Recht auf Gleichheit vs. Recht auf Differenz. Dezentralisierung und peripherer Nationalismus am Beispiel Kataloniens


Tesis, 2005

119 Páginas, Calificación: 1,1


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Karte: Autonome Gemeinschaften Spaniens

1. Einleitung: Kurzer Abriss der Problematik

2. Grundlegendes
2.1. Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen und Hypothesen
2.2. Wissenschaftstheoretische Herangehensweise und Einordnung in bestehende kulturwissenschaftliche Forschungsfelder
2.3. Rechtfertigung der Fragestellung
2.4. Klärung grundlegender Begriffe: Staat, Nation, Nationalismus, Katalanismus und Dezentralisierung

3. Historisch-politische Einführung
3.1. Die Entstehung des Zentrum-Peripherie- Cleavages in Spanien
3.2. ‘Mancomunitat’, ‘Estatut de Núria’, ERC und Franquismus

4. Die Transition zur Demokratie als Stateness- Problem und die Verfassung von 1978
4.1. Der Pakt-Charakter der Transition, die ‘Ley de Reforma Política’ und die vorläufige Lösung des Stateness -Problems durch gesamtspanische Wahlen
4.2. Die Rückkehr des katalanischen Exilpräsidenten und der erste ‘café para todos’: pre-autonomías für alle
4.3. Dezentralisierung ja, aber wie? Der Verfassungskonsens als Formelkompromiss
4.3.1. Konstitutionelle Symmetrie oder Asymmetrie?
4.3.2. Die ‘fets diferencials’: Garant dauerhafter Asymmetrie?
4.3.3. Der Autonomiestaat: Bis hierher und immer weiter?

5. Der Autonomieprozess: Von der „differentiating“ zur „homogeneous Interpretation“
5.1. Phase 1 (1979-1981): Das kurze Leben der „nationalistischen Interpretation“ der Verfassung
5.2. Zweite Phase (1981-1992): Putschversuch, Konsenssuche, Autonomie-Abkommen und ‘Zwei-Klassen-Gesellschaft’
5.3. Dritte Phase (1992-2004): die zweiten Autonomie-Abkommen und deren Folgen
5.4. Die Autonomienivellierung anhand von quantitativen Indikatoren
5.5. Weitere kompetenzielle Differenzierungsmöglichkeiten von symbolischem Wert
5.5.1. Sprache und Medien
5.5.2. Eigenes Zivilrecht
5.5.3. Eigene Territorialgliederung
5.5.4. Eigene Polizeieinheiten
5.6. Zusammenfassung und Herstellung des Bezugs zu den Hypothesen

6. Radikalisierung des Nationalismus auf der Individualebene?
6.1. Wahlverhalten
6.2. Entwicklung der Einstellungen der Bevölkerung zu autonomiepolitischen Themen
6.2.1. Nationale Identität
6.2.2. Autonomieniveauvorstellungen
6.2.3. Zustimmung zum Konzept des Nationalismus
6.2.4. Bewertung der Politik der Zentralregierung

7. Schlussfolgerungen

Quellenverzeichnis
a) Experteninterviews
b) Literatur

Anmerkungen zur Formatierung:

„in doppelten Anführungszeichen“: Zitat, entsprechend belegt (längere Zitate eingerückt)

‘in einfachen Anführungszeichen’: uneigentliche Rede, Distanzierung

kursiv: Hervorhebung oder fremdsprachlicher Ausdruck

Kapitälchen: Namen von Autoren, die im Literaturverzeichnis vermerkt sind.

Anmerkung zu Zitaten: Außer englischsprachigen wurden alle fremdsprachlichen Zitate ins Deutsche übersetzt.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Karte: Autonome Gemeinschaften Spaniens

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Galicien: ‘historische Nationalität’ mit eigener autochthoner Sprache

Balearen: Autonome Gemeinschaft mit eigener autochthoner Sprache[2]

1. Einleitung: Kurzer Abriss der Problematik

„Der Autonomiestaat .. leidet an einem schwerwiegenden Widerspruch. Einerseits erlaubt er den AGs[3] ein sehr hohes Selbstregierungsniveau. ... Andererseits erhält er von von den nationalistischen Parteien, die einige AGs regieren, radikale Kritiken, die letztlich das System von Grund auf in Frage stellen (Aja 2003: 18).“

Nach Ende des Franquismus (1975) stand Spanien als „zentralistischster Staat Europas“ (Aja 2003: 14) vor dem Übergang zur Demokratie. Das Hauptproblem der demokratischen Transition und Konsolidierung war zu dieser Zeit allerdings nicht so sehr die Etablierung von demokratischen Institutionen (Wahlen, Parteienpluralismus etc.) und die Gewährleistung von Grundrechten und -freiheiten, sondern das sogenannte ‘stateness problem’, d. h. die Existenz Spaniens als Staat auf seinem bisherigen Territorium (Stepan/Linz 1996: 98ff; Kraus 1996; 1998; 2001). Denn an den Peripherien in Katalonien und im Baskenland verlor der spanische Staat zusehends an Legitimität. Dort war mit dem Sieg der Franquisten im Bürgerkrieg 1939 mit der Demokratie auch die Autonomie abgeschafft worden. Jahrzehntelang wurden Sprache und Kultur unterdrückt, wodurch die Massenimmigration spanischsprachiger Einwanderer ab Ende der 50er Jahre nicht vollständig integriert werden konnte. Für immer mehr Katalanen und Basken schien es daher im damaligen System keine Möglichkeit für politische Anerkennung ihrer Minderheitenrechte mehr zu geben; viele sahen keine Zukunft mehr im spanischen Staat und verweigerten diesem ihre weitere Zugehörigkeit („exit“ (Hirschman 1970)).

Die spanische Transition stand und fiel also mit der zentralen Aufgabe, den Autonomieforderungen der ‘historischen Nationalitäten’[4] Genüge zu tun, ohne dass sich das Militär als selbsternannter Hüter der territorialen Integrität Spaniens wie so oft in der Geschichte dazu berufen fühlen würde, für Ruhe und Ordnung sorgen zu müssen. Die Schwierigkeit, in der ‘nationalen Frage’ einen parteiübergreifenden Konsens zu finden, spiegelt sich in der Verfassung von 1978 wider: Sie sieht kein endgültiges Territorialmodell vor, ja sie benennt noch nicht einmal die zukünftigen Autonomen Gemeinschaften (im Weiteren ‘AGs’)). Es werden lediglich Prozeduren benannt, anhand derer die „Nationalitäten und Regionen“ (CE, Art. 2) an ein sogenanntes ‘Autonomiestatut’ gelangen können. Diese Prozeduren zur Konstruktion des ‘Staates der Autonomien’ richten sich nach dem sog. ‘ principio dispositivo’. Letzteres besagt vereinfacht dargestellt: Nur da, wo auch Autonomie gefordert wird, soll auch eine entstehen (Fossas 1999a: 11). Dieses Prinzip findet u. a. in vereinfachten Prozeduren beim Zugang zur Autonomie für die ‘historischen Nationalitäten’ oder anfänglich unterschiedlichen Kompetenzniveaus je nach Autonomiewillen einer Region seinen Ausdruck. Die Konstitution besitzt in den Augen der meisten Verfassungsrechtler somit ein hohes ‘Asymmetrie-Potenzial’.

Betrachtet man nun die letzten 25 Jahre, so lässt sich der heutige spanische ‘Autonomiestaat’ zusammenfassend als das Resultat einer Entwicklung von einer stark asymmetrischen zu einer fast symmetrischen territorialen Verteilung von Kompetenzen beschreiben. Wie Nagel (2002: 30) darstellt, betrachten viele Autoren seine Funktionsweise mit wenigen Ausnahmen als vergleichbar mit der in symmetrisch-föderalen Staaten (Deutschland, Österreich).

Nichtsdestotrotz genügt bereits ein flüchtiger Blick in die spanischen Tageszeitungen, um festzustellen, dass ein konsensfähiges endgültiges Territorialmodell auch heute noch einer Aporie gleichkommt. Die den Debatten zu Grunde liegenden Probleme kreisen um die Frage, wie sich Spaniens Plurinationalität[5] zur Zufriedenheit aller in einem föderalen oder föderalismusähnlichem System unterbringen lässt und werden meist anhand von Stichworten wie ‘Diversität vs. Uniformität’, ‘Asymmetrie vs. Symmetrie’ oder ‘differenzielle vs. Gleichbehandlung’ der AGs umrissen (vgl. u. a. IEA 1995 und 2001; Pau 2001). Stark vereinfachend kann man die Debatte als einen Wettstreit von „egalitären“ und „asymmetrischen“ Standpunkten zusammenfassen (Espín 2000: 51-53). Die Befürworter des egalitären Modells (z. B. Blanco 1997; Aja 2003; Solozábal 2000) verteidigen die Position, dass alle AGs gleich behandelt werden sollten,[6] während die andere Seite (z. B. Fossas 1999a; 1999b; 2000; Argullol 2000; Requejo 2003; Herrero de Miñón 1991; 1998; Máiz 2002) der Auffassung ist, dass beim Dezentralisierungsprozess ein Unterschied in der Behandlung von (‘historischen’) ‘Nationalitäten’ und bloßen ‘Regionen’ gemacht werden sollte.[7] Am deutlichsten hat letzteres wohl Herrero de Miñón formuliert. Ihm zufolge ist die Tatsache, dass historische Territorien mit konstitutionell garantierten „historischen Rechten“ (CE, erste Zusatzverordnung) und ausgeprägten nationalen Identitäten gleich behandelt werden wie bloße Regionen, nicht vertretbar (Herrero de Miñón 1998: 158). Denn indem man Autonomie, die ursprünglich dafür gedacht war, konkreten Forderungen von bestimmten, besonderen Territorien (Nationalitäten) entgegenzukommen, auf andere Territorien (Regionen), wo diese nicht oder nicht in gleichem Maße gefordert wurde, verallgemeinert, nimmt man den Nationalitäten die mit der Autonomie bezweckte Anerkennung ihrer identitären und historischen Besonderheit. Man macht also aus dem Besonderen (Autonomie) das Allgemeine (Autonomie für alle), wodurch die Anerkennung des Besonderen als solchem aufhört, zu existieren.

Doch die Debatte ist keineswegs eine rein akademische: Fordern im politischen Alltag üblicherweise die Vertreter der nationalistischen Parteien u. a. Kataloniens territoriale Asymmetrie im Sinne ihres ‘Rechtes auf Differenz’, so stehen ihnen die Vertreter der anderen AGs beim Einfordern des ‘Rechtes auf Gleichheit’ in Nichts nach. Das daraus resultierende Dauerproblem beschreibt Mariano Rajoy, Chef der Volkspartei (PP), folgendermaßen:

„Es ist sehr kompliziert, einen Staat zu regieren, in dem Katalonien eine andere Behandlung als die anderen [(„trato diferencial“, L. O.)] fordert, die anderen aber so behandelt werden wollen wie Katalonien.“ (La Vanguardia 23.5.2004)

In den politischen Alltagsdebatten – aber nicht nur dort – werden Maßnahmen, die eine Gleichbehandlung von ‘Nationalitäten’ und ‘Regionen’ implizieren, von sämtlichen nationalistischen und regionalistischen Parteien als Gleichmacherei von Ungleichem, als ‘Kaffee für alle’ (‘café para todos’) verurteilt.

