Das Motiv des Doppelgängers in der Postmoderne. Eine Analyse David Finchers Films "Fight Club"


Thesis (M.A.), 2003

139 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Motiv des Doppelgängers
2.1. Dualität
2.2. Zwillinge
2.3. Die literarische Entwicklung
2.4. DER DOPPELGÄNGER- Fjodor Dostojewskij
2.4.1. Dostojewskijs Doppelgängerthematik
2.5. DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE
2.5.1. Stevensons Doppelgängerthematik
2.6. Zusammenfassung

3. Die Postmoderne
3.1. Kurze Geschichte des Begriffs ‚Postmoderne’
3.2. Jameson: die Kultur der Postmoderne
3.3. Baumann: die Ungewissheit in der Postmoderne
3.4. Zusammenfassung
3.5. Zur Erläuterung: zum Begriff des Subjekts
3.6. Postmoderne und Film

4. Die Darstellung des Motivs des Doppelgängers in FIGHT CLUB - eine Analyse
4.1. Der Vorspann – Die Setzung der Thematik
4.2. Die Darstellung des gesellschaftlichen Umfelds
4.2.1. Namenlosigkeit und die erhöhte Anzahl der Namen
4.2.2. Die materiellen Namen/das Kapital/die Oberfläche
4.2.3. Soziale Distanz
4.2.4. Der Zerfall von Männlichkeit – Die Verwirrung der sexuellen Identität
4.2.4.1. Männlichkeit
4.2.4.2. Der verschwundene Vater
4.2.4.3. Die symbolische Kastration
4.2.5. Zusammenfassung
4.3. Die Spaltung in der schizophrenen Erfahrung
4.3.1. Wahnsinn
4.3.2. Die schizophrene Struktur
4.3.3. Das Zerreißen der Signifikantenkette
4.3.4. Depersonalisation
4.3.5. Der Doppelgänger - Die Figur Tyler Durden
4.3.5.1. Ideal-Ich
4.3.5.2. Kompensation
4.3.6. Zusammenfassung
4.4. Die Destruktion als produktives Element
4.4.1. Die Destruktion des Körpers
4.4.1.1. Der ‚maskuline’ Faustkampf
4.4.1.2. Fragmentierung
4.4.1.3. Das verborgene Fleischlich-Organische
4.4.1.4. Bewusstsein durch Schmerz
4.4.2. Die Zerstörung der Symbole der Zivilisation
4.4.2.1. Die manipulativen Strukturen
4.4.2.2. Die widerständigen Vorläufer
4.4.2.3. Mayhem
4.4.2.4. Die ‚reine’ Destruktion
4.4.2.5. Das Kollektivsubjekt
4.4.2.6. Die ‚befreiende’ Destruktion
4.4.3. Zusammenfassung

5. Fazit: Der Doppelgänger als Wiederhersteller des Subjekts

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang
7.1. Ausgewählte Produktionsdaten
7.2. Ausgewählte Bilddokumentation

1. Einleitung

Evan The Bomber Bosley heißt der Sieger im Schwergewicht 2002. Der Wettbewerb nennt sich ‚Toughest Man of Southern West Virgina’. Hier trifft man(n) sich und schlägt sich. Es ist ein Boxkampf ohne Boxer. In der amerikanischen Provinz findet der Wettbewerb regelmäßig statt. Teilnehmen kann jeder. Der Zuspruch ist groß. Von Teilnehmern und Zuschauern werden die Kämpfe als „willkommene Unterbrechung eines monotonen, zermürbenden Alltags“ verstanden. Die Kämpfer suchen in den Kämpfen ein anderes Leben und sich selbst. (vgl. Böhm 2002: 53) Wie sehr jener Bericht aus der Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Motiv des Doppelgängers in der Postmoderne wie es in dem Film FIGHT CLUB dargestellt ist zusammenhängt, werden die folgenden Ausführungen dieser Arbeit verdeutlichen. Offensichtlich in dem erwähnten Zeitungsbericht wird jedoch der Wunsch der Kämpfenden nach einem neuartigen Leben und einem neuartigen Lebensgefühl, welches, so scheint es, mit Gewalt gegen den eigenen Körper versucht wird, herzustellen. Dies ist eine Thematik auf die ich während der Analyse des Films noch zurückkommen werde, denn die Funktion und die Erscheinung des Doppelgängers weisen hiermit eine enge Verbundenheit auf. Ziel dieser Arbeit ist es, genau jene Funktion sowie Entstehungsgrund des Doppelgängers in der Postmoderne herauszuarbeiten. Geschehen soll dies anhand einer Analyse des Films FIGHT CLUB (1999), da sich dieser Film mit der Figur des Doppelgängers in einer komplexen Form auseinandersetzt. Trotz einer ausführlichen Analyse wird es dennoch nicht möglich sein, den Film in seiner gesamten Komplexität zu berücksichtigen. Daher werde ich mich auf die für dieses Thema wichtigsten Punkte beschränken. Geklärt werden sollen demnach die Fragen nach der Art des Doppelgängers, dessen Entstehungsgrund, Ausdruck und Funktion. Möglicherweise lässt sich am Ende dieser Arbeit anhand des untersuchten Beispiels ein Rückschluss ziehen, weshalb sich das Motiv des Doppelgängers gegenwärtig in einer großen Anzahl von Mainstreamproduktionen wiederfinden lässt.

