientierung

10. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Das Schwellenmodell

Abbildung 2: Brückenangebote der Berufsschule und Arbeitsagentur

Abbildung 3: Begriffsabgrenzung: Ausbildungsreife – Berufseignung - Vermittelbarkeit

Abbildung 4: Kriterienkatalog der Ausbildungsreife

Abbildung 5: Beurteilungsablauf des Merkmalsbereichs Berufswahlreife

Abbildung 6: Theoretische Eingrenzung

Abbildung 7: Ergebnisse der empirischen Erhebung (Strukturskizze)

Abbildung 8: Theorie- / Praxisvergleich

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Themenhinführung

1.1 Motivation

Nicht allen Jugendlichen gelingt heutzutage der fließende Übergang von der allgemeinbilden- den Schule in das duale Ausbildungssystem. Davon betroffen sind überwiegend Absolventen der Hauptschule, denn trotz zahlreicher Bewerbungen finden sie keinen Ausbildungsplatz. Die Gründe sind, zumindest aus Arbeitgebersicht, offensichtlich: Den Jugendlichen fehlt es zunehmend an Ausbildungsreife. Insbesondere soziale und personale Kompetenzen wie bei- spielsweise Zuverlässigkeit, Verantwortungsbereitschaft oder Teamfähigkeit werden neben den schulischen Leistungen dabei als mangelhaft eingestuft, weshalb Unternehmen keine pas- senden Auszubildenden unter den Bewerbern mehr finden (Buchholz & Straßer, 2007, S. 9-10).

Jugendliche, die sich auf dem Lehrstellenmarkt letztendlich absolut nicht bewähren konnten und zum 1. September noch keinen Ausbildungsplatz aufweisen können, unterliegen trotzdem noch der Schulpflicht. Sie werden deshalb vom sogenannten Übergangssystem, das in den verschiedensten Varianten angeboten wird und in den Institutionen der Berufsschule integriert ist, aufgefangen. Zwar war die Zahl der Jugendlichen, die keine Lehrstelle gefunden haben, in den letzten Jahren etwas rückläufig, trotzdem waren es im Schuljahr 2012/13 immer noch 10 % der Neuzugänge an den Berufsschulen und Berufsfachschulen in Bayern, die ein angebote- nes Übergangssystem besuchten. Dies entspricht einer absoluten Zahl von ca. 11500 Schü- lern1 (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München [ISB], 2013, S. 7). Neben dem Absitzen der Schulpflicht sollen im Übergangssystem die Wissenslücken dieser Schüler geschlossen und deren Defizite bereinigt werden, sowie eine Vorbereitung auf eine zukünftige Ausbildung erfolgen, um ihre Chancen nach einem Jahr auf dem Ausbildungs- markt zu erhöhen (Bundesministerium für Bildung und Forschung [BMBF], 2008, S. 31).

Das wohl bekannteste Angebot des Übergangssystems ist das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ). Im Schuljahr 2010/2011 waren ca. 20 % aller im Übergangssystem befindlichen Schüler im BVJ untergebracht (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München [ISB], 2012, S. 127-129). Obwohl das BVJ oft dahingehend kritisiert wird, dass es für Jugendliche lediglich als Auffangbecken dient, um sie nicht sofort in die Arbeitslosigkeit zu schicken (Kaiser, 2011, S. 98), liegt die Intention des BVJ trotzallem darin, Jugendliche ohne Ausbil- dungsplatz auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten. Ferner wird oft debattiert, dass die Beschulung der Jugendlichen in einem Berufsvorbereitungsjahr eine nicht optimale Lernsitua-tion darstellt und eine sich in diesem Jahr einzustellende Ausbildungsreife, die als Gütekrite- rium und Ziel dieser berufsvorbereitenden Maßnahme gesehen wird, trotzdem nicht eintritt (Borsdorf et al, 1999, S. 12-13).

Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt ist letztlich immer: Woran liegt es, dass Jugendliche nach dem Besuch des BVJ immer noch nicht reif genug sind? An den Schulen und dem Konzept BVJ? An den Schülern selbst? An dem sozialen Umfeld der Schüler? Diese Frage ist pauschal schwer zu beantworten. Wahrscheinlich verbirgt sich die Antwort ein Stück weit in jeder Kategorie.

Der Fokus dieser Arbeit richtet sich aber ausschließlich auf den Bereich Schule bzw. das Konzept „BVJ“. Um den Schülern ein optimales Förderkonzept im Rahmen des BVJ zu bie- ten, in welchem sie die für den Einstieg in das Berufsleben erforderlichen Kompetenzen nachholen können, dadurch die Ausbildungsreife attestiert bekommen und letztlich einen Ausbildungsplatz erhalten, lohnt es sich, das BVJ hinsichtlich seines Gütesiegels Förderung der Ausbildungsreife näher zu betrachten. Anhand einer Praxisschule soll in diesem Zusam- menhang überprüft werden, ob das BVJ-Angebot der Praxisschule den theoretischen Ansprü- chen zur Erlangung einer Ausbildungsreife genügt. Eine detaillierte Beschreibung der Zielset- zung, Vorgehensweise und Aufbau dieser Arbeit erfolgt im nächsten Kapitel.

1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit

Vor dem Hintergrund oben beschriebener Kritik der mangelnden Ausbildungsreife an die heu- tigen Schulabsolventen bzw. Lehrstellenbewerber und der zum Teil scharfen Verurteilung der Übergangsmaßnahme BVJ und deren Ziel Förderung der Ausbildungsreife ergibt sich die Notwendigkeit, das BVJ an einer Praxisschule hinsichtlich deren Förderkonzept zur Erlan- gung der Ausbildungsreife zu untersuchen. Dies ermöglicht einen Vergleich zwischen den theoretischen Ansprüchen und der praktischen Umsetzung.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist somit die Ausarbeitung eines Theorie-/Praxis- Vergleiches in Bezug auf die Förderung der Ausbildungsreife an einer Praxisschule.