Aus den dargestellten Überlegungen leitet sich für diese Untersuchung folgende Grundfrage ab: Kann der spanische Staat solche AGs, in denen ein großer Teil der Bürger eine nationale Identität besitzt, die zu einem großen Teil primär oder ausschließlich nicht-spanisch ist, genauso behandeln wie AGs, in denen die große Mehrheit sich primär spanisch fühlt? Oder bedarf es bestimmter Mechanismen, die den ‘fet diferencial’ (‘Unterschiedlichkeitstatsache’), d. h. die Spezifität dieser Gebiete mit anderen nationalen Identitäten institutionell und kompetenziell zum Ausdruck bringen? Ein Weg, die Besonderheit der ‘Nationalitäten’ gegenüber den ‘Regionen’[8] anzuerkennen, wäre also z. B. die Etablierung von unterschiedlichen Niveaus an Kompetenzen und Selbstregierungsmöglichkeiten für die ‘Nationalitäten’, wie dies z. B. in Großbritannien mit Schottland und Wales geschehen ist, wenngleich das dortige Autonomieniveau noch vergleichsweise gering ist (Argullol 2004: 64f).[9]

Relevant wird dies im politischen Kontext dadurch, dass einige Autoren der Meinung sind, dass der ‘café para todos’, der letztlich zur völligen Angleichung der Kompetenzniveaus geführt hat, die Ursache für den immer noch existierenden und sich verschärfenden ethnoterritorialen Konflikt sei (vgl. Herrero de Miñón 1998: 16). Denn die Forderungen der Nationalisten nach mehr Autonomie nähmen in dem Maße zu, wie deren AGs ihre institutionellen Differenzierungsmöglichkeiten verlieren:

„Eine Gleichbehandlung würde das allem zu Grunde liegende politische Problem nicht deaktivieren, [denn] dieses ist ja gerade die Forderung nach einer eigenen historisch-politischen Persönlichkeit gegenüber dem Rest des spanischen Staates.“ (Espín 2000: 50)

Eine Übersicht über die Kapitel befindet sich im folgenden Abschnitt, in dem zunächst Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen, Hypothesen und Forschungsstand näher dargestellt, die Forschungsfrage in den kulturwissenschaftlichen Kontext eingeordnet und begründet sowie einige grundlegende Begriffe und verständnisrelevante theoretische Konzepte geklärt werden.

2. Grundlegendes

2.1. Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen und Hypothesen

In Anknüpfung an die hier kurz dargestellten theoretischen Überlegungen könnte man nun vermuten, dass eine zunehmende Angleichung der AGs in deren Kompetenzen und somit in deren Status zur Folge haben müsste, dass – wie der Diskurs einiger der genannten Theoretiker und der nationalistischen Parteien vermuten ließe – die Bürger der ‘Historische-Nationalitäten’-AGs sich zunehmend unwohler bzw. unzufriedener im spanischen Staat fühlen müssten und evt. sogar Sympathien für den Separatismus entwickeln. Darin liegt auch das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, das sich in zwei Hauptforschungsfragen formulieren lässt:

(1) Wie und in welchem Maße hat tatsächlich ein kompetenzieller Egalisierungsprozess à la ‘Kaffee für alle’ stattgefunden?
(2) Ist im selben Zeitraum auch ein Anstieg an Unzufriedenheit in autonomie­politischen Fragen unter der Bevölkerung in Katalonien zu verzeichnen?

Frage (1) möchte also wissen, wie es dazu kommen konnte, dass sich die Unterschiede zwischen den AGs in deren Kompetenzen und Selbstregierungsmöglichkeiten letztlich nivellierten, und wie man dies anhand verschiedener Indikatoren darstellen kann. Da „all systematic research begins with good description“ (Landman 2003: 5), will ich in Kapitel 3 zunächst die historisch-politische Entwicklung des Konfliktes zwischen Katalonien und dem spanischen Staat bis zum Ende des Franquismus (1975) skizzieren. In Kapitel 4 wird die Transition zur Demokratie im Hinblick auf das stateness- Problem analysiert. Da der in der Verfassung von 1978 vorgesehene Dezentralisierungsprozess dieses Problem lösen sollte, die spanische Magna Charta aber unterschiedliche Autonomiemodelle erlaubt, werden hier auch verschiedene verfassungstheoretische Ansätze vorgestellt. Denn die alltäglichen Dezentra­li­sie­rungs­for­derun­gen der nationalistischen Parteien – aber auch die Dezentralisierungsgegner – berufen sich immer wieder auf die Verfassung. In Kapitel 5 folgt dann auf dieser Grundlage eine detaillierte Analyse des Autonomieprozesses, bei dem auch z. T. eigens entwickelte Indikatoren vorgestellt werden, die es erlauben, den Dezentralisierungsgrad verschiedener AGs zu verschiedenen Zeitpunkten miteinander zu vergleichen.

Frage (2) wird in erster Linie in Kapitel 6 anhand einer Analyse der Entwicklung der öffentlichen Meinung Kataloniens sowie des dortigen Wahlverhaltens nachgegangen. Aber auch bereits bei der Analyse des Autonomieprozesses wird ‘qualitativen’ Phänomenen, also Ereignissen oder Tendenzen im politischen Geschehen, die darauf hindeuten könnten, dass die Unzufriedenheit mit dem Status Kataloniens innerhalb Spaniens wächst, Beachtung geschenkt.

Aus den beiden Forschungsfragen resultiert meine Hypothese:

Hypothese: Die kompetenzielle Nivellierung führt in Katalonien zu einer erhöhten Unzufriedenheit mit dem Status quo des Autonomiestaats.

Die Hypothese erweitert damit um die asymmetrische Dimension das, was Mey (2003: 36f) als „konservativ organizistische Vorstellung“ des Regionalismus versteht, nämlich, dass „sprachlich und kulturell abgegrenzte Regionen ein eigenständiges Entfaltungsrecht“ benötigen, weil sonst „separatistische Tendenzen“ und „ein Auseinanderbrechen des Gesamtstaates“ drohen. Es geht hier nicht mehr nur um eigenständiges Entfaltungsrecht, sondern darum, dass dieses Recht von seinem Umfang her ungleichmäßig, d. h. asymmetrisch – der Intensität der nationalen Identität bestimmter Gebiete entsprechend – auf dem Staatsterritorium verteilt ist. Können Anhaltspunkte für das Zutreffen der Hypothese gefunden werden, so würde abschließend diskutiert werden, ob das Stateness- Problem evt. demnächst wieder eine Renaissance erfahren könnte und wie oder ob es überhaupt möglich ist, dieses irgendwie endgültig zu lösen bzw. zu regulieren. Wird die Hypothese eindeutig falsifiziert, so ließe sich diskutieren, ob die stets zunehmenden Forderungen der nationalistischen Parteien (Finanzierungsreform, Statutsreform) mehr einen politischen Angebotsmachtkampf darstellen (wer fordert mehr?), als dass sie wirklich den Wünschen der Bevölkerung entsprechen.

2.2. Wissenschaftstheoretische Herangehensweise und Einordnung in bestehende kulturwissenschaftliche Forschungsfelder

Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine „hypothesis-testing“ (Landman 2003: 6) Einzelfallstudie mit „comparative merit“ (Sartori 1994: 23). Wie Aarebrot/Bakka (2003: 63), Przeworski (1987: 32) oder Muno (2003: 21f) erklären, lassen sich auch Einzelfallstudien als vergleichende Studien rechtfertigen.[10] Dies gründet nicht nur darauf, dass detaillierte ideo­graphische Einzelfallstudien oft als Ausgangspunkt für größere Vergleiche herhalten können (Landman 2003: 5), sondern lässt sich auch durch die Einbettung der Arbeit in einen theoretischen Kontext erklären, wodurch die „particular utterances“ des katalanischen Falles innerhalb einer „global structure“ interpretiert werden können (Przeworski 1987: 36). Übertragen lässt sich das hinter der Untersuchung stehende theoretische Gerüst so auf „vergleichbare Fälle mit ähnlichen historischen Entwicklungsabläufen“ (Aarebrot/Bakka 2003: 61). Das wären andere periphere Nationalismen innerhalb Spaniens (Baskenland, Galicien) oder in anderen Staaten, wo Dezentralisierungsprozesse in erster Linie dazu dienten, unausweichlich gewordene Forderungen von peripheren Regionalisten oder Nationalisten zu stillen (z. B. Großbritannien mit Schottland oder Belgien mit Flandern[11] ). Die theoretische Herangehensweise dieser Einzelfallbeobachtung ließe sich also auf einen größeren Vergleich im Sinne eines ‘most similar systems design’ ausweiten. So könnte man beispielsweise überprüfen, inwieweit sich periphere Nationalisten dort besänftigen ließen, wo man deren Territorien einen eindeutig exklusiven Status zuwies und/oder keine allgemeine Zuteilung von Autonomien an andere Regionen ohne Autonomietradition stattfanden.

Fragt man abstrahierend vom katalanischen Fall, inwiefern sich diese Arbeit einem kulturwissenschaftlich-theoretischen Forschungsfeld zuordnen lässt, so geht es hier generell um das Problem der Konfliktregulierung in multinationalen Gesellschaften. In diesem Zusammenhang kreist die vorliegende Analyse am Beispiel des katalanischen Falls um die Frage nach „Institutionen als Regulativ kultureller Vielfalt“ (Behr/Schmidt 2001: 9-11). Die vorliegende Studie versteht sich somit in erster Linie als institutionalistischer Ansatz. Institutionalistische Ansätze gehen von einem Zusammenhang zwischen dem insti­tutio­nel­len Design eines Systems (hier: die Dezentralisierungsform) und der Performanz dieses Systems (hier: die Integration nationaler Minderheiten) aus. Dahinter steckt folgende Logik:

“Institutions are related to democratic performance since they […] structure the ways in which political conflicts under democratic rule are mediated, and the ways in which distributional questions are settled.” (Landman 2003: 180)

Für die Performanz eines Systems ist das institutionelle Design also einer der wichtigsten Faktoren,[12] denn “[it] link[s] the citizens to the government and shape[s] the relationship among its [(the country’s, L. O.)] various branches” (Landman 2003: 180). Es geht hier also um die Frage, ob Institutionen die erfolgreiche Integration nationaler Minderheiten in ein System begünstigen können. ‘Erfolgreich’ heißt: ohne dass ein großer Teil dieser Minderheit weiterhin die Grundordnung des Systems in Frage stellt.