Zunächst soll sich in Kapitel 2 mit den Ursprüngen des Motivs des Doppelgängers auseinandergesetzt werden. Hierin sollen erste Definitionen über die Erscheinung des Doppelgängers in der Literatur erfolgen. Nach einer allgemeinen Einführung werde ich mich konkret mit zwei Werken auseinandersetzen, die für die Entwicklung des Motivs des Doppelgängers von entscheidender Bedeutung sind. Hierbei sollen erste Fragen nach der ursprünglichen Verwendung und der Funktion des Doppelgängers geklärt werden.

Anschließend werde ich mich in einem theoretischen Teil (Kapitel 3) mit der Postmoderne beschäftigen, denn die Frage nach dem Motiv des Doppelgängers in der Postmoderne lässt sich ohne eine Erwähnung von Theorien über die Postmoderne nicht klären. In einem ersten Schritt werde ich mich mit der Geschichte des Terminus beschäftigen, um dann zu den theoretischen Ausführungen überzugehen. Hierbei werde ich mich auf zwei Theorien beschränken, die ich allerdings etwas ausführlicher wiedergeben werde. Hierbei handelt es sich um theoretische Überlegungen von Fredric Jameson und Zygmunt Baumann. Diese beiden Ausführungen habe ich ausgesucht, da es sich bei beiden um grundsätzliche und gesamtgesellschaftliche Erklärungsansätze handelt. Beide Theorien müssen als analytischer Hintergrund verstanden werden.

Die Zusammenhänge werden innerhalb des analytischen Teils (Kapitel 4) deutlich werden. Hierin werde ich zunächst auf die Darstellung des Umfeldes des Protagonisten eingehen, denn hier sind die Entstehungsgründe des Doppelgängers angelegt. Anschließend werde ich mich mit aufgezeigten schizophrenen Strukturen beschäftigen, um von diesen auf die Figur des Doppelgängers zu schließen. Den Ausdruck und die Funktion des Doppelgängers wird den letzten Analyseteil beschäftigen. Während der Analyse werde ich an gegebenen Stellen kurz auf andere Filme verweisen, die gleiche oder ähnliche Thematiken behandeln, um aufzuzeigen wie sehr sich solche Thematiken in der gegenwärtigen populären Kultur ausdrücken. Aus demselben Grund werde ich die einzelnen Analyseteile mit Zitaten aus der Populärkultur beginnen.

Die Aufgabe des Doppelgängers, die eng verknüpft ist mit dem Zweck der Verwendung des Motivs des Doppelgängers in der Postmoderne, werde ich im abschließenden Teil noch einmal herausstellen. Spätestens hier dürfte denn auch die Verbindung zwischen der Verwendung des Motivs des Doppelgängers in der Postmoderne und den Wünschen Evan The Bomber Bosleys deutlich sein.