Nach einem kurzen historischen Abriss zum Thema Berufsvorbereitungsjahr und der Einord- nung des BVJ in die zum Teil unübersichtliche Vielfalt der Maßnahmen im Übergangssystem, wird der Aufbau des BVJ und dessen Ziele beschrieben. Die Erläuterungen beziehen sich da- bei immer auf das Bundesland Bayern.

Für einen umfassenden Soll- / Ist-Vergleich wird aus den Zielen des BVJ das meiner Ansicht nach wichtigste Ziel, die Förderung der Ausbildungsreife, als Gütekriterium des BVJ heran- gezogen.

Anschließend wird ein kurzer Einblick in das Themengebiet der mangelnden Ausbildungsrei- fe heutiger Schulabsolventen gegeben. Hierzu gehören zum einen die Vielfalt der Kritikäuße- rungen gegenüber der Jugend und der Streitpunkt zwischen Unternehmen und Gewerkschaf- ten. Zum anderen wird darauf eingegangen, dass das schulische BVJ für Schüler, die in den allgemeinbildenden Schulen die Ausbildungsreife noch nicht erlangen konnten, als Maßnah- me zur nachträglichen Vermittlung von Ausbildungsreife dienen soll.

Aufgrund der Vielfalt der Definitionen zur Ausbildungsreife wird in der vorliegenden Arbeit Ausbildungsreife nach dem Kriterienkatalog der Bundesagentur für Arbeit als Grundlage he- rangezogen. Dieser wird anschließend ausführlich erläutert.

Ausbildungsreife, so wie sie nach dem Kriterienkatalog definiert ist, besteht aus fünf Dimen- sionen. Alle Dimensionen wurden wiederum in Items heruntergebrochen. Da es über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen würde, einen Praxisvergleich in jeder Dimension durchzu- führen, wird im vorliegenden Werk lediglich die Dimension „Berufswahlreife“ näher betrach- tet. Hierzu erfolgt eine detaillierte Beschreibung darüber, was nach Definition des Kriterien- katalogs unter Berufswahlreife verstanden wird sowie was die Literatur diesbezüglich defi- niert. Aus literarischer Sicht ist vor allem das auf Donald E. Super zurückzuführende Berufs- wahlreifekonzept prägend. Da zwischen der Ansicht im Kriterienkatalog zur Berufswahlreife und dem Berufswahlreifekonzept von Super Überschneidungen zu finden sind, werden beide Theorien zu einer verknüpft und als Rahmen für die empirische Erhebung an der Praxisschule verwendet.

Nach einer kurzen Beschreibung des BVJ an der Praxisschule folgen die Erläuterungen zur empirischen Erhebung. Mittels eines leitfadengestützten Interviews wird untersucht, welche Instrumente die Praxisschule explizit für die Förderung der Berufswahlreife von BVJ- Schülern anbietet.

Anschließend werden die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Wirkungsweise zur Förderung der Berufswahlreife erläutert. Im letzten Kapitel werden die Abweichungen zwischen den theore- tischen Soll-Ansprüchen und den tatsächlichen Angeboten dargestellt, um daraus anschlie- ßend durch Handlungsempfehlungen die Lücken der Praxisschule zu füllen, aber auch ergän- zende bzw. alternative Vorschläge für das Förderkonzept zu geben.

2. Das schulische Berufsvorbereitungsjahr

2.1 Historischer Abriss und Einordnung in das Übergangssystem

Die ersten Züge, die an das heutige Berufsvorbereitungsjahr erinnern, gab es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts. Zwar waren diese Bildungsgänge unter anderen Namen bekannt, z. B. „Erwerbslosenklassen“ oder „berufsbetonte Übergangsklassen“, von der Struktur und den Inhalten lassen sich jedoch einige Parallelen zum heutigen BVJ ziehen. Inhaltlich konzentrier- ten sich die früheren Formen des BVJ auf die Vermittlung sowohl allgemeinbildender als auch berufsbildender Kenntnisse. Wie bereits aus der Bezeichnung ersichtlich ist, waren diese eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme, um auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu reagieren. Eine weitere Parallele zum heutigen BVJ ist, dass auch damals durch Zusammen- arbeit des Jugend- und Arbeitsamtes mit den Schulen und den Betrieben versucht wurde, Ju- gendliche, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gefunden haben, im Bildungssystem aufzufangen und ihnen weiterhin eine Möglichkeit zur Bildung zu verschaffen. Auch lassen sich zur Zeit der Weimarer Republik in den diversen Übergangsformen bereits Differenzie- rungsangebote gegenüber den Jugendlichen erkennen. So wurden beispielsweise für Jugendli- che mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen gezielte Deutschkurse angeboten (Schroeder & Thielen, 2009, S. 43-46).

Nach und nach rückte die schulische Berufsbildung in der Zeit des Nationalsozialismus im- mer mehr in den Hintergrund und musste zugunsten einer überwiegenden Berufsausbildung in den Betrieben letztlich weichen. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit wurde jetzt nicht mehr mit weiterführenden Bildungsangeboten der Schule behoben, stattdessen wurde die Ju- gend zu Arbeitsdiensten verpflichtet (Schroeder & Thielen, 2009, S. 49). Auch in der späteren DDR gab es aufgrund einer Ausbildungspflicht keine dem BVJ ähnelnden Übergangsform (Schroeder & Thielen, 2009, S. 49).