2.3. Rechtfertigung der Fragestellung

Das Forschungsthema per se lässt sich zunächst einmal durch die geringe vorhandene und zum Großteil etwas in die Jahre gekommene Literatur zum katalanischen Nationalismus außerhalb Spaniens rechtfertigen. Obwohl auch in anderen europäischen Pseudo-‘Nationalstaaten’ wie Frankreich (Korsika), Großbritannien (Schottland, Nordirland, Wales) oder Belgien aus ähnlichen Gründen wie in Spanien in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Dezentralisierungsmaßnahmen durchgeführt wurden, ist die Liste vor allem der vergleichenden deutschsprachigen sozio- und politologischen Publikationen zu dieser Problematik äußerst dünn.[13] Dabei ist das Thema Dezentralisierung und Nationalismus gerade im Hinblick auf die mittel- und osteuropäischen Staaten relevanter denn je, da auch dort in den letzten Jahren mit dem EU-Beitritt umfangreiche Dezentralisierungsprozesse eingeleitet wurden.[14] Zudem existieren in den meisten der ehemaligen Ostblockstaaten bedeutende nationale Minderheiten und ausgeprägte ‘nationale’ Konfliktlinien.[15] Allein schon daher bieten sich Vergleiche mit Spanien an, wo die Dezentralisierung scheinbar relativ erfolgreich verlaufen ist.

In größerem Rahmen und auf Deutsch beleuchtete in jüngerer Zeit das Verhältnis von Devolution bzw. Dezentralisierung und peripheren Nationalismen mit Focus auf Katalonien neben der Tranvía- Ausgabe 48/1998 in erster Linie Kraus (1996), der ausführlich die politischen Konflikte zwischen Zentrum und katalanischer sowie baskischer Peripherie bis Anfang der 90er nachzeichnet.[16] Zu nennen ist auch noch Brinck (1996), die den baskischen und katalanischen „Regionalismus“ (sic!) im Spannungsverhältnis zwischen „regionaler Eigenständigkeit“ und europäischem Integrationsprozess untersucht.[17] Doch beide Werke stehen noch nicht unter dem Eindruck der verschärften Debatte um die Zukunft des spanischen Autonomiestaates, die erst Mitte bis Ende der 90er begann. Auch hinterfragt keine der mir bekannten bisher erschienenen Publikationen – weder die deutschen noch die englischen[18] – den (scheinbaren?) Anstieg ‘radikaler’ nationalistischer Manifesta­tio­nen[19] im letzten Jahrzehnt. Letztere haben mich dazu bewogen, dieses Thema zu wählen.

Des Weiteren ist es auch im Hinblick auf die Konsolidierung der EU angebracht, die Sensibilität für regional(national)istische Bewegungen zu stärken. Nicht nur die Legitimität der Staaten, sondern auch die der EU hängt in starkem Maße davon ab, inwiefern diese auch regionalspezifische Eigenheiten zu berücksichtigen vermag.[20] Momentan sieht es jedoch eher so aus, als würde hier der gleiche Fehler wie in Spanien noch einmal gemacht: Die von der EU empfohlene Dezentralisierung der neuen Mitgliedsstaaten in möglichst vergleichbare Regionen als Voraussetzung für den Erhalt von Struktur- und Kohäsionsfonds erfolgt erneut unter dem Diktat der Rationalisierung und scheint regionalen oder nationalen Identitäten bei diesem Prozess nur wenig Beachtung zu schenken. Auch der vielgescholtene Ausschuss der Regionen ist nach solch ‘symmetrischen’ Kriterien angelegt; dabei spielt keine Rolle, ob bestimmte Regionen stärker ausgeprägte Identitäten als andere besitzen und für die daher eine Repräsentation in einem solchen Ausschuss von viel größerer Bedeutung ist als für andere, die oft weder besonders regionalpatriotisch sind noch legislative Kompetenzen besitzen.[21]

2.4. Klärung grundlegender Begriffe: Staat, Nation, Nationalismus, Katalanismus und Dezentralisierung

Redet man von ‘nationalen’ Minderheiten, so stellt sich die Frage, was denn überhaupt eine ‘Nation’ ist.[22] Nicht nur im deutschen Alltags- und auch wissenschaftlichen Sprachgebrauch werden ‘Nation’ und (moderner) ‘Staat’ meist gleichgesetzt,[23] was in scheinbar selbstverständlichen Begriffen wie ‘international’, ‘Nationalstaaten’ (im Gegensatz zur ‘supranationalen’ Europäischen Union), ‘Vereinte Nationen’, ‘Nationenvergleich’ etc. zum Ausdruck kommt (vgl. Canovan 1996: 51; Bilbeny 2001: 82; Linz 1993: 356). Diese Arbeit übernimmt diese Gleichsetzung freilich nicht und geht davon aus, dass es sog. ‘Nationen ohne Staat’ gibt. Einen ‘Staat’ verstehe ich in Anlehnung an Max Weber (1972: 822) als eine

„menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht Der Staat ist... ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschafts verhältnis[24] von Menschen über Menschen.“ (Weber 1972: 822; meine Hervorh., L. O.)

Zeichnet sich ein Staat nach der im Völkerrecht verwendeten „Drei-Elemente-Lehre“ aus durch Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt (Jellinek 1921), so kommt in der soziologischen Definition Webers noch das Element der Legitimität hinzu: Der Staat ist also Staat, wenn er in der Lage ist, Zwangsmittel zu mobilisieren, um sich auf einem bestimmten (Herrschafts-)Gebiet (von ‘gebieten’!) durchzusetzen, d. h. ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen, und sich dabei auf die Legitimität seiner Herrschaft bei seinen Beherrschten stützen kann.[25]

Eine ‘Nation’ oder ‘Nationalität’ ist dagegen weitaus schwerer abzugrenzen. Auf Johann Gottfried Herders Idee vom ‘Volksgeist’ gehen Versuche zurück, eine Nation ‘primordialistisch’, d. h. anhand ‘ewiger’, ‘objektiver’ Elemente (gemeinsame Sprache, Territorium etc.) zu definieren.[26] Sie erweisen sich aber generell als unzureichend. Grund hierfür ist vor allem, dass jede Nation sich selbst anhand anderer Merkmale definiert:[27]

The Nation cannot be defined because its purpose is to define. It is a conceptual tool and a boundary perception through which an ethnic group wishing to be represented in a state attempts to establish and define its own space of action.“ (Conversi 1997: 7; meine Hervorh., L. O.)

Erneut möchte ich in diesem Zusammenhang Weber (1972: 244) heranziehen, dessen politische Definition der Nation als „Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft,“ die sich in der Konstruktion eines Staates (Weber: „Machtgebildeorganisation“) Ausdruck zu verleihen versucht, auch heute noch Relevanz besitzt.[28] Bei der Nation geht es um ein in erster Linie politisches, d. h. machtorientiertes und nur sekundär kulturelles Phänomen. Dieses entsteht meist im 19. Jahrhundert und tritt vor allem dann in Erscheinung,[29] wenn bestimmte soziale Gruppen aus verschiedensten Gründen beginnen, sich als Nation zu verstehen und politische Selbstbestimmung einfordern. Das ‘Recht auf Selbstbestimmung’ verweist darauf, dass eine Nation als kollektives Subjekt ihren politischen Status selbst bestimmen können sollen darf.[30] Derart ‘voluntaristische’ oder ‘subjektivistische’ Definitionen der Nation gehen auf Renan (2005: 143) zurück, der von der Nation als „täglichem Plebiszit“ sprach, d. h. dem täglich gefühlten Willen aller Mitglieder einer Nation, „das Leben gemeinsam fortzusetzen“.

Gar nicht so weit entfernt von Webers und Renans Definitionen scheint daher Benedict Andersons (1983) als ‘postmodern’ bezeichneter Ansatz, der Nationen als „imagined communities“ versteht. Deren Mitglieder stellen sich vor, dass sie eine gemeinsame Kultur, (oft) ein gemeinsames Territorium, eine gemeinsame Geschichte und Zukunft verbindet,[31] und – wie Guibernau (2003: 92) betont – verlangen, sich selbst regieren zu können. Reden wir also von ‘Nationen ohne Staat’, so verstehen wir darunter eine Bewegung politisch mobilisierter (tatsächlicher oder vorgestellter) Ethnien,[32] die das Selbstbestimmungsrecht einfordern. ‘Nationalismus’ in ‘Nationen ohne Staat’ ist also streng genommen untrennbar mit der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht verbunden (Caminal 2002: 138).

Verfolgt die Bewegung hingegen nur die Ausweitung der Selbstregierungsmöglichkeiten und Kompetenzen eines bestimmten Territoriums innerhalb eines bestehenden Staates oder das einseitige Eintreten für territoriale Interessen, oder besser gesagt: die „oppositionelle Politisierung eines sub-[staatlichen] territorialen Bezugsrahmens“ (Mey 2003: 36), so bezeichnet man dies i. A. als ‘Regionalismus’ oder auch ‘Autonomismus’.[33] Letzterer ist nach Caminal (2002: 139) eine der drei Strömungen des heutigen politischen ‘Katalanismus’. Unter verschiedenen Autoren (z. B. Bilbeny 2001, Caminal 2001; 2002; Nagel 1991) habe ich nirgendwo deckungsgleiche Definitionen des ‘Katalanismus’ gefunden. Wie Bilbeny (2001: 86f) dann auch konstatiert, gibt es je nach politischer Einstellung mindestens vier verschiedene Ansichten darüber, was Katalanismus ist (so z. B. im Hinblick darauf, ob er das Gleiche wie Nationalismus ist oder ob er sich zumindest teilweise mit ihm deckt). Ich verwende ‘Katalanismus’ in Anlehnung an Nagel (1991: 5) als „Sammelbegriff für politische und kulturelle Bestrebungen unterschiedlicher Reichweite, die die Anerkennung der politischen Persönlichkeit Kataloniens zum Ziel oder als Ausgangspunkt ha[b]en“.

Neben der „autonomistischen“ gibt es Caminal (2002: 139; 2001: 145f) zufolge noch den „föderalistischen“ und den „souveränistischen“ (soberanista) Katalanismus. Anhänger der Föderalisten treten für einen föderalen Staat ein, der auf der „vollen Anerkennung der Plurinationalität des [spanischen] Staates und der Gleichheit von Kulturen und Sprachen“ beruhen soll. Die ‘souveränistische’ Strömung – der Ausdruck gilt für manche lediglich als Euphemismus für ‘separatistisch’[34] – wiederum besteht auf dem „einseitigen Recht der katalanischen Nation, ihre politische Organisationsform frei zu bestimmen“.[35] Caminal meint, dass von diesen drei katalanistischen Hauptausrichtungen nur die souveränistische als ‘nationalistische’ herhalten kann.

Abb. 2.1.: Ideologische Positionierung der politischen Parteien des katalanischen Parteiensystems (1992) und bisherige Koalitionen[36]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Betrachtet man auf dieser Grundlage nun die politischen Parteien (für eine ideologische Platzierung s. Abb. 2.1.), die sich in Katalonien als ‘nationalistisch’ bezeichnen, so bemerkt Caminal (2001: 147f), dass eigentlich nur die für die Unabhängigkeit eintretende Esquerra Republicana (ERC) wirklich eine ‘nationalistische’ Partei ist. Denn nur sie kann relativ eindeutig dem ‘Souveränismus’ zugeordnet werden.[37] Die moderat nationalistische CiU ist hingegen streng genommen eine ‘regionalistische’ oder ‘autonomistische’ Partei – wenn auch mit nationalistischer Ideologie! Diese Kombination bezeichnet nicht nur Caminal (2001: 145) nach dem langjährigen katalanischen Präsidenten Jordi Pujol als „Pujolismus“.[38]

Auch weil der Begriff ‘Nationalismus’ im deutschen Sprachgebrauch eher negativ besetzt ist, kann es scheinen, als sei die Bezeichnung ‘Regionalismus’ dem katalanischen Fall angemessener.[39] Hier soll allerdings die in Spanien übliche Unterscheidung gewahrt werden, wonach die (historischen) ‘Nationalismen’ klar von den in den 80er Jahren in Folge von Emulation entstandenen ‘Regionalismen’ in anderen Gebieten (Núñez 2000) ohne Tradition nationaler Bewegungen zu trennen sind.[40] Daher werden hier auch solche streng genommen eigentlich ‘regionalistischen’ Parteien jeweils als ‘nationalistisch’ bezeichnet, sofern sie sich selbst so nennen.