2. Das Motiv des Doppelgängers

Das Motiv des Doppelgängers hat eine lange Tradition. Eine wirklich ausführliche historische Betrachtung unter Berücksichtigung aller Einflüsse und Veränderungen kann daher an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Doch sollen die hauptsächlichen und augenscheinlichen Beispiele hier verdeutlicht werden. Nachdem ich kurz auf die Historie des Motivs eingehen werde, werde ich anhand zweier Beispiele des Doppelgängerdramas aus dem 19. Jahrhundert, welche für die Entwicklung des Doppelgängermotivs von maßgeblicher Bedeutung sind, nämlich Fjodor Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER (DVOJNIK) sowie Robert Louis Stevensons DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE (THE STRANGE CASE OF DR. JEKYLL AND MR. HYDE), thematische Merkmale des Doppelgängermotivs aufzeigen.[1]

2.1. Dualität

Beschäftigt man sich mit dem Motiv des Doppelgängers, so trifft man zwangsläufig auf das dem Doppelgänger inhärente Thema der Dualität. Der Ursprung der Dualität, zumindest einer solchen, die direkt in dem Menschen verankert ist, steht aus christlich-theologischer Sicht gleich schon am Anfang der Menschheit. Denn die ersten Menschen, also Adam und Eva, sind es, welche die verbotene Frucht kosten, anstatt sich dem paradiesischen Leben hinzugeben. Damit erlangen sie die bis dato nicht besessene Erkenntnis von Gut und Böse: „Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (1.Buch Mose 2,3) Ihr eindimensionales Verständnis von Welt und von sich selbst wird damit zu einem dualistischen. Alle nachfolgenden Generationen, also die gesamte Menschheit, erhalten durch die Erbsünde eine solche Dualität. Somit ist der Mensch nach christlich-theologischer Überzeugung von Beginn an ein dualistisches Wesen, welches ebenso zu ‚Gutem’ in der Lage ist wie zu ‚Bösem’. (vgl. Herdman 1990: 5)

Nicht unbeeinflusst hiervon vertrat Kant in der Philosophie die Meinung, dass ‚Gutes’ und ‚Böses’ in der menschlichen Seele zu gleichen Teilen vorhanden seien. Ihm zufolge gebe es einen Kampf zwischen der Vernunft und der Irrationalität. Diesen Kampf müsse die Vernunft gewinnen, damit das ‚Gute’ überleben und zum Vorschein kommen könne. (vgl. Herdman 1990: 12)

Auch Jesus Christus selbst ist schließlich ein zweigeteiltes Wesen, bei welchem die eine Hälfte menschlicher Natur, die andere Hälfte göttlicher Natur ist. Damit besitzt die höchste christliche Heiligenfigur eine gespaltene Persönlichkeit. Nachdem ein Mensch Jesus Christus verraten hat und sein Dasein auf der Erde hierdurch beendet wird, wechselt er von dem weltlichen Reich in das himmlisch-göttliche. Auch hier also ein offensichtlicher Dualismus.

Letztlich ist die Dualität in Jesus Christus ein folgerichtiges Produkt fundamentaler Dualismen in der christlichen Theologie, denn in der gesamten christlich-theologischen Lehre findet eine Trennung zwischen ‚Gut’ und ‚Böse’, zwischen Geist und Körper, zwischen dem Himmlischen und dem Dämonischen und schließlich zwischen Gott und Teufel statt. (vgl. Herdman 1990: 5)

Obwohl ein solcher christlicher Dualismus sicherlich immer auch Gegenstand kultureller Bearbeitung war konnte man besonders gut um die letzte Jahrtausendwende, welche eine christlich-mythische Aufladung erfuhr, ein vermehrtes Aufkommen dieser einfachen Dualismen in der derzeitigen populären Kultur beobachten.[2] Beispielsweise Glenn Kleiers Roman DER LETZTE TAG (LAST DAY 1999) sowie die Filme STIGMATA (1999) , END OF DAYS-NACHT OHNE MORGEN (1999) und besonders die beiden Teile von GOD’S ARMY (1995/1998), in denen die ‚guten’ Engel des Herrn, allen voran der Erzengel Michael, gegen die ‚bösen’ gefallenen Engel des Teufels, angeführt von Erzengel Gabriel, eine letzte Schlacht um die Welt und die Menschheit auf der Erde liefern, greifen diese Thematik direkt wieder auf.[3]

Aber auch die Natur bietet ein weites Feld von Dualismen. Aufeinander angewiesene und voneinander abhängige Gegensätze bilden hier das Feld, wie z.B. Licht und Dunkelheit, Sonne und Mond, Winter und Sommer, Nacht und Tag und allen voran leben und sterben. In einer solchen Erfahrung von Dualität sieht John Herdman den Ursprung des menschlichen Bewusstseins. Schließlich fuße das Bewusstsein auf der Erkenntnis von ‚Ich’ und ‚Nicht-Ich’. Dies nennt er die dialektische Basis. Diese Dialektik, die Realisation eines äußeren existenten Zweiten sei Basis für die Möglichkeit von Sprache. Jedoch müsse das ‚Nicht-Ich’ nicht extern erfahren werden, sondern in dem Selbst. (vgl. Herdman 1990: 1)