Im Gegensatz dazu räumte die BRD den Jugendlichen zwar im Rahmen des Grundgesetzes freie Ausbildungs- Arbeitsplatz- und Berufswahl ein, garantierte ihnen aber kein grundsätzli- ches Recht auf Ausbildung. Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule war hier stark abhängig von der konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft und dem Bedarf an Ausbil- dungs- und Arbeitskräften, wodurch die schulische Berufsbildung wieder aufblühte. Wegen dem erneuten Druck der Jugendarbeitslosigkeit führten zwischen Mitte und Ende der 70er Jahre fast alle Bundesländer erstmals das Berufsvorbereitungsjahr ein (Schroeder & Thielen, 2009, S. 54). Die Konzeption des BVJ entwickelte sich allerdings in den elf Bundesländern unterschiedlich. In Bayern wurde das BVJ als Ausdifferenzierung des Berufsgrundschuljahres unter dem Namen BGJ Zug J eingeführt (Schroeder & Thielen, 2009, S. 59; Stender, 2006, S. 20). Im BGJ erhielten Schüler eine Grundbildung für das von ihnen speziell gewählte Berufs- feld. Schüler, die allerdings noch nicht in der Lage waren sich für eine berufliche Richtung zu entscheiden, besuchten somit das BVJ. Dessen Ziel war es, die Berufswahlreife der Jugendli- chen zu fördern. Nach Abschluss des Berufsvorbereitungsjahres erhielten die Teilnehmer den Jungarbeiterstatus und waren von der Berufsschulpflicht befreit (Stender, 2006, S. 19-21). In den 70er Jahren hatte das BVJ somit eher eine arbeitsmarktpolitische Funktion.

In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich das BVJ im Schulwesen fortan weiter. Parallel etablierte sich aus einem zufälligen Förderprogramm heraus ein neues Konzept mit großer Wirkung: die sozialpädagogisch orientierte Berufsvorbereitung / berufliche Benachteiligten- förderung durch die Bundesagentur für Arbeit. Problem der außerschulischen Variante war allerdings, dass sich die schulische und die arbeitsrechtliche Berufsvorbereitung in der Ziel- gruppe und den Inhalten überschnitten haben und vor allem die Rolle der Berufsschule ungek- lärt blieb. Dadurch wurden Forderungen nach einer klaren Regelung immer lauter (Schroeder & Thielen, 2009, S. 63-67). Fortan entwickelte sich das schulische BVJ in allen Bundeslän- dern unterschiedlich weiter. In Bayern wurde das BVJ als regulärer Bildungsgang und dauer- haftes Angebot an beruflichen Schulen schließlich am 31.05.2000 erlassen (Schroeder & Thielen, 2009, S. 72-74). Auch die Arbeitsagentur passte nach und nach ihr Angebot der Ar- beitsmarktlage und den Bedürfnissen der Jugendlichen an (Dressel & Plicht, 2006, S. 50).

Damit über das gegenwärtige Konstrukt der schulischen und außerschulischen Berufsvorbe- reitungsmaßnahmen, welche heute z. T. als eher unübersichtlich eingestuft werden, ein Über- blick geschafft werden kann, ist es sinnvoll, das Übergangssystem zunächst in das in der Lite- ratur häufig diskutierte Schwellenmodell einzugliedern. Dieses besteht aus zwei Schwellen. Die erste Schwelle stellt charakterisierend den Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung dar, die zweite Schwelle dagegen bildet den Übertritt von der Berufs- ausbildung in die Erwerbstätigkeit. Während sich die zweite Schwelle häufig wegen schlech- ter Arbeitsmarktlage ergibt, ist das Kennzeichen der ersten Schwelle vor allem die fehlende Berufsorientierung und die Schwierigkeit der Schulabsolventen, den Anforderungen der Be- rufswelt gerecht zu werden (Erban, 2010; S. 85; Schroeder & Thielen, 2009, S. 23-24). In dieser ersten Übergangsphase können berufsorientierte Brückenangebote eine Hilfefunktion bieten, weshalb sie an dieser Stelle zum Einsatz kommen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Das Schwellenmodell

(Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Erban, 2010, S. 85)

Aufgrund des bereits oben thematisierten Problems der Jugendarbeitslosigkeit und der unzu- reichenden Nachfrage nach Auszubildenden haben sich an der ersten Schwelle etliche Formen der berufsorientierten Brückenangebote in Deutschland etabliert, die im Folgenden über- blicksartig dargestellt werden (siehe Abbildung 2). Wegen der unterschiedlichen Handhabung des Übergangssystems in Deutschland liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit allerdings nur auf dem Bundesland Bayern.

Die berufsorientierten Brückenangebote zielen auf Schulabgänger aus allgemeinbildenden Schulen, die sich noch für keine berufliche Richtung entschieden haben. Diese Maßnahmen an der ersten Schwelle können in schulische und außerschulische Berufsvorbereitungsmaß- nahmen unterschieden werden, wobei die schulischen Angebote von Berufsschulen und die außerschulischen Maßnahmen von der Bundesagentur für Arbeit angeboten werden. Für die von der Bundesagentur für Arbeit konzipierten Maßnahmen übernimmt diese auch die Lehr- gangskosten und zahlt Berufsausbildungsbeihilfen (Dressel & Plicht, 2006, S. 48). Eine weite- re Differenzierungsmöglichkeit, wie sie auch in Abbildung 2 erfolgt, ist die Unterteilung der Angebote des Übergangssystems in berufsvorbereitende und berufsqualifizierende Maßnah- men und Angebote, die zu einer einschlägigen Berufsausbildung führen. Wie aus der Grafik ersichtlich ist, sind die beiden Formen des BVJ als berufsvorbereitende Maßnahmen anzuse- hen, die durch die Berufsschule organisiert werden (Staatliche Schulberatung in Bayern, o. D.). Da sich die vorliegende Arbeit ausschließlich mit diesen beiden Maßnahmen beschäftigt, erfolgt im nächsten Kapitel eine genauere Beschreibung des BVJ.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2 Aufbau und Ziele