Da im spanischen Fall die Minderheitsnationalismen geografisch betrachtet an der Peripherie im Nordosten, Norden und Nordwesten des Landes auftreten, nenne ich sie ‘periphere Nationalismen’. Dadurch decken sie sich auch mit Rokkans und Lipsets Annahme eines sog. Zentrum-Peripherie- ‘Cleavage’ als „conflict between the central nation - building culture and the increasing resistance of the ethnically, linguistically, or religiously distinct subject populations in the provinces and the peripheries“ (Lipset/Rokkan 1967b: 14; Hervorh. im Original). Hier klingt bereits an, dass es sich bei einem solchen ethnoterritorialen Konflikt auch um einen Wettbewerb zwischen zwei Formen von Nationalismus handelt (Requejo 2002: 27): Einmal das state nation-building oder der ‘Staatsnationalismus’ des Staates (bzw. der ‘Staats-Nation’, dem politischen Zentrum), der versucht, u. a. durch kulturelle Homogenisierungs­politik seine Legitimität zu konsolidieren und einen möglichst einheitlichen ‘Nationalstaat’ zu schaffen (vgl. Máiz 2000: 74f). Auf der anderen Seite steht der Nationalismus und das nation-building der ‘Nation(en) ohne Staat‘, welche die Legitimität des herrschenden Staates in Frage stellt „and often, but not always, seeks to construct a new state“ (Guibernau 2003: 93). Dem Konflikt zu Grunde liegen „the two dominant ideas“, nämlich: „that every state should strive to become a nation-state and that every nation should aspire to become a state“ (Linz 1993: 368). D. h. einerseits, dass der Staat sich seiner Legitimität langfristig nur in einer kulturell einheitlichen ‘Nationsgemeinschaft’ gewiss sein kann. Andererseits vermag keine Nation ohne Staat längerfristig zu überleben.[41] Beide Annahmen nähren sich gegenseitig: Ohne Minderheitsnationalismen keine Notwendigkeit, diese zu unterdrücken und kulturelle Homogenisierungspolitik zu betreiben, und ohne kulturelle Homogenisierungspolitik keine Notwendigkeit, nationale Bewegungen ins Leben zu rufen, um die Kultur der eigenen Minderheit zu retten.[42] In Spanien ging jedenfalls bislang weder der Staats- noch der Minderheitsnationalismus als endgültiger Sieger vom Spiel, weshalb der Konflikt bis heute Bestand hat.[43]

Miroslavs Hrochs Drei-Phasen-Modell [44] scheint mir unter den zahlreichen Nationalismustheorien das adäquateste zur allgemeinen Modellierung der Entstehung des katalanischen Nationalismus. Hroch zufolge gab es im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der acht ‘Staatsnationen’ (England, Frankreich, Spanien, Schweden, Dänemark, Portugal und später Russland)[45] über 30 nicht-dominante ethnische Gruppen, die neben einem Staat u. a. auch keine durchgehende Kulturtradition in ihrer eigenen Sprache hatten und deren herrschende Schicht aus einer anderen ethnischen Gruppe stammte. Phase A bildet nun ein unpolitisches kulturelles Revival (in erster Linie Sprache und Kulturgeschichte) einiger weniger Intellektueller. In Phase B treten dann durch politische Interessenkonflikte motivierte Aktivisten auf den Plan, die die kulturalistische Bewegung politisieren und versuchen, das ‘ethnische Potenzial’ zu nutzen und möglichst viele Mitglieder dieser ethnischen Gruppe für eine nationale Bewegung zu gewinnen, was anfangs meist nur schwer gelingt. In Phase C ist die ‘nationale Bewusstseinsweckung’ unter der Mehrheit der ethnischen Gruppe abgeschlossen und eine Massenbewegung entstanden.

Abschließend soll noch der Begriff der Dezentralisierung geklärt werden. Dezentralisierung bezeichnet hier alle Prozesse, bei dem die Macht- und Entscheidungsbefugnisse, die ursprünglich in den Händen der zentralen Verwaltung eines sog. ‘Einheitsstaats’ konzentriert waren, an eine oder mehrere Untereinheiten abgegeben werden, die dann für ein bestimmtes Territorium diese Befugnisse übernehmen. Von Dezentralisierung als Devolution spricht man häufig z. B. im katalanischen und schottischen Fall, da hier eine ehemals besessene Autonomie ‘wiederhergestellt’ wird. Da in Spanien aber sowohl ‘Devolution’ als auch ‘Dezentralisierung’ (in Territorien, die in der Vergangenheit noch nie Autonomie besessen hatten), stattfinden, scheint hier der Begriff ‘Devolution’ als allgemeiner Überbegriff, wie ihn Sturm (2002) für den britischen Fall verwendet, zu weit zu gehen.

Dennoch können nach Sturm (2002: 49) „administrative“, „exekutive“ und „le­gis­lati­ve [Dezentralisierung]“ unterschieden werden . Bei der administrativen Dezentralisierung (auch „ Dekonzentration“ (Brinck 1996: 14) oder „Verwaltungsdezentralisierung“ (Sturm 2002: 49) genannt) wird die Verantwortung für spezielle Aufgaben von der Zentralregierung auf territorial ‘ausgelagerte’ niedrigere Ebenen des Verwaltungsapparates innerhalb der bestehenden zentralstaatlichen Strukturen übertragen (z. B. die départements in Frankreich). Bei exekutiver Dezentralisierung werden „Verwaltungsaufgaben zur eigenständigen Erledigung“ transferiert (z. B. Euroregionen), während legislative Dezentralisierung die „Übertragung von Gesetzgebungsrechten“ in bestimmten Kompetenzbereichen beinhaltet (Sturm 2002: 49). Der spanische Autonomieprozess umfasst sowohl exekutive als auch legislative Dezentralisierung, die zusammen oft „politische Dezentralisierung“ genannt werden (Caminal 2001: 137). Auch wenn die Autonomen Gemeinschaften mittlerweile eine Kompetenzenpalette besitzen, die mit der der deutschen Bundesländer durchaus vergleichbar ist, so liegt der Unterschied zwischen den durch Dezentralisierung entstandenen AGs und föderierten Staaten in erster Linie darin, dass die AGs weder Staatsqualität noch ‘Ewigkeitsgarantie’ besitzen. Auch kennzeichnet den Föderalismus historisch gesehen, dass sich Staaten freiwillig zu einem Bund (lateinisch: foedus) zusammenschließen und Kompetenzen an diesen abgeben (also sozusagen ‘von außen nach innen’), während bei der Dezentralisierung am Anfang der Einheitsstaat steht, der Regionen schafft und Kompetenzen an diese abgibt (‘von innen nach außen’).[46]

Waren ‘Dezentralisierungsmaßnahmen’ in einem weiteren Sinne historisch gesehen dazu da, Regionen mit identitären, wirtschaftlichen, politischen oder geographischen Besonderheiten durch die Vergabe von Sonderrechten an diese zum freiwilligen Bleiben im Staat zu animieren, so ist Dezentralisierung oder gar Föderalisierung heutzutage u. a. auch im Hinblick auf erhöhte Effizienz der Administration und Bürgernähe (demokratisches Argument) relevant geworden (vgl. Sturm 2002: 48).

3. Historisch-politische Einführung

In diesem Kapitel, das letztlich aus Platzgründen erheblich gekürzt werden musste, soll dargestellt werden, wie der Zentrum-Peripherie-Konflikt in Spanien entstanden ist, und wie sich dieser bis zur Transition (ab 1975) entwickelt hat. Dabei liegt der Schwerpunkt natürlich auf Katalonien, wenn auch hin und wieder Parallelen oder Unterschiede zum baskischen Fall erläutert werden. Das Kapitel dient somit in erster Linie dazu, die politische Konstellation verständlicher zu machen, die wir als Ergebnis eines jahrhundertelangen historischen Prozesses nach Francos Tode vorfinden. Um den Rahmen nicht zu sprengen, sind daher leider manchmal größere Sprünge und starke Vereinfachungen vonnöten.

3.1. Die Entstehung des Zentrum-Peripherie- Cleavages in Spanien

“Frustrated state-building in the most glorious period of cultural splendor and world prestige allows a separate sense of history among an important minority among the elites of the periphery.” (Linz 1973: 48)

Wie Juan Linz (1973) beschreibt, ist das heutige Spanien das Resultat von frühem state-building[47] in einem Teil des Territoriums und spätem, da lange Zeit erfolglosem state-building des spanischen Staates an der Peripherie, was schließlich zusammen mit weiteren ungünstigen Faktoren das state nation-building im 19. Jahrhundert erschwerte und dazu beitrug, dass sich späte periphere Nationalismen gegen den Staat entwickeln konnten. Diese Entwicklung brachte den katalanischen Nationalismus hervor. Sie soll hier skizziert werden.

Der spanische Staat hatte sein heutiges Festlandterritorium bereits 1512, und damit früher als die meisten anderen europäischen Staaten, vollständig konsolidiert (Linz 1973: 33).[48] In diese Zeit fällt auch das ‘goldene Zeitalter’ der spanischen Geschichte: die Union der Königreiche Kastiliens und Aragoniens[49] durch die Heirat Ferdinands von Aragonien mit Isabella von Kastilien (1469), die Entdeckung Amerikas durch Columbus und die ‘Reconquista’ [50] (beide 1492), die Angliederung des Königreichs Navarra (1512) und die koloniale Expansion vor allem auf dem amerikanischen Kontinent, die unermessliche Gold- und Silbermengen nach Spanien brachten. Dieses avancierte so zur Weltmacht.

Der vergleichsweise frühe State-building-Prozess ging dabei vom Königreich Kastilien aus, welches die verschiedenen mittelalterlichen politischen Entitäten auf der iberischen Halbinsel nach und nach unter einem Monarchen vereinigte. Die Gebiete der eingeheirateten oder erworbenen Reiche – vor allem Aragonien (mit Katalonien)[51] und Navarra (ugf. späteres Baskenland) – konnten aber über lange Zeit ihre sogenannten fueros, d. h. Privilegien wie z. B. institutionelle Autonomie, Vetorechte, Steuervorteile oder die Befreiung von der Wehrpflicht,[52] behalten; und dies trotz mehrerer Versuche seitens des spanischen Staates, diese abzuschaffen. Zum katalanischen Nationalmythos als Unabhängigkeitskrieg und Motiv der Nationalhymne avancierte in diesem Zusammenhang La Guerra dels Segadors (1640) (wörtlich „Krieg der Schnitter“), bei der eine Masse ausgehungerter Ernteleute Barcelona stürmte und den Vizekönig ermordete, was zu einer katalanischen Rebellion führte. Während es Portugal in dieser Zeit gelang, sich endgültig von Kastilien loszueisen, scheiterte der Versuch Kataloniens, eine Republik mit Bindung an Frankreich zu bilden, denn „[t]he presence of French troops created discontent, as had those of the King of Spain previously“ (Linz 1973: 46). 1651 eroberte der spanische Monarch Katalonien zurück. Um den Konflikt endgültig beizulegen, gab er 1659 Nordkatalonien (heutiges Languedoc-Roussillon) an Frankreich ab, was das katalanische Sprachgebiet bis heute zweiteilt.