2.2. Zwillinge

Dualität, bzw. die Erfahrung und Kenntnis dieser wie sie aus der Natur und der theologischen Tradition hervorgeht, gehen Hand in Hand mit dem Motiv des Doppelgängers und der Beschäftigung mit diesem. Die Faszination, die sich mit diesem Thema verbindet, kann am deutlichsten an der jahrhundertealten Faszination für Zwillinge abgelesen werden. So ist der Einsatz von Zwillingen zu Werbezwecken keine neuerliche Erfindung des Pharmaunternehmens Ratiopharm, sondern folgt einer langen, sogar in der Werbung über hundertjährigen, Tradition der Zurschaustellung von Zwillingen, wie Hillel Schwartz in ihrem Buch THE CULTURE OF THE COPY aufzeigt. (vgl. Schwartz 1996: 19-49)

Noch faszinierender wirkten seit jeher die körperlich ‚untrennbaren’ Zwillinge, welche als ‚Doppelmissgeburten’ bezeichnet wurden. Aus einer Stelle der römischen Bibel wurde fälschlicherweise aus dem Wort menstrua nach lateinischer Lesart das Wort monstra. Sich hieran anschließend entstand der Glaube, dass wenn eine Frau während ihrer Periode Geschlechtsverkehr habe, sie ein Monster gebären werde. Als solche Monster wurden die ‚Doppelmissgeburten’, die ineinander verwachsenen Zwillinge betrachtet. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert wurden solche Zwillinge als ‚lebende Kuriositäten’ in Ausstellungen und Circussen zur Schau gestellt. Die Frage, die sich schon im 13. Jahrhundert in bezug auf diese Zwillinge stellte, war eine Frage nach der Einheit von Zweien. Bei dieser Frage stand die Taufe im Vordergrund, denn wenn sie Zwei seien, so müssten sie auch zwei Seelen besitzen und auf zwei Namen getauft werden. (vgl. Schwartz 1996: 50/51)

Während in der deutschen Romantik im 19. Jahrhundert das Motiv des Doppelgängers wieder Einzug erhielt, befanden sich Chang und Eng, die durch eine Verbindung am Brustkorb ineinander verwachsenen Zwillinge aus Siam, auf ‚Welttournee’. 1874 starben beide. Zuerst starb Chang an, wie 1961 festgestellt wurde, Arteriosklerose und Herzversagen während des Schlafs. Zwei Stunden später erwachte Eng in der Nacht und fand seinen leblosen mit ihm verbundenen Bruder neben sich. Obwohl Eng körperlich gesund und unabhängig von seinem Bruder lebensfähig war, starb dieser kurz nach Erwachen. Wie der untersuchende Arzt damals schon feststellte und die neuere Untersuchung von 1961 bestätigte war die Todesursache für Eng Furcht. Zuvor schon äußerten sie die Befürchtung, dass wenn einer sterben würde, der andere ebenfalls seinen Tod fände. (vgl. Schwartz 1996: 52-57)

Das Motiv des Doppelgängers in der Literatur ist sicherlich nicht von dem Phänomen solcher ‚siamesischen’ Zwillinge abhängig, dennoch verbildlichen diese das Geteiltsein innerhalb einer Einheit - das Verwachsensein mit seinem Doppelgänger - wie es thematisch und allegorisch in der Literatur aufgenommen wurde. Zudem zeigt das Beispiel der ‚siamesischen’ Zwillinge Chang und Eng, dass ihre Verbindung auch über die körperliche Abhängigkeit hinausgeht. Jener geistige Zusammenhang mit seinem Doppelgänger wird im 19. Jahrhundert schließlich zu einem zentralen Thema in der Literatur, die sich mit dem Motiv des Doppelgängers beschäftigt.