Im Bereich der schulischen Übergangsmaßnahmen an der ersten Schwelle ist das BVJ die zentrale und häufigste Form der Brückenangebote. Im Schuljahr 2010/11 besuchten ca. 20 % der Schüler im Übergangssystem der Berufsschulen in Bayern das schulische BVJ. Dies ent- spricht einer absoluten Teilnehmerzahl von knapp 2900 Schülern (Staatsinstitut für Schulqua- lität und Bildungsforschung München [ISB], 2012, S. 128). Es richtet sich überwiegend an Schüler, die nach der Hauptschule keinen Abschluss erzielt und / oder in Bezug auf ihren Be- rufswunsch noch keine Vorstellung haben. Da die Gestaltung schulischer Bildungsgänge in der Bundesrepublik Deutschland „Ländersache“ ist, unterscheidet sich die Konzeption des BVJ in vielen Bundesländern (Erban, 2010; S. 61-62). In Bayern werden zwei Möglichkeiten, das kooperative BVJ (BVJ / k) und das vollzeitschulische BVJ (BVJ / s), angeboten.

Kennzeichnend für das kooperative BVJ ist, dass eine Beschulung durch die Berufsschulen lediglich an zweieinhalb Tagen in der Woche stattfindet, in denen die Schüler einen Einblick in fachtheoretische Inhalte bekommen. Die restlichen zweieinhalb Tage erhalten die Schüler eine fachpraktische Ausbildung bei Kooperationsunternehmen. Die Teilnahme am BVJ / k erfolgt ein Jahr lang. Außerdem orientiert sich das BVJ / k bereits an ausgewählten Berufsfel- dern wie z.B. Wirtschaft oder Gastronomie (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus [KM Bayern], 2012, S. 13; Staatliche Schulberatung in Bayern, o. D.).

Im Gegensatz dazu findet das vollzeitschulische BVJ ausschließlich in der Schule statt, d. h. Theorie und Praxis werden ebenfalls ein Jahr lang an fünf Tagen der Woche durch die Berufs- schule vermittelt (KM Bayern, 2012, S. 13; Staatliche Schulberatung in Bayern, o. D.). Mit ca. acht bis 16 Schülern wird versucht, die Klassengröße dabei relativ klein zu halten. Bei der Klassenzuteilung wird darauf geachtet, möglichst homogene Klassen zu bilden. Die Lern- gruppen setzen sich deshalb häufig nach gewissen Kriterien wie beispielsweise Migrations- hintergrund, Sprachkenntnisse bzw.-defizite, schulische Voraussetzungen und Arten der Be- nachteiligung zusammen (Borsdorf et al, 1999, S. 12-13; Schroeder & Thielen, 2009, S. 75- 77). An den bayerischen Berufsschulen ist das BVJ so konzipiert, dass die Schüler Einblick in ein bis zwei Berufsfelder erhalten und sich noch nicht auf einen Ausbildungsberuf festlegen. Dabei wird die vermittelte Theorie mit praktischer Umsetzung im Rahmen von Betriebsprak- tika und Schulwerkstätten verbunden (BMBF, 2008, S. 31). Hinter den meist mehrwöchigen Blockpraktika steht insbesondere die Intention der Ausbildungsplatzakquise. Die Schüler sol- len die Möglichkeit bekommen, sich bei den freien Trägern verantwortungsbewusst zu präsentieren und dadurch möglicherweise einen Ausbildungsplatz zu erlangen (Buchholz & Stra- ßer, 2007; S. 12-13).

In Bayern, so wie auch in einigen anderen Bundesländern, sind für das BVJ keine expliziten Lehrpläne erlassen worden. Der Unterricht orientiert sich an sogenannten Stundentafeln. Das schulische BVJ umfasst hier insgesamt 34 Wochenstunden, die sich zu je 16 Stunden in all- gemeinbildenden Unterricht und Praxisunterricht (Praktika oder Schulwerkstätten) gliedern. Zwei weitere Stunden sind für einen Ergänzungsunterricht vorgesehen (BMBF, 2008, S. 31; Schroeder & Thielen, 2009, S. 84-88). Außerdem werden Schüler in BVJ-Klassen während dieses Jahres sozialpädagogisch betreut (Beicht, 2009; S. 2). Dies kann durch Einzel- oder Gruppenangebote erfolgen und hat zum einen den Zweck, die Schüler bei der Vorbereitung auf die künftige Ausbildung und das Berufsleben zu unterstützen. Zum anderen bietet die so- zialpädagogische Betreuung den Jugendlichen eine Hilfestellung für individuelle Probleme (Buchholz & Straßer, 2007, S. 13).

Hinsichtlich der Zielgruppe des BVJ gibt es verschiedene Meinungen. Wie bereits erwähnt, definiert das Kultusministerium in Bayern (2012, S. 13) als Zielgruppe Jugendliche, die bei der Berufsorientierung noch Schwierigkeiten aufweisen, d. h. das BVJ richtet sich vor allem an noch nicht ausbildungsreife Jugendliche. Betrachtet man allerdings das Konzept und die einzelnen Instrumente des BVJ genauer, so werden durch die berufsvorbereitenden Maßnah- men weitere Zielgruppen angesprochen. Eine Untersuchung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung zeigt, dass sich weitere Zielgruppen herauskristallisieren. So wird ein Zusammenhang zwischen schlechten Noten der Schüler in der vorher besuchten allgemeinbil- denden Schule und dem anschließenden Besuch des BVJ festgestellt und daraus die Zielgrup- pe der Jugendlichen mit schlechten Noten abgeleitet (BMBF, 2008, S. 31-32). Die unter- durchschnittlichen Noten könnten dabei entweder aus Mangel an Motivation, aber auch aus Lernschwierigkeiten resultieren, woraus sich wieder zwei weitere Teilnehmergruppen diffe- renzieren lassen (Erban, 2010, S. 61-62).