Diese und andere Schwierigkeiten bei der vollständigen ‘Gleichschaltung’ des katalanischen Fürstentums mit dem zentralisierten kastilischen Verwaltungsapparat verdeutlichen jedenfalls, dass das state-building nicht auf der gesamten Halbinsel gänzlich erfolgreich verlaufen war, was Linz mit „ early state-building of Castile and late state-building of Spain” (1973: 47f; Hervorh. im Original, L. O. ) auf den Punkt bringt. Institutionell gesehen blieb Spanien mit Ausnahme Kastiliens sehr heterogen.[53]

Erst 1716, nach dem sog. Erbfolgekrieg,[54] beseitigte der neue spanische König Philipp V. mit dem Decreto de Nueva Planta sämtliche fueros und annullierte die katalanischen Verfassungen, Gesetze und Institutionen.[55] Auch wenn Katalonien danach u. a. durch den Zugang zum Überseemarkt in eine ökonomische Wachstumsphase eintritt und der Konflikt über 100 Jahre zu ruhen scheint, so wurde die Erinnerung an die eigenen Institutionen später gezielt von Karlisten und Nationalisten als Mobilisierungs- und Legitimierungsmittel aufgegriffen (vgl. Linz 1973: 48f). Gleichzeitig prägte in Madrid das jahrhundertelang frustrierte state-building an der Peripherie wohl nachhaltig das Misstrauen in diese.

Der State Nation-building-Prozess, hier verstanden als vom Zentrum bzw. vom Staat ausgehende kulturelle Homogenisierungspolitik, beginnt in Spanien wie im restlichen Westeuropa ernsthaft Anfang des 19. Jahrhunderts. Allerdings erschwert der kolossale Abstieg der spanischen Monarchie in diesem Jahrhundert diesen Prozess enorm.[56] Zunächst wird zwar u. a. mit der gemeinsamen Vertreibung der napoleonischen Besetzer eigentlich eine gute Grundlage für einen gesamtspanischen Nationalismus geschaffen (vgl. Beramendi 2002: 118). Danach verliert Spanien allerdings nicht nur nach und nach sämtliche Kolonien – als letzte Kuba, die Philippinen und Puerto Rico 1898 –, sondern erlebt auch auf der iberischen Halbinsel eine äußerst konfliktive Periode mit mehreren Bürgerkriegen. Reform und Gegenre­form, Revolution und Militärputsch wechseln sich stetig ab. Zwischen Unabhängig­keits­krieg 1808 und Bürgerkrieg 1936 zählt Bernecker (1999: 57) „weit über 100 Regierungen“.

Von besonderer Wichtigkeit für die Herausbildung des Zentrum-Peripherie- Cleavage sind die drei Karlistenkriege (1833-40, 1847-49 und 1872-76),[57] ausgetragen zwischen jakobinisch inspirierten liberalen, zentralistischen, zunehmend säkularen und später republikanischen Modernisierern (‘Cristinos’, unterstützt von der Armee) und traditionalistischen, erzkatholischen Anhängern des Absolutismus nach Gottesgnadentum, den ‘Karlisten’ (Linz 1973: 49). Das Besondere daran ist, dass diese Bürgerkriege in erster Linie an den Peripherien ausgetragen wurden. Dies führt dazu, dass die Karlisten mangels Verbündeter versuchen, die Wiedereinführung bzw. den Erhalt der fueros mit zum Kriegsthema zu machen (vgl. Bernecker 1999: 63). So drehen sich die ‘Guerras Carlistas’ in erster Linie im Baskenland nach und nach immer mehr um den Erhalt der fueros. Auch wenn Katalonien nicht einheitlich reagiert (Barcelona eher liberal, Landesinneres eher karlistisch), tragen die dauerhaften Konflikte entscheidend mit zum Entstehen des Zentrum-Peripherie-Konfliktes bei (Linz 1973: 50). Aus einem religiös-säkularen cleavage (bei Lipset/Rokkan (1967) ‘Kirche vs. Staat’) entwickelt sich somit ein Zentrum-Peripherie- Cleavage (Linz 1973: 59); beide cleavages verstärken sich nun gegenseitig (‘segmented cleavages’) und werden im Baskenland zur dominierenden sozialstrukturellen Konfliktlinie (Beramendi 2002: 119),[58] während sie in Katalonien die Basis für einen Teil des konservativen Katalanismus bilden (vgl. Linz 1973: 50, 61).[59] Doch auch nach den Karlistenkriegen kann die konservative Verfassung der Restauration 1876, die zumindest den Wechsel von konservativen und liberalen Parteien in der Regierungsverantwortung (‘turno’) zulässt, das Land nicht wirklich stabilisieren.[60]

Der aber wohl wichtigste notwendige, wenn auch nicht hinreichende kausale Faktor bei der Herausbildung der peripheren Nationalismen ist der bis heute regional stark dispare Entwicklungsgrad. Sprich: das Zentrum der politischen Macht ist nicht dort, wo sich das Zentrum der ökonomischen Macht befindet (Moreno 2001: 78).[61] Denn Barcelona und die baskischen Provinzen bilden lange Zeit die einzigen Industrialisierungskerne im Spanien des 19. Jahrhunderts und sind den rückständigen, von einer Oligarchie aus Großgrundbesitzern kontrollierten Gebieten im Zentrum weit voraus (vgl. Bernecker 1999: 72).[62] Aber solange die katalanische industrielle Bourgeoisie noch von den Exporten in die spanischen Kolonien profitiert, bleibt die katalanistische Bewegung ein großteils kulturalistisches Phänomen (Hrochs Phase A): So beginnt ab Mitte des 19. Jahrhunderts die romantische und unpolitische Renaixença (‘Wiedergeburt’), ein Revival katalanischer Literatur, Geschichtsschreibung und vor allem Sprache. Auf die Erzeugnisse dieser kulturellen Katalanisten sollten sich später politische Katalanisten aller ideologischer Couleurs berufen (vgl. Beramendi 2002: 120). Bis 1906 allerdings „war Katalonien noch fest in der Hand der ‘turno’ -Parteien“ (Nagel 1991: 194).

Eine der beiden katalanistischen Hauptströmungen ist auf die republikanischen Föderalisten um Francesc Pi i Margall, eine progressistische Bewegung im Bürgertum, die auch Einfluss in den ersten Arbeiterbewegungen besaß, zurückzuführen (Carreras 2003: 238). Diese wenn auch gesamtspanische Bewegung verbreitete sich vor allem in Katalonien (Nagel 1991: 204). Der später auch vom bourgeoisen Regionalismus begangene Versuch, den rückständigen spanischen Staat vom fortschrittlichen Katalonien aus zu reformieren, scheiterte aber kläglich, wovon vor allem die föderale erste spanische Republik (1873)[63] zeugt, deren Verfassung nie richtig in Kraft treten konnte (Nagel 2002: 32).[64] Der Frust über die Unnachgiebigkeit des reaktionären kastilischen Zentrums ist wohl ein Hauptgrund dafür, dass die Katalanen sich schließlich auf sich selbst zurückgeworfen sehen und beginnen, partikularistische Lösungen anzustreben. Paradigmatisch hierfür ist Valentí Almirall, der 1886 mit seinem „Lo Catalanisme“ für Conversi (1997: 17) als ideologischer Begründer des politischen Katalanismus gilt, und der sich Zeit seines Lebens vom gesamtspanischen Föderalisten zum Katalanisten bzw. ‘katalanistischen Föderalisten’ wandelte (vgl. auch Linz 1973: 64).[65]

Almirall, der 1879 mit dem Diari Català die erste katalanischsprachige Tageszeitung und 1880 den Centre Català gründet, läutet Hrochs Phase B ein. Ihm gelingt es nämlich auf dem zweiten Katalanistischen Kongress 1883,[66] die politischen und kulturellen katalanistischen Bewegungen für wenige Jahre zu vereinen (ugf. 1883-1887). In diese Zeit setzt Linz die irreversible „ secession of Catalan political life from that of the remainder of Spain “, d. h. „the giving up by the leaders of Catalonia [...] o[n] the idea of solving the problems of a rapidly changing society in Catalonia by contributing within Spain-wide parties or movements to [a] solution for the whole country“ (Linz 1973: 63, meine Hervorh., L. O.). Als Almirall sich jedoch später vehement gegen die Weltausstellung in Barcelona (1888) ausspricht, spalten sich die Konservativen ab und gründen die Lliga de Catalunya (1887) (Conversi 1997: 19). Almiralls Centre Català wurde daraufhin zusehends isoliert und löste sich 1890 auf. Den nächsten Schritt beging der Katalanismus 1892 mit der Gründung der Unió Catalanista (UC) und deren Bases de Manresa,[67] als

„katalanistische Vereine aus vielen Orten des Landes in Manresa [zusammentraten], um eine lockere, aber nicht parteipolitische Vereinigung zu gründen, die nicht in erster Linie (wie die Föderalisten) an einem praktisch funktionierenden Zusammenleben unter einem gemeinsamen Dach interessiert war, sondern ideologisch in erster Linie das Recht des katalanischen Volkes verteidigte (Nagel 1991: 206).“

Mit der eher konservativen UC erfuhr also die Einmischung in gesamtspanische Belange ihre bislang rotundeste Ablehnung. Doch die großteils antiparteipolitische Haltung eines harten Kerns der Unió Catalanista trug mit zu deren späteren Spaltung und Schwächung bei. Denn 1901 schlossen sich die „‘Politischen’ der UC“ mit der großbürgerlichen Unió Regionalista zur Partei der Lliga Regionalista zusammen (Nagel 1991: 213).