2.3. Die literarische Entwicklung

In der Literatur hat das Motiv des Doppelgängers eine äußerst lange Tradition. Literarhistorisch taucht es bereits 200 v.Chr. auf. Der römische Komödiendichter Plautus, welcher Stücke des griechischen Theaterrepertoires für die römische Bühne bearbeitete, beschäftigte sich mit dem Doppelgänger in zweien seiner Stücke. Der verdoppelte Mensch tritt hier innerhalb einer Verwechslungskomödie in Erscheinung. Der Doppelgänger diente somit als Belustigung und Gelächter für das Publikum. Wie der Literaturwissenschaftler Christof Forderer bemerkt, kommt es hierbei zu keinerlei ernsten Zweifeln an der Verlässlichkeit der Welt und der eigenen Identität. 1591/92 wird die Verwechslungskomödie von William Shakespeare in ebensolcher Weise aufgenommen. In COMEDY OF ERRORS ist der Doppelgänger ein Zwilling. Ein bisher nicht gekannter Zwilling löst Irrtümer und Verwechslungen aus. Identitätsverwechslungen finden auch hier nur äußerlich statt. Die Doppelgängerkomödie basiert letztlich auf dem Verständnis und der Überzeugung des einen ungeteilten Menschen. (vgl. Forderer 1999: 21/22)

Das Thema des Doppelgängers entwickelte sich verschiedenartig und zu verschiedenen Zeiten in den nationalen Kulturen Europas und Amerikas. Dabei wurde der traditionelle theologische Dualismus erweitert, indem das Konzept des moralisch Bösen mit dem ‚primitiven, ungezähmten Wilden’ in Verbindung gebracht wurde, welcher durch die Entdeckungen der ursprünglichen Kulturen in den Kolonien öffentliche Aufmerksamkeit erlangte. (vgl. Herdman 1990: 11)

Der Terminus ‚Doppelgänger’ wurde in Deutschland geboren. Sein Ursprung liegt im deutschen Schauerroman, zur Verbreitung von Schrecken und Sensationsschau, sowie im romantischen Drama. Den Begriff ‚Doppelgänger’ führte Jean Paul ein. Dieser definierte den Doppelgänger in SIEBENKÄS (1796-97) folgendermaßen: „Doppelgänger heißen Leute, die sich selbst sehen.“ (vgl. Herdman 1990: 13)

Das 19. Jahrhundert ist schließlich die Blüte- oder besser Entwicklungszeit des Motivs des Doppelgängers. Bereits im ersten Quartal des 19. Jahrhunderts entstand eine Vielzahl von Erzählungen mit Doppelgängermotiven.[4] (vgl. Herdman 1990: 17)

Jean Paul hatte starken Einfluss auf E.T.A. Hoffmann. Dieser griff das Motiv des Doppelgängers 1821 in DIE DOPPELTGÄNGER, wobei es sich um einen romantischen Schauerroman handelt, auf. Das bisherige Motiv des Doppelgängers erfährt hier eine entscheidende Modifizierung. Die erwähnten zuvor zur Verwechslung gerne verwendeten Zwillinge ersetzt Hoffmann durch ‚magische Brüder’. Diese werden zur gleichen Zeit von befreundeten Müttern, von denen die eine den Mann der anderen sogar noch während des Aktes der Geburt begehrt, geboren. Damit ist die Identität des einen Doppelgängers ein Produkt des Wunsches der Mutter. Die späteren Doppelgänger teilen dann auch nicht nur ihr Äußeres, sondern ebenso ihre intimen Gefühle. Hierdurch eröffnet Hoffmann das Feld für psychologisch-philosophische Fragen, welche die Beschaffenheit des eigenen Selbst betreffen. (vgl. Forderer 1999: 22/23)

Zum Generationserlebnis der deutschen Romantiker sei geworden, dass das Ich eine neue Komplexität erhalten habe, so Forderer. Das Subjekt sei mit einer neuen Autonomität konfrontiert worden. Oberstes Ziel sei die eigene Identitätsbildung gewesen.[5] (vgl. Forderer 1999: 26)

Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte hatte 1794 in seiner Philosophie, die von ihm als WISSENSCHAFTSLEHRE bezeichnet wurde, das Ich absolut gesetzt. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das Ich als zentraler Punkt. In der Grundentscheidung zur Selbstbestimmung setze sich dieses Ich selbst. Die Subjektivität des Ichs sei nicht nur für das eigene Sein bestimmend, sondern ebenso für die Welt, welche erst von diesem Ich gesetzt werde. (vgl. Meyers Taschenlexikon Bd. 3 1999: 1028; Forderer 1999: 28)