Allerdings wird deutlich, dass durchaus auch Teilnehmer mit guten Noten im BVJ vertreten sind. Dies deutet darauf hin, dass das BVJ eine Versorgungsfunktion für Schulabsolventen einnehmen kann, die zwar einen guten Abschluss aufweisen und eine Berufsausbildung ans- treben, wegen des schlechten Lehrstellenmarktes aber keinen Ausbildungsplatz, der ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht, gefunden haben (BMBF, 2008, S. 31). Diese Zielgrup- pe führt auch Erban (2010, S. 61-62) auf und verweist zusätzlich darauf, dass davon meist Schulabsolventen mit gutem Hauptschulabschluss betroffen sind. Der Kategorie „nicht aus-bildungsreife Jugendliche“ können ebenfalls Jugendliche mit Migrationshintergrund zugeord- net werden, da sie häufig aufgrund ihrer Migrationsgeschichte und den Sprachdefiziten För- derbedarf aufweisen. Auch diese Zielgruppe wird überwiegend vom schulischen BVJ aufge- fangen (BMBF, 2008, S. 31). Mit dem erfolgreichen Besuch des BVJ wird der Hauptschulab- schluss erreicht. Einige Schulen bieten ihren BVJ-Schülern sogar den Erwerb eines qualifizie- renden Hauptschulabschlusses an. Aus diesem Grund können als weitere Zielgruppe Jugend- liche zugeordnet werden, die in der allgemeinbildenden Schule keinen Hauptschulabschluss erlangt haben und diesen im BVJ nachholen möchten bzw. den qualifizierenden Hauptschul- abschluss erreichen wollen. Des Weiteren finden sich in BVJ-Klassen auch Schüler, die ei- gentlich schon in einer Berufsausbildung waren, diese aber frühzeitig abgebrochen haben (Er- ban, 2010, S. 61-62).

Eine weitere Zielgruppe des BVJ lässt sich vor dem Hintergrund der Vollzeit- und Berufs- schulpflicht in Bayern erkennen. Aufgrund der unterschiedlichen Länderspezifika wird hier nur das Bundesland Bayern herangezogen. An die neunjährige Vollzeitschulpflicht schließt automatisch die dreijährige Teilzeit-Berufsschulpflicht an, sodass in Bayern grundsätzlich eine zwölfjährige Schulpflicht vorgeschrieben wird (Art. 35 BayEUG). Für Jugendliche, die sich in einem Berufsausbildungsverhältnis befinden, endet die Schulpflicht nach Beendigung dieser Ausbildung (Art. 39, Abs. 1, 2 BayEUG). Schulabsolventen der allgemeinbildenden Schule, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, sind trotzdem noch berufsschulpflich- tig. Hier greift Art. 39, Abs. 3, Nr. 4 BayEUG und besagt, dass für diese Schüler die Schul- pflicht endet, wenn sie das Berufsvorbereitungsjahr oder das Berufsgrundbildungsjahr erfolg- reich besucht haben. In solchen Fällen wird u. a. das BVJ zu einem Muss für die Zielgruppe der noch schulpflichtigen Jugendlichen. Nach diesem Jahr sind sie allerdings nicht mehr ver- pflichtet, staatliche Bildungsmaßnahmen zu besuchen, es sei denn sie gehen nach dem BVJ ein Ausbildungsverhältnis ein. Dadurch lebt die Teilzeit-Berufsschulpflicht wieder auf (Schroeder & Thielen, 2009, S. 75-77; Stender, 2006, S. 21).

Mit dem Berufsvorbereitungsjahr werden unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt. Das wohl wichtigste und in Wirtschaft und Literatur am häufigsten debattierte Ziel ist die Förderung und Erlangung der Ausbildungsreife und Berufswahlreife, welches auch in dieser Arbeit schwerpunktmäßig behandelt wird.

Da das Berufsvorbereitungsjahr, wie es der Name schon sagt, auf die zukünftige Berufswelt vorbereiten soll, ist ein weiteres Ziel, den Schülern berufsfeldbezogene Kenntnisse zu vermit- teln und somit einen stärkeren Bezug zur Arbeitswelt herzustellen. Da die Schüler bis zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Erfahrungen in der Berufswelt haben, ist die Aufgabe des BVJ, die berufliche Perspektive in die Lebenswelt der Schüler zu integrieren.

Im Rahmen des schulischen Erziehungsauftrages wird auch die Stärkung und Stabilisierung der Persönlichkeit der Schüler als Zielvorgabe definiert.

Da Jugendliche das BVJ häufig ohne einen Abschluss aus einer allgemeinbildenden Schule beginnen, wird ferner das Nachholen eines Hauptschulabschlusses als mögliches Ziel genannt (Borsdorf et al, 1999, S. 12-13; Staatliche Schulberatung in Bayern, o. D.).

Bereits bei der Analyse der Zielgruppen des BVJ wurde darauf hingewiesen, dass das BVJ möglicherweise eher eine Versorgungsfunktion für Jugendliche darstellt, die eigentlich eine Berufsausbildung anstreben, aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlage aber keinen Ausbil- dungsplatz finden. Ziel und Funktion des BVJ ist deshalb auch, diesen Jugendlichen eine Überbrückungsmöglichkeit bis zum Einstieg in eine Berufsausbildung zu verschaffen (Beicht, 2009; S. 13).

Im Folgenden wird das Ziel Förderung der Ausbildungsreife als Gütekriterium des BVJ näher betrachtet und untersucht.