Wie war nun das Großbürgertum zum Katalanismus gekommen? Hier kann der Verlust der letzten Kolonien nach dem spanisch-amerikanischen Krieg (1898) als entscheidender Katalysator betrachtet werden. Ein großer Teil der Bourgeoisie lehnte die Mitverantwortung an dem sog. ‘Desaster’ ab und „machte sich nun die von den Katalanisten propagierten Vorstellungen zu eigen, daß Fortschritt und Entwicklung nur innerhalb regionaler, politischer und administrativer Autonomie möglich seien“ (Nagel 1991: 211).[68] Da 60 Prozent der katalanischen Exporte allein nach Kuba gingen, war dessen Verlust für die katalanischen Industriellen besonders schmerzhaft. Für diese ist nun das Ende des spanischen Weltreiches „the foreseeable outcome of years of faulty centralism by a putrescent, corrupt administration“ (Conversi 1997: 25f). Der hier entstehende Zentrum-Peripherie-Konflikt erinnert somit auch eher ein wenig an das Stadt-Land- Cleavage von Lipset und Rokkan (1967): Eine fortschrittliche, industrielle Bourgeoisie (an der Peripherie) steht einer rückständige Agraroligarchie (im Zentrum) gegenüber, letztere zudem mit großem Einfluss auf die korrupte Administration.[69]

In jedem Fall bilden die protektionistischen, gemäßigt liberalen Interessen der katalanischen Bourgeoisie die Basis für einen Teil des katalanischen Regionalismus konservativer Prägung (Carreras 2003: 237f). Diesen re­präsentiert ab 1901 bis in die 30er Jahre dann besagte Lliga Regionalista, [70] die erste ausschließlich katalanische und lange Zeit hegemoniale Partei unter Enric Prat de la Riba und dem Millionär Francesc Cambó.[71] Sie träumt von Katalonien als Vorreiter der Erneuerung ganz Spaniens, ein katalanischer Imperialismus also, den Nagel (1991: 270) mit „am katalanischen Wesen soll Spanien genesen“ verhöhnt.

Doch der Mainstream-Regionalismus der Lliga entpuppt sich bald als zu bourgeois: Schon 1904 spaltet sich der linkskatalanistische Centre Nacional Republicà ab, versagt aber bei der Integration der Arbeiter, die, wenn sie sich nicht wie ein großer Teil anarchistischen Bewegungen anschließen, großteils in gesamtspanischen Organisationen oder aber gänzlich apolitisch verbleiben.[72] Die radikalere, da in der Tat nationalistische (nicht nur regionalistische) katalanische Linke sollte erst später größeren Zulauf erhalten (s. 3.2.).

Als eine Satirezeitschrift (Cu-Cut) antimilitaristische Karikaturen veröffentlicht, brennen Militärs deren Redaktion nieder, und die Madrider Regierung lässt jede Form von Vaterlandsbeleidigung unter Militärstrafrecht stellen (Nagel 1991: 291). Darauf verbünden sich 1907 alle auch nur leicht katalanistischen Parteien[73] kurzzeitig zur Solidaritat Catalana, die bei den Wahlen einen überwältigen Sieg einfährt. Dieses mythische Protestbündnis kann als Eintritt in Hrochs Phase C gesehen werden, auch wenn es wegen ideologischer Differenzen nur ein Jahr währt. Genauso bleibt die vorübergehende Mobilisierung antikatalanischer Ressentiments u. a. unter den zahlreichen, in großer Zahl auch aus spanischsprachigen Gebieten eingewanderten Arbeitern durch den Wendehalspopulisten Alejandro Lerroux gegen Ende des ersten Jahrzehntes ein ebenso kurzer Schreck. Die im Baskenland eintretende Spaltung der Arbeiterbewegung in Basken und Einwanderer blieb in Katalonien aus.

Ein letzter Faktor, der das Entstehen des Zentrum-Peripherie-Konflikts ebenfalls begünstigte, soll hier nicht außer Acht gelassen werden: Die relative Abwesenheit von militärischer Bedrohung Spaniens durch andere Mächte. Somit konnte die feindliche Bedrohung als einender Faktor nicht greifen. Spanien wurde seit Napoleon nie wieder angegriffen.

Wie die nun abschließende und zusammenfassende Abbildung 3.1. noch zeigt, ist das soziale Prestige von Symbolen der Regionalkultur (in erster Linie Sprache) entscheidend für den Erfolg von peripherem nation-building. Gilt die Regionalsprache als provinziell (wie z. B. in València oder Galicien), werden die kulturellen Revivals bei der Bevölkerung auch bei starker Mobilisierung durch Eliten nur schwer ankommen, was es regionalistischen oder nationalistischen Führern stark erschwert, ihren politischen Projekten Legitimität zu verleihen.

Abb. 3.1.: Entstehung/Entwicklung von Aspekten peripherer Nationalismen Spaniens[74]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] In Anlehnung an die CSU, die bayrische Schwesterpartei der UDC (La Vanguardia 11.10.2004).

[2] Navarra ist hier ein Grenzfall, da es historisch gesehen zum Baskenland als ‘historische Nationalität’ gerechnet werden kann, ethnisch aber in weit größerem Maße spanisch als baskisch ist.

[3] Autonome Gemeinschaften (Comunidades Autónomas), spanische Regionen mit Exekutiv- und Legislativkompetenzen, in Funktion und Kompetenzen in etwa vergleichbar mit den deutschen Ländern.

[4] Zu diesen zählen Katalonien, das Baskenland und Galicien. Obwohl letzteres ethnisch gesehen weitaus homogener ist, sind dort die politischen nationalen Bewegungen stets vergleichsweise schwach geblieben.

[5] Plurinationale bzw. „multinationale“ Gesellschaften sind solche „mit zwei oder mehr ethnisch-nationalen Subgruppen von jeweils erheblicher Stärke, hohem kulturellen Niveau und beträchtlichem Grad politischer Organisation und politischen Einflusses“ (Haller 1993: 37).

[6] Ausgenommen werden dabei Sonderkompetenzen im Bereich konstitutionell explizit vorgesehener „Unterschiedlichkeitstatsachen“ (‘fets diferencials’), strukturelle Merkmale, die unmittelbar von der sozialen Realität oder Geschichte einer bestimmten Region herrühren, z. B. die Existenz des Katalanischen als offizielle Sprache neben dem Kastilischen (Spanisch) in Katalonien, València und auf den Balearen (s. 4.3.2.).

[7] Requejo (1998a: 129ff) schlägt z. B. im Rahmen eines asymmetrischen Föderalismus verschiedene Mechanismen auf symbolisch-linguistischer, institutioneller, kompetenzieller, finanziell-ökonomischer und internationaler Ebene vor, die drei Hauptziele artikulieren sollen: die Anerkennung gleichberechtigter konstituierender Völker, die Selbstregierung eines jeden Volkes und die gemeinsame Regierung des Staates. In die gleiche Richtung geht Fossas (2000: 40ff), der die Erneuerung eines “konstitutionellen Konsens unter Nationalismen” fordert (vgl. auch Fossas 1999b: 53). Dieser hätte die Anerkennung Kataloniens, Galiciens und des Baskenlandes als „nationale Gemeinschaften” zur Grundlage. Davon ausgehend sollen verschiedene Maßnahmen der Plurinationalität Spaniens auf asymmetrische Weise zum Ausdruck verhelfen.

[8] Die Unterscheidung von ‘Nationalitäten’ (Galicien, Katalonien und das Baskenland (Navarra möchte ich als Sonderfall hier einmal ausklammern)) und ‘Regionen’ (alle anderen AGs) werde ich im weiteren Verlauf beibehalten, auch wenn verschiedene andere AGs sich in ihren Autonomiestatuten (mittlerweile) (u. a. Andalusien, Aragón, València, Kanarische Inseln) ebenfalls „Nationalitäten“ genannt haben. Denn diese Selbsttitulierung korrespondiert in keiner Weise mit der tatsächlichen Identität ihrer Bürger, die ihre AG in einer weitaus höheren Prozentzahl als ‘Region’ (zwischen 78% und 88%) denn als ‘Nation’ (zwischen 4% und 7%) einstufen (Mota 1998; Daten von 1992).

[9] Weitere Beispiele wären Korsika in Frankreich oder das Aosta-Tal, Sizilien und Südtirol in Italien.

[10] „.. we should consider as cross-national any and all theoretically guided studies in a single country, even if they contain no references to other countries identified by name” (Przeworski 1987: 32).

[11] Schottland, Flandern und Katalonien werden übrigens oft für vergleichende Analysen herangezogen. So vergleicht z. B. Aguilera de Prat (2002) nationalistische Parteien in diesen drei Regionen u. a. auf deren nation-building- Strategien sowie den Einfluss der Parteien auf die gesamtstaatliche Regierbarkeit.

[12] Selbstverständlich nutzen bei einer antidemokratischen politischen Kultur, einer nonexistenten Bürgergesellschaft oder fehlender Rechtsstaatstradition auch die besten Institutionen nichts. Da Spanien aber zu Zeiten der Transition über all diese Grundvoraussetzungen in größerem Maße als z. B. heutige Transitionsstaaten in Mittel- und Osteuropa verfügte, ist den Institutionen m. E. eine Hauptrolle beizumessen.

[13] S. u. a. Guibernau (2001) oder die Sammelbände von Margedant (2002 und 2004), der Dezentralisierungs- und Föderalisierungsprozesse in Europa anhand verschiedener Ländereinzelstudien vergleicht. Die vergleichenden Rechtswissenschaften scheinen hier wesentlich aktiver zu sein. Zu empfehlen sind z. B. Heinemann (2000) mit einem umfassenden Rechtsvergleich von regionalen Erscheinungsformen in sechs europäischen Staaten; mit Fokus auf Großbritannien: Mey (2003) (auch wenn dieser seine Arbeit als „kulturwissenschaftlich“ bezeichnet, ist sie doch weitgehend formal-juristisch).

[14] S. zu Polen bspw. Olewińska (2004) oder zu Ungarn Dieringer (2004).

[15] Was Spanien zu einem Sonderfall macht, ist, dass die osteuropäischen nationalen Minderheiten abgesehen von den Roma alle einen ‘Referenzstaat’ besitzen (z. B. Russen im Baltikum), der z. B. den Katalanen fehlt.

[16] Kleinere Publikationen sind erschienen u. a. von Nagel (2002 und 2003b), Kraus (2001) und Bernecker (1996 und 2004). Unter den früheren Werken ist in erster Linie Mathée (1988) zu nennen.

[17] Während Kraus’ Abhandlung (1996) ein umfassendes, informatives und qualitativ hochwertiges Werk darstellt, ist von Brincks mit zahllosen sachlichen Fehlern gespickter Dissertation abzuraten. Um so schlimmer, dass die Bibliothek der Viadrina als einziges deutsches Werk zum Thema nur Brincks irreführendes Buch im Bestand hat...

[18] Unter den größeren englischsprachigen Publikationen mit besonderem Augenmerk auf Katalonien sind u. a. Moreno (2001), McRoberts (2001), Conversi (1997) sowie mit Abstrichen Agranoff (1999) zu nennen. Kurz vor der Abgabe dieser Arbeit schaffte sich die Bibliothek noch das allerdings empfehlenswerte Buch von Guibernau (2004) zum katalanischen Nationalismus an.

[19] So z. B. der Anstieg der Wählerstimmen für die ERC in Katalonien und den BNG in Galicien oder der Plan Ibarretxe im Baskenland (s. hierzu Abschnitt 5.3.).

[20] Dies kam z. B. beim Referendum im Februar zur EU-Verfassung zum Vorschein, die in Katalonien und dem Baskenland – obwohl diese traditionell als die proeuropäischsten Regionen Spaniens gelten – deutlich weniger Befürworter und Enthaltungen fand als in Restspanien (La Vanguardia 21.2.2005).

[21] S. hierzu insbesondere Nagel (2004).

[22] Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich in erster Linie auf Vorlesungsmaterialien und Mitschriebe aus der Lehrveranstaltung zu Nationalismus-Theorien (Teoria Política II) von Klaus-Jürgen Nagel (2003a) an der Universitat Pompeu Fabra sowie auf das hervorragende Buch von Özkirimli (2000).