Das Eindringen neuer Inhalte in das Motiv des Doppelgängers sieht Forderer durch eine solche Absolutsetzung des Ichs bedingt. Die neuen Inhalte würden letztlich die neuerliche Komplexität und Kompliziertheit des Ichs ansprechen und dessen „rastlose Selbstpflege, die für das moderne Subjekt so typisch ist.“ (Forderer 1999: 27) In den Blickpunkt rücke der neue Individualitätsgedanke und damit die Vorstellung oder Aufgabe der ‚Selbst’-Bildung. Als Folge der Absolutsetzung des Ich könnten ebenso Selbstüberforderung, Zerrissenheit und Wahnsinn entstehen, wie es in einigen Doppelgängertexten thematisiert wurde. Als typische Angst vieler Doppelgängertexte des 19. Jahrhunderts sieht Forderer die Angst, „dass Teile des eigenen Selbst oder das ganze Selbst sich dem Ich entziehen und als fremder Doppelgänger ein Eigenleben führen.“ (vgl. Forderer 1999: 28/31)

1846 erschien Fjodor Dostojewskijs Erzählung DER DOPPELGÄNGER. Das Motiv des Doppelgängers erfuhr hierin eine starke Psychologisierung. Damit stellte es eine Neuerung innerhalb des Motivs dar. Auch in Dostojewskijs späteren Werken blieb der Doppelgänger ein zentrales Thema, welches allerdings in DER DOPPELGÄNGER seinen Ausgangspunkt nahm. (vgl. Herdman 1990: 16)

Während Forderer sich hauptsächlich auf die Ausführungen im gesellschaftspolitisch-philosophischen Bereich beschränkt, lässt John Herdman die neuen Forschungen auf psychologischer Ebene nicht unberücksichtigt. Sicherlich sind beide Gedanken und Forschungen voneinander abhängig und haben Wechselwirkungen.

Vor allem in der Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden immense psychologische Theorien, Forschungen und Krankheiten des Selbst betrieben und erforscht, welche schließlich in der Psychoanalyse Freuds kulminierten. Während die Psychologie sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer ganzen Anzahl neuer gesellschaftlich bedingter Krankheiten befasste, standen gegen Ende jenes Jahrhunderts besonders die neuen Ansätze der französischen Psychologen im Vordergrund, welche sich mit dem Konzept der gespaltenen Persönlichkeit befassten. (vgl. Herdman 1990: 19) Hierauf werde ich folgend während der konkreten Werkbesprechung genauer eingehen.

Robert Louis Stevenson, den Herdman als „a profound admirer of the new psychology and actively interested in psychic research“ (Herdman 1990: 20) ausmacht, thematisiert in DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE das Verständnis einer psychisch geteilten Persönlichkeit, indem er dieses mit einer moralischen Dimension in Verbindung bringt. (vgl. Herdman 1990: 20)

Das Konzept des Doppelgängers, wie es im 19. Jahrhundert entstand, stellt Herdman noch einmal gesondert heraus. Demnach ist der Doppelgänger ein zweites Selbst, ein Alter ego, welches in einem abhängigen Verhältnis zum Original steht, jedoch als eigene physische Gestalt in Erscheinung tritt. Oft dominiert, kontrolliert und usurpiert der Doppelgänger das Original. Ebenso oft sind beide physisch ein und dieselbe Person. Zumeist haben die Doppelgänger einen übernatürlichen Aspekt oder eine übernatürliche Entstehungsweise und werfen letztlich ein erhellendes Licht auf den anderen, das Original. (vgl. Herdman 1990: 14)

Um das Konzept des Doppelgängers und dessen Tradition besser erläutern und veranschaulichen zu können, möchte ich mich folgend mit Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER sowie Stevensons DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE näher beschäftigen. Im Hinblick auf die spätere Analyse des Films FIGHT CLUB soll die hier vorgenommene Veranschaulichung der historischen Verarbeitung des Motivs eine erste grundlegende Vorstellung vermitteln. Während, wie bereits erwähnt, Dostojewskij den psychologischen Aspekt in den Mittelpunkt stellt und einen gesellschaftlichen Bezug nimmt, verbindet Stevenson den traditionellen Strang des Schauerromans mit psychologischen Elementen, wobei auch hier, wie zu sehen sein wird, gesellschaftliche Zwänge eine Rolle spielen. Auch wenn Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER zum damaligen Zeitpunkt kein großer Erfolg war, so erweiterte es doch ungemein das Konzept des Doppelgängers. DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE ist das wohl bis heute wichtigste und populärste Werk im