3. Die Förderung der Ausbildungsreife als Gütekriterium des BVJ

3.1 Zur Problematik der mangelnden Ausbildungsreife Jugendlicher

Das Themengebiet der Ausbildungsreife ist in der heutigen Zeit als ein umstrittenes und viel diskutiertes Thema einzustufen. Ein einziges Wort entfachte in den letzten Jahren heftige De- batten über mangelnde Ausbildungsreife Jugendlicher und spaltete die Meinungen im Bil- dungssystem in zwei Hälften, die Eberhard (2007, S. 23-24) durch zwei Zitate gut verdeut- licht:

„Es liegt immer nur an uns, dass wir arbeitslos sind: ‚Wir sind faul.‘ Wenn die Betriebe sich mal mit einem Hauptschüler zufrieden geben würden und/oder wenigstens jedem Schüler we- nigstens nur mal eine Chance geben würden, sich zu beweisen! Aber nein! ‚Ja, wir sind dumm und asozial.‘ “ (20jährige bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldete Lehrstellenbewerberin, erweiterter Realschulabschluss, arbeitslos, schrieb über 100 Bewerbungen)

„Es kann nicht sein, daß immer die Unternehmen verantwortlich gemacht werden, wenn et- was schief läuft. (…) Immer wieder wird behauptet, nur jedes zweite ausbildungsfähige Un- ternehmen bilde auch tatsächlich aus. (…) Firmen an den Pranger? So geht das wirklich nicht weiter. Ich bin es leid!“ (Gerd Pieper, Präsident der Industrie- und Handelskammer Bochum, in ei- nem Interview mit der „Welt am Sonntag“ am 16. Juli 2006)

Im Kern beschäftigt sich die Debatte mit der Tatsache, dass viele Jugendliche, keinen Ausbil- dungsplatz finden. Vor allem Absolventen der Hauptschule sind hier überwiegend betroffen und tun sich schwer, den Übergang von der Schule in eine Ausbildung zu schaffen (Kohl- rausch & Solga, 2012, S. 753). Ungeklärt sind allerdings die Gründe dafür. Arbeitgeber- und Arbeitnehmermeinungen gehen hier weit auseinander.

Die Wirtschaft begründet die Problematik mit der mangelnden Ausbildungsreife der heutigen Jugend und sieht das Kernproblem somit bei den Schulabsolventen. Arbeitgeber zeigen zwar zukünftig einen hohen Bedarf an Fachkräften auf, können aber wegen Grundbildungsdefiziten seitens der Jugendlichen keine geeigneten Kandidaten für ihre Ausbildungsplätze finden. Den Bewerbern fehlt es dabei häufig an Verantwortungsbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Team- fähigkeit sowie Sozialkompetenz. Freie Lehrstellen bleiben wegen der mangelnden Ausbil- dungsreife der Jugendlichen vor allem bei kleineren Unternehmen deshalb häufig unbesetzt, da diese weniger Ressourcen zur Verfügung haben und sich „Fehlbesetzungen“ nicht leisten können. Ausbildungsplätze werden dadurch gar nicht erst angeboten (Buchholz & Straßer, 2007, S. 9-10; Klein & Schöpper-Grabe, 2012, S. 50; Eberhard, 2006, S. 12-15). Aufgrund der (Ausbildungs-) Vertragsfreiheit haben Unternehmen das Recht, selbst zu entscheiden, welche Bewerber sie als zukünftige Auszubildende einstellen, wodurch eine Art „Auslese“ stattfindet, in der Jugendliche mit mangelnder Ausbildungsreife aussortiert werden (Dobi- schat, Kühnlein & Schurgatz, 2012, S. 17).

Den Grund, warum sich der Übergang für Jugendliche von der Schule in die Ausbildung so problematisch gestaltet, sieht die Arbeitnehmerseite, also die Gewerkschaften, woanders. Eberhard (2006, S. 12-15) erläutert dazu, dass die Beschwerden über die angeblich fehlende Ausbildungsreife immer dann lauter werden, wenn die Lehrstellennachfrage das Lehrstellen- angebot übersteigt. Den Jugendlichen wird somit der „schwarze Peter“ zugeschoben, indem ihnen vorgeworfen wird, dass ihr Leistungsniveau und somit die Ausbildungsreife nachgelas- sen habe. In Wirklichkeit verbleiben so viele Schulabsolventen ohne Ausbildung aufgrund des Marktversagens, da weniger Ausbildungsplätze angeboten werden. Die Gegenseite fordert deshalb, sich nicht ständig auf die Ausbildungsreife Jugendlicher zu fokussieren, sondern auch die Ausbildungsfähigkeit der Betriebe zu überprüfen, da die Lehrstellenmisere auf die gesunkene Ausbildungsbereitschaft der Betriebe zurückzuführen ist (Dobischat et al., 2012, S. 21; Eberhard, 2006, S. 12-15). Außerdem könne von Bewerbern, die frisch aus der Schule kommen, noch keine volle Ausbildungsreife verlangt werden. Diese stellt sich meist erst wäh- rend der Berufsausbildung ein (Severing, 2010, S. 95).

Zwar ist das Thema der mangelnden Ausbildungsreife der Jugendlichen in Wirtschaft und Politik auch heute noch hoch umstritten, allerdings bewegen sich die Meinungen mittlerweile eher Richtung Arbeitgeberseite. Obwohl natürlich bei dieser Thematik generell nicht von al- len Jugendlichen die Rede sein kann, ist die Mehrheit mittlerweile der Meinung, dass es den jungen Leute zwar nicht unbedingt an einer allgemeinen Bildung fehlt, da diese in den allge- meinbildenden Schulen vermittelt wurde, sie aber dennoch nicht bereit sind für die nächste Stufe, nämlich die berufliche Ausbildung (Dobischat et al., 2012, S. 20).

Gestützt wird die Kritik der mangelnden Ausbildungsreife durch Ergebnisse zahlreicher empi- rischer Untersuchungen. Die aus der Wirtschaft wohl bekannteste Umfrage ist die Onlinebe- fragung der deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), bei der jährlich 15.000 deutsche Unternehmen ihre Einschätzung bzgl. der Ausbildungsreife der Jugendlichen ange- ben. Aktuelle Ergebnisse aus dem Jahr 2013 unterscheiden sich kaum zu denen aus den Vor- jahren. Für nahezu 75 % der Unternehmen ist die mangelnde Ausbildungsreife der Jugendli- chen das „Ausbildungshemmnis Nummer eins“. Insbesondere Eigenschaften wie z. B. fehlen- de Belastbarkeit, Disziplin, Umgangsform und Leistungsbereitschaft werden beklagt (Deutscher Industrie- und Handelskammertag e. V. [DIHK], 2013, S. 26-32; Dobischat et al., 2012, S. 23-26).