[23] Emmanuel Sieyès (1789) gilt als Vater der Auffassung, die Nation sei die Gesamtheit aller gleichberechtigten Staatsbürger, in seinen Worten „a body of associates, living under a common law, and represented by the same legislature“. Dieser sog. ‘staatsbürgerliche’ Nationalismus wurde zum Motto der französischen Revolution. In den zunächst staatenlosen ‘Spätzünder’-Nationen Mittel- und Osteuropas (aber auch in Katalonien) wurde der Nationenbegriff dann allerdings mit kulturellen Elementen unterfüttert, was Hans Kohn mit seiner Unterscheidung vom ‘westlichen’ (staatsbürgerlich-aufklärerischen) und ‘östlichen’ (kulturalistischen) Nationalismus wiedergibt (Özkirimli 2000: 41).

[24] Ein Herrschaftsverhältnis zeichnet sich aus durch die „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1972: 28, meine Hervorh., L. O.).

[25] Staatliche Herrschaft entspricht heutzutage weitgehend Webers „legal-rationale[m]“ Herrschaftstyp. D. h., dass der Staat seine Legitimität dadurch erlangt, dass die Beherrschten „an die Geltung legaler Satzung glauben“ (Weber 1972: 822; vgl. auch Parkin 1982: 72ff). Ist der ‘Herrscher’ also über Wege an die Herrschaft gekommen, die den gesetzlich vorgesehenen Prozeduren (Wahlen etc.) entsprechen, so gilt er als legitim.

[26] Dies versucht z. B. Joseph Stalin (1973: 15): „Eine Nation ist eine stabile Gemeinschaft, historisch gewachsen, mit Sprache, Territorium, ökonomischem Leben und Psychologie, die sich in einer kulturellen Gemeinschaft manifestieren.“

[27] Betrachtet man z. B. Wörterbücher verschiedener Sprachen, findet man je nach Sprache andere Definitionen des Wortes ‘Nation’. So definiert das offizielle Wörterbuch der spanischen Sprache die Nation u. a. als „Gesamtheit aller Einwohner eines Landes, die von ein und derselben Regierung regiert werden“. Im Wörterbuch der katalanischen Sprache sind unter ‘Nation’ hingegen u. a. keine Verweise auf eine gemeinsame Regierung als Definitionskriterium zu finden (Nagel 2003b).

[28] Das „[c]laiming its own state” ist z. B. auch bei Mann (1994: 2) nicht von der Nation wegzudenken.

[29] Geht es darum, wie und warum Nationen entstehen bzw. erfunden werden, so gibt es unzählige Theorien hierzu. Zu den bekanntesten gehört Ernest Gellners über viele Jahre paradigmatischer, strukturfunktionalistischer Ansatz. Gellner versteht Nationen und Nationalismen als funktional notwendige Nebenprodukte der Modernisierung, denn der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft macht eine umfassende kulturelle Standardisierung (vor allem der Sprache) nötig. Nach Gellner wird die Nation also mit der Modernisierung „erfunden“, weil erst die Nation die standardisierte Kultur und Identität bereit stellt, mit der die moderne Industriegesellschaft bestehen kann. Dabei ist es egal, ob die Nationalisten, die die Nation, erfinden, dabei auf eine tatsächlich existierende Kultur oder Geschichte zurückgreifen oder nicht. Als wichtigster Gegner Gellners gilt dessen Schüler Anthony D. Smith, ein Vertreter des sog. „Ethnosymbolismus“ (Özkirimli 2000: 174) oder „Ethnomythologismus“ (Nagel 2003b). Dieser ist der Auffassung, dass Nationen und deren Geschichte(n) zwar einerseits ‘erfunden’ sind, es andererseits aber unabdingbar ist, dass deren Erfinder auch auf tatsächliche ethnische (historische und kulturelle) Elemente zurückgreifen (Sprache, Abstammung, gemeinsame Kriege etc.). Ansonsten droht die Identifikation mit der Nation in der Bevölkerung auszubleiben. Nationalisten sind nach Smith (1997: 58) somit „eine Art Archäologen“, oder anders ausgedrückt eine Mischung aus ‘Gastronomen’ und ‘Geologen’, da sie wie Geologen in den tiefen Schichten der Geschichte historische Tatsachen ausgraben, ihnen aber wie Archäologen im Sinne einer ‘Nationalgeschichte’ Kontinuität zu geben versuchen. Der ‘gastronomische’ Teil besteht darin, dass sie zusätzlich neue ‘nationale’ Mythen und Symbole erfinden (Hymne, Flagge etc.). Wichtig ist für Smith, dass es ohne Ethnie auch keine Nation geben kann, eine Ethnie aber nicht mit einer Nation gleichzusetzen ist.

[30] Z. B.: eigener Staat, Anschluss an einen anderen Staat, Unterordnung unter einen Staat unter der Bedingung, dass dieser ihm Selbstregierungskompetenzen zugesteht etc..

[31] Ob dies tatsächlich so ist, ist irrelevant. Die Menschen, die sich die Nation vorstellen, kreieren sie auch als (vorgestellte) Gemeinschaft, die damit nach Durkheim zu einem ‘sozialen Tatbestand’ wird. Die Nation hört also auch zu existieren auf, sobald die Menschen aufhören, sie sich als solche vorzustellen.

[32] Das Hauptunterscheidungsmerkmal zur Nation ist der nicht-politische Charakter der Ethnizität, wie ihn auch Beramendi (2000: 99) beschreibt: als „set of objective or intersubjective characteristics which are of a non-political nature: language, specific traits of the material and spiritual culture (including religion), etc.. Along with the Volksgeist, ethnicity can constitute the essential raw material for both the organic concept of nation, and for national identity. In any case, ethnicity is accompanied by a greater or lesser degree of collective consciousness; when this does not result in the demand for political rights based on ethnicity, then I refer to it as ethnic consciousness [instead of national consciousness, L. O.]” (meine Hervorh., L. O.).

[33] Nagel (1991: 5) bezeichnet ‘Autonomismus’ in Berufung auf Ucelay da Cal zwar als „a nothing-word“. Hier soll es nichtsdestoweniger gleichbedeutend mit ‘Regionalismus’ verwendet werden.

[34] So z. B. Aja (2003: 288). Es gibt gleichwohl ebenfalls Strömungen, die ‘Kosouveränität’ anstreben.

[35] 2001 verbindet Caminal den katalanischen Nationalismus allerdings noch eindeutig „mit dem Ziel der Unabhängigkeit Kataloniens“ und „den katalanischen Ländern“ (Caminal 2001: 145), d. h. die Gebiete, in denen Katalanisch gesprochen wird (Katalonien, València, Balearen, ein Teil Aragoniens, Roussillon (Frankreich) bzw. Nordkatalonien, Andorra und L’Alguer/Alghero (Stadt auf Sardinien)).

[36] Die Positionen basieren auf der Einschätzung der Parteien durch alle Befragten in Katalonien nach den Regionalwahlen 1992. PSC wurden damals deutlich españolistischer, PP deutlich rechter eingestuft, was hier leicht korrigiert wurde, da sich der PSC spätestens seit 1996 zusehends katalanistischer äußert und der PP sich der Mitte angenähert hat. Leider lagen mir keine neueren Daten vor.

[37] S. hierzu den Vorschlag der ERC einer „Verfassung des freien Staates Katalonien“ (Ridao/Escudé 2003), die Konferenz „Catalunya, horitzó 2014“, unter der Leitung von conseller en cap (eine Art ‘Chefminister’ der katalanischen Regierung) Josep Bargalló (Gencat 2004), auf der das Jahr 2014 als Zieljahr für die Unabhängigkeit Kataloniens propagiert wird (La Vanguardia 11.5.2004), oder der kürzliche Vorschlag einer Verfassungsänderung, um den AGs das Recht auf Sezession zuzugestehen – CiU stimmte übrigens mit Nachdruck dagegen (La Vanguardia vom 5. und 6.8.2005).

[38] Auch wenn CiU hin und wieder mit Forderungen auf sich aufmerksam machte, in denen das Selbstbestimmungsrecht für Katalonien oder eine asymmetrisch-föderale oder konföderale Staatsform gefordert wird (s. 5.3.), so hatte dies nie politische Konsequenzen: Den politischen Alltag prägte der pragmatische Autonomismus, der ‘pactisme’. Dies war so bereits unter den konservativen Regionalisten der Lliga unter Prat de La Riba zu Anfang des Jahrhunderts, dessen Schriften eindeutig nationalistisch inspiriert waren (Prat de La Riba 1978), dessen Politik aber ‘nur’ regionalistisch genannt werden kann.

[39] Neben der deutschen Presse redet so z. B. auch Brinck (1996: 10) von „Regionalismen“.

[40] Auf diese Begründung stützt sich auch Kraus (1996: 23f).

[41] „A nation does not have resources like coercive powers or taxes to demand obedience, only the nation-state or the state supporting the aspirations of a nation can enforce behaviour, and provide resources to achieve national goals“ (Linz 1993: 359).

[42] Dies soll keineswegs heißen, dass vorgeblich kulturalistische Minderheitenbewegungen auch wirklich immer dem Interesse entspringen, eine Minderheitskultur zu retten. In vielen Fällen dient die Berufung auf kulturelle Rechte bzw. auf die ‘Nation’ als ein Vehikel, das den Herrschaftsinteressen peripherer Eliten Legitimität bei einer breiten Masse verschaffen soll. Regionalistische oder nationalistische Bewegungen basieren also letzten Endes, wie Dahrendorf (vgl. 1957: 162ff) sagen würde, auf nichts anderem als auf der ungleichmäßigen Verteilung von Herrschaftsbefugnissen, die mit einem Legitimitätsverlust des Sanktionsmonopols der herrschenden Positionen (hier dem Staat) einhergeht.

[43] Da der Konflikt bis heute Bestand hat, sieht u. a. Linz (1993) die einzige Lösung darin, das nation-building beiseite zu legen und stattdessen state-building zu betreiben, um einen „Nicht-Nationalstaat“ zu schaf­fen. Denn da für die Loyalität zu einem Staat keine emotionale Identifikation wie bei einer Nation vonnöten ist, lassen sich verschiedene nationale Gemeinschaften nur dann in einen Staat integrieren, wenn dieser Staat seine Konnotation als ‘nation builder’ der hegemonialen Staats-Nation (in Spanien: Kastilien) verliert.

[44] Ich stütze mich bei meinen Erläuterungen zu Hroch auf Özkirimli (2000: 156-165).

[45] Zudem gab es zwei „emerging nations with a developed culture and an ethnically homogenous elite“ (Italien und Deutschland) (Özkirimli 2000: 157).

[46] Einige weitere Kriterien, die Spanien als föderalistischen Staat ausscheiden lassen, sind: Fehlen einer zweiten territorialen Kammer wie dem Bundesrat, eine zentrale Gemeindeverfassung, Nicht-Beteiligung der AGs an der Wahl der Verfassungsrichter, keine Mitentscheidungsrechte der AGs bei Verfassungsänderungen etc..