Auf Probleme bei der Rekrutierung im Ausbildungsbereich weist auch die Online-Befragung von Unternehmen zur Qualifizierungssituation durch den IW Köln und IW Consult hin. Laut dieser Studie haben mehr als die Hälfte der Betriebe in der deutschen Wirtschaft Probleme bei der Auswahl ihrer zukünftigen Auszubildenden. Als Grund geben sie „ungeeignete Bewer- ber“ an (Dobischat et al., 2012, S. 23-26).

Eine in der Literatur oft aufzufindende Studie ist die Eignungsuntersuchung der BASF-AG. Diese, seit 1975 jedes Jahr durchgeführte Studie, untersucht das Leistungsniveau der Ausbil- dungsstellenbewerber verschiedener Unternehmen im Hinblick auf das Sprachverständnis, die Rechtschreibung, die elementaren Grundrechenarten und logisches Denken. Den Zeitreihen ist ein tendenzieller Leistungsabfall zu entnehmen, bei dem sowohl Hauptschüler, als auch Realschüler betroffen sind (Eberhard, 2006, S. 28).

Des Weiteren wird bei der Beurteilung der Ausbildungsreife oft auch auf den Expertenmoni- tor des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) verwiesen. Bei diesem erfolgt eine Befra- gung von rund 500 Experten aus den einzelnen Bereichen der Berufsbildung zum Thema Ausbildungsreife. Hinsichtlich der Entwicklung der Bewerberqualifikationen in den letzten 15 Jahren zeigt sich, dass sich vor allem Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen negativ entwickelt haben. Qualifikationen wie beispielsweise Konzentrationsfähigkeit, Sorg- falt oder Durchhaltevermögen zeigen ebenfalls eine eher rückläufige Tendenz auf (Dobischat et al., 2012, S. 41-43).

Zieht man zur Beurteilung der Ausbildungsreife Schulleistungsstudien wie z. B. PISA oder TIMMS heran, so können auch hier Defizite in den Kulturtechniken festgestellt werden (Gen- ter & Meier, 2012, S. 57). Laut einer PISA-Studie werden ca. 20 % der deutschen Jugendli- chen im Alter von 15 Jahren einer sogenannten „Risikogruppe“ zugeordnet. Der Risikogruppe wird eine negative Prognose bzgl. ihrer späteren beruflichen Laufbahn und Schullaufbahn vorhergesagt (Dobischat et al., 2012, S. 34).

Zudem führt Eberhard (2006, S. 41) an, dass die Teilnehmerzahlen in berufsvorbereitenden Maßnahmen wie BVJ und BvB in den letzten Jahren tendenziell gestiegen sind. Aus Unter- nehmenssicht wird dies als Indikator für eine gleichzeitig sinkende Ausbildungsreife bei Ju- gendlichen gesehen.

Die Debatte um das Themengebiet der Ausbildungsreife wird unter anderem durch die Tatsa- che gefördert, dass man sich bis heute nicht einig ist, was Ausbildungsreife ist und wie sie tatsächlich definiert werden soll. Verschiedene Akteure wie z. B. Unternehmen, Schulen oder Gewerkschaften haben jeweils eine unterschiedliche Auffassung darüber, was unter Ausbil- dungsreife zu verstehen ist (Eberhard, 2006, S. 17; Kohlrausch & Solga, 2012, S. 755). Nach- folgend werden nur einige der möglichen Definitionen aufgeführt.

In der Bildungsforschung hat sich beispielsweise die Definition der BASF-AG zur Ausbil- dungsreife durchgesetzt, bei der ein Jugendlicher dann ausbildungsreif ist, wenn er die drei zentralen Grundeigenschaften „elementares Grundwissen in den wichtigsten Lebensberei- chen“, „persönliche und soziale Kompetenzen“ und „Kenntnis der Berufswelt“ beherrscht.

Die Sicht der Wirtschaft auf die Definition von Ausbildungsreife resultiert aus zahlreichen Unternehmensbefragungen und umfasst die Kategorien „Wissen und fachliche Kompetenz“,

„Kenntnisse und Verständnis über die Grundlagen der deutschen Kultur“, „Werte“ und „so- ziale Kompetenzen“ (Gilfert, 2013, S. 5-6).

Obwohl die Jugendlichen selbst in der schwierigen Diskussion zwar nicht als Akteure gese- hen werden, führt Gilfert (2013, S. 5-6) auch deren Sichtweise von Ausbildungsreife an. Die- se verstehen unter Ausbildungsreife sowohl Zuverlässigkeit als auch Lern- und Leistungsbe- reitschaft an den Tag zu legen.

Aufgrund der Vielfalt an Definitionen und der Schwierigkeit der Begriffsbestimmung wurde von der Expertengruppe „Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland“ der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2006 der Begriff Ausbildungsreife defi- niert und im Rahmen eines Kriterienkatalogs weiter ausdifferenziert. Ausbildungsreife wird demnach wie folgt abgrenzt:

„Eine Person kann als ausbildungsreif bezeichnet werden, wenn sie die allgemeinen Merkma- le der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung mitbringt. Dabei wird von den spezifischen Anforderungen ein- zelner Berufe abgesehen, die zur Beurteilung der Eignung für den jeweiligen Beruf herange- zogen werden (Berufseignung). Fehlende Ausbildungsreife zu einem gegebenen Zeitpunkt schließt nicht aus, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden kann.“ (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland, 2006, S. 13)

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird bzgl. des Begriffes Ausbildungsreife auf die Defini- tion der Bundesagentur für Arbeit zurückgegriffen. Darauf basierend wird der Kriterienkata- log und sein Konzept im Gliederungspunkt 3.3 näher erläutert.

3.2 Das schulische BVJ als Maßnahme gegen mangelnde Ausbildungsreife Jugendlicher

Wie bereits in Gliederungspunkt 3.2 erwähnt, ist das oberste und wichtigste Ziel des schuli- schen Berufsvorbereitungsjahres, den Schülern dabei zu helfen, ihre Ausbildungsreife zu er- langen, sie dabei zu fördern und zu unterstützen. Bei den oben aufgezählten Eigenschaften, die Unternehmen im Rahmen einer geeigneten Ausbildungsreife von ihren Bewerbern fordern (beispielsweise Leistungsbereitschaf, Motivation, usw.), handelt es sich nach Auffassung der Wirtschaft um Kompetenzen, die von Seiten der Schulen vermittelt werden müssen. Wenn die Erlangung der Ausbildungsreife durch die allgemeinbildenden Schulen nicht erreicht werden kann, so ist es Aufgabe der berufsvorbereitenden Institutionen den Schülern nachträglich die Ausbildungsreife zu vermitteln (Hilke, Müller-Kohlenberg & Schober, 2005, S. 19-21). Diese Ansicht vertreten auch Klein und Schöpper-Grabe (2012, S. 62-63), weisen aber daraufhin, dass Berufsschulen, die das schulische BVJ anbieten, vor einer schwierigen Herausforderung stehen. Ihre eigentliche Aufgabe ist es nämlich, die BVJ-Schüler auf eine künftige Ausbil- dung vorzubereiten, d. h. berufsfeldbezogene Inhalte zu vermitteln. Allerdings sind in den letzten Jahren vermehrt Grundbildungsdefizite bei den Schülern festzustellen, die dazu füh- ren, dass sich die Lehrinhalte des BVJ-Jahres an Grundkompetenzen aus allgemeinbildenden Schulen orientieren. Diese müssen zusätzlich zu den berufsspezifischen Aspekten in diesem einen Jahr untergebracht werden.

Zur Förderung der Ausbildungsreife haben sich in den letzten Jahren verschiedene Ansätze im Rahmen der schulischen und außerschulischen Berufsvorbereitung etabliert, die bereits oben erwähnt worden sind. Das schulische BVJ ist demnach als eine Maßnahme zu sehen, bei der Jugendliche, die die Ausbildungsreife im Vorfeld durch die Berufsberater der Bundesagentur für Arbeit nicht attestiert bekommen haben und noch berufsschulpflichtig sind, durch Unters- tützung und Förderung im BVJ die Ausbildungsreife nachholen können (Ratschinski & Steu- ber, 2012, S. 354).

3.3 Das Konzept der Ausbildungsreife – Kriterienkatalog der Bundesagen- tur für Arbeit

In der bereits erwähnten Debatte zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften kritisieren die Unternehmen zunehmend die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabsolventen, insbesonde- re die der Abgänger von Hauptschulen. Da diese schwierige Diskussion ohne einheitliche Definition kein Ende gefunden hat und die Unternehmen die Förderung von Ausbildungsreife als essentiell erachten, um den jungen Leute mehr Ausbildungsplätze zu bieten, wurden vom Lenkungsausschuss des Nationalen Pakts für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland zwei neue Schwerpunkte gesetzt. Eine Expertengruppe beschäftigte sich mit dem Thema, wie die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Betrieben verbessert werden kann. Im zweiten Schwerpunktthema hat sich eine weitere Expertengruppe, bestehend aus Akteuren von Unternehmen, beruflichen Schulen, dem Bundesinstitut für Berufsbildung, und dem psy- chologischen Dienst und Berufsberatern der Bundesagentur für Arbeit, das Ziel gesetzt, den Begriff Ausbildungsreife greifbar zu machen, d. h. ihn zu definieren und zu operationalisie- ren. Intention dabei war Mindeststandards festzulegen, durch die eindeutig bestimmt werden kann, ob Schulabgänger ausbildungsreif sind und was somit vor Beginn einer Berufsausbil- dung von ihnen erwartet werden kann. Um eine Übersicht über das begriffliche Chaos zu schaffen, wurde ferner das Ziel angestrebt, die in diesem Zusammenhang verwendeten Begrif- fe „Ausbildungsreife“, „Ausbildungsfähigkeit“, „Ausbildungseignung“ und „berufliche Eig- nung“ voneinander abzugrenzen (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland, 2006, S. 4-7). Auch wenn es die eingerichtete Expertenrunde geschafft hat, den viel umstrittenen Begriff der Ausbildungsreife zu operationalisieren, wird darauf hinge- wiesen, dass der hierfür ausgearbeitete Kriterienkatalog nicht als starre Vorlage immer ein- setzbar ist. Der Katalog soll vielmehr einen Orientierungsrahmen bieten, um die Ausbildungs- reife eines Schulabsolventen in einzelfallbezogenen Situationen individuell zu beurteilen (ebd., S. 9).

[...]


1 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur noch die männliche Form verwendet. Es sind aber immer beide Geschlechter angesprochen.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Das Berufsvorbereitungsjahr. Ist die Kritik der mangelden Ausbildungsreife berechtigt?
Untertitel
Ein Vergleich von Theorie und Praxis
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
74
Katalognummer
V486872
ISBN (eBook)
9783668963627
ISBN (Buch)
9783668963634
Sprache
Deutsch
Schlagworte
BVJ, Ausbildungsreife, Berufwahlreife, Berufsschule
Arbeit zitieren
Maria Kammerer (Autor:in), 2014, Das Berufsvorbereitungsjahr. Ist die Kritik der mangelden Ausbildungsreife berechtigt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/486872

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