[47] Unter state-building verstehe ich die Konsolidierung von Staatsgewalt und Staatsgebiet u. a. durch Zentralisierung von staatlicher Gewalt und Verwaltungsapparat sowie (militärisches) Eindringen, Unterwerfen bzw. Aneignen der Peripherie oder schlichtweg neuer Gebiete.

[48] Eine Ausnahme bildet Portugal, das zwar 1580 an Kastilien fiel, sich aber 1640 wieder unabhängig machte.

[49] Katalonien bildete damals eine der vier Kronen (Königreiche Aragonien, València und Mallorca sowie Fürstentum Katalonien) innerhalb der aragonesischen Konföderation, die ihren Königssitz in Barcelona hatte.

[50] Die 1492 vollendete ‘Rückeroberung’ der von den Arabern besetzten iberischen Halbinsel.

[51] Aragonien hatte seine Blütezeit im Mittelalter als Großmacht auf dem Mittelmeer.

[52] Da der kastilische König in seinem Krieg gegen die Mauren die Hilfe der befestigten Städte der anderen Königreiche dringend benötigt hatte, war er diesen mit fueros entgegen gekommen, die auch nach der Fusion der Kronen bestehen blieben.

[53] Wie Linz anführt, zeugt der damalige Königstitel exemplarisch von der Unabgeschlossenheit des spanischen State-building -Prozesses: „The king was not king of Spain, but king of Castile, of Aragón, count of Flanders, lord of Vizcaya, duke of Milan and so on“ (Linz 1973: 97).

[54] Im Erbfolgekrieg stritten sich Kastilien und Aragonien um den Nachfolger auf den Thron Karls II., der ohne Erben verstorben war. Kastilien, in einer Allianz mit Frankreich, bevorzugte Philipp von Anjou, den Neffen des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV.. Aragonien – und damit auch Katalonien – präferierte den habsburgischen Erzherzog Karl von Österreich und hoffte dabei vergebens auf die Hilfe Englands. 1714 nahmen die Truppen Philipps V. schließlich Barcelona ein, womit den katalanischen Partikularismen auf institutioneller Ebene für zwei Jahrhunderte ein Ende gesetzt wurde. Fortan ersetzte Spanisch das Katalanische als Amtssprache und wurde später (1857) auch zur Sprache des Erziehungssystems (Linz 1973: 54).

[55] Navarra, das Gebiet der heutigen baskischen und navarresischen AGs, blieb davon vorerst ausgenommen.

[56] Dies steht in Kontrast zum erfolgreichen nation-building in Frankreich in diesem Jahrhundert, das Spanien großteils kopieren wollte. Während Frankreich aber einen starken Staat, ein florierendes Kolonialimperium und eine international angesehene Hochkultur besaß, war Spaniens goldenes Zeitalter längst vorüber; der Staat war korrupt und ineffizient, das Kolonialreich am Zerbröckeln und das überdurchschnittlich starke Staat-Kirche- Cleavage zerrüttete das Land in mehrere Bürgerkriege (Linz 1973: 101, 103).

[57] Nach dem Tode Königs Ferdinands VII. (1833) war erneut die Nachfolge nicht eindeutig geklärt. Die Befürworter der traditionellen, absolutistischen Monarchie standen für Ferdinands Bruder Karl (daher Karlisten) ein. Isabella, die erst dreijährige Tochter Ferdinands und zweite Thronfolgeoption, wird zunächst von deren Mutter, der Regentin María Cristina, vertreten, die sich gegen Karl mit den Vertretern des gemäßigt-liberalen Spektrums verbündet, das die Einführung einer konstitutionellen Monarchie verficht (Bernecker 1999: 63).

[58] Die Karlistenkriege endeten im Baskenland mit der Abschaffung der letzten dortigen fueros (1876) . Auch wenn dort bereits 1878 das sog. ‘concierto económico’ eingeführt wurde, das die Basken bis heute dazu befähigt, die Steuern auf ihrem Territorium selbst einzuziehen und davon einen Teil an den Zentralstaat für dessen Leistungen abzugeben (vgl. Conversi 1997: 46f), so mutierten dort viele der Karlisten später zu Nationalisten, so u. a. Sabino de Arana, der ‘Erfinder’ des baskischen Nationalismus (Conversi 1997: 56f).

[59] Bis zum Franquismus spielte die Karlistenpartei eine wichtige Rolle u. a. als Koalitionspartner der Lliga (vgl. Nagel 1991: 194, 225). Die spätere Unió Democràtica de Catalunya, die bis heute existiert, gibt ihre Gründungsmitglieder nach eigenen Angaben auch u. a. mit ehemaligen Karlisten an (UDC 2005).

[60] Bernecker (1999: 69) weist darauf hin, dass es offiziell verhältnismäßig ‘demokratische’ Wahlen gab, doch die beiden größten Parteien (Liberale und Konservative) hatten einen Pakt geschlossen, demzufolge die Wahlen so manipuliert wurden, dass jede der beiden Parteien immer abwechselnd an die Regierung kam (s. die amüsanten Episoden hierzu bei Nagel (1991: 182-5)). Korruption der Parlamentarier war der Normalfall.

[61] Besteht kulturelle Distanz zum Zentrum, so sind nach Rokkan ökonomische (und politische) Ressourcen der Peripherie eine von vier entscheidenden Faktoren, die Widerstand der Peripherie gegen vom Zentrum ausgehende Standardisierungs- und Integrationspolitik begünstigen (Rokkan 1973: 18).

[62] Ein Beispiel für die Dynamik Kataloniens im Vergleich zu Restspanien nennt Moreno (2001: 83): Kataloniens Bevölkerung wuchs zwischen 1787 und 1857 um fast 90%, die Restspaniens nur um etwa 10%.

[63] Im gleichen, chaotischen Jahr (es tobte auch noch der dritte Karlistenkrieg) wurde von Föderalisten und Anarchisten in Barcelona auch der ‘katalanische Staat’ (Estat Català) ausgerufen (Nagel 1991: 203f).

[64] Wie Nagel (2002: 32) erläutert, trug das „schnelle Scheitern dieser als ‘revolutionär’ angesehen föderalen Republik .. in der Folge zur Disqualifizierung des Föderalismus bei, der als eine extremistische linke Alternative wahrgenommen wurde.“ Nicht nur für die extreme Rechte war bzw. ist Föderalismus daher sowohl 1978 bei der Ausarbeitung der Verfassung als auch noch heute ein „f-word“ (Nagel 2002: 31).

[65] Er befürwortete wie später auch Prat de la Riba eine multinationale iberische Föderation mit Portugal, in der die Teilstaaten die jeweiligen Nationalitäten repräsentieren würden.

[66] Auf diesem wurde u. a. die Mitgliedschaft von Katalanen in „korrupten“ spanischen Parteien verurteilt. Auch votierte man symbolisch-demonstrativ für das katalanische Zivilrecht, den kooffiziellen Status von Kastilisch und Katalanisch, ökonomischen Protektionismus und katalanische Selbstregierung (Conversi 1997: 19).

[67] Ebenfalls zum Mythos gewordener Forderungskatalog an den spanischen König, in dem u. a. politische Autonomie, Sprachrechte und Steuereinzugskompetenzen verlangt wurden (Conversi 1997: 21).

[68] Dabei spielte auch ein großzügiges Autonomieangebot (u. a. die spätere Mancomunitat (s. u.)) des Generals Polavieja eine Rolle, das ein großer Teil der UC als „pure[n] Regionalismus“ verschmäht hatte (Nagel 1991: 210). Der für Parteipolitik offene Teil der UC, darunter Enric Prat de la Riba (späterer Präsident der Mancomunitat) nahm das Angebot an und gründete mit den polaviejistas den Centre Nacional Català, der mit der Unió Regionalista 1901 die Lliga Regionalista gründete.

[69] Diese Konfliktlinie war im Baskenland nicht von Bedeutung. Dort war die Bourgeoisie zahlenmäßig kleiner, reicher und aufgrund von anderen Wirtschaftsstrukturen (Bank und Stahlindustrie waren dort bedeutender als in Katalonien (viel Textilindustrie)) an Gesamtspanien assimiliert.

[70] In den 30er Jahren umbenannt in Lliga Catalana.

[71] Prat de la Ribas „La Nacionalitat Catalana” (1978) [1906] und Cambós „Per la concòrdia“ sind bis zum heutigen Tage Schlüsselwerke des politischen Katalanismus geblieben.

[72] Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Stellung der Arbeiter zum Katalanismus s. Nagel (1991).

[73] Die linksrepublikanische Unión Republicana (von der sich darauf ein antikatalanischer Teil unter Alejandro Lerroux abspaltet), die Lliga Regionalista, die Unió Catalanista sowie die Partei der Karlisten.

[74] Erklärung: A: Arbeit; K: Kapital, S: Stadt, L: Land, P: Peripherie, Z: Zentrum.

[75] vgl. Linz 1973: 82.

[76] Von Diglossie spricht man, wenn in bilingualen Gebieten beide Sprachen unterschiedliches soziales Prestige besitzen. Während in Katalonien Katalanisch die Sprache eines Teils der oberen Schichten war und ist, hat die Vernakularsprache in anderen Regionen meist eine provinzielle Konnotation (vgl. deutsche Dialekte).

[77] Die Hypothese, dass die Gewaltlosigkeit des katalanischen Nationalismus auf dessen inklusiven Charakter zurückzuführen ist (inklusiv = Definition der Zugehörigkeit zur Nation anhand von erwerbbaren Merkmalen (z. B. Sprache), daher integrationsfördernd), während die ‘Exklusivität’ des baskischen Nationalismus (exklusiv = basierend auf primordialen, nicht erwerbbaren Merkmalen (z. B. Rasse)) indirekt für dessen Gewaltbereitschaft verantwortlich ist, stammt von Conversi (1997).

Final del extracto de 119 páginas

Detalles

Título
Recht auf Gleichheit vs. Recht auf Differenz. Dezentralisierung und peripherer Nationalismus am Beispiel Kataloniens
Universidad
European University Viadrina Frankfurt (Oder)  (Kulturwissenschaftlichen Fakultät)
Calificación
1,1
Autor
Año
2005
Páginas
119
No. de catálogo
V48744
ISBN (Ebook)
9783638453516
ISBN (Libro)
9783638708401
Tamaño de fichero
1763 KB
Idioma
Alemán
Notas
Die Arbeit zeichnet die Entwicklung der Kompetenzverteilung im spanischen Autonomiestaat von einer stark asymmetrischen (=mehr Autonomie für die "histor. Nationalitäten") zu einer weitgehend symmetrischen territorialen Verteilung (=gleichviel für alle) nach und untersucht den Einfluss dieser Entwicklung auf die öffentliche Meinung in Katalonien im Vergleich zu anderen Autonomen Gemeinschaften. Wächst mit der zusehenden Symmetrie auch das Verlangen nach eigener Autonomie oder gar Unabhängigkeit?
Palabras clave
Recht, Gleichheit, Recht, Differenz, Dezentralisierung, Nationalismus, Beispiel, Kataloniens
Citar trabajo
Dipl. Kult. Lukas Oldenburg (Autor), 2005, Recht auf Gleichheit vs. Recht auf Differenz. Dezentralisierung und peripherer Nationalismus am Beispiel Kataloniens, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48744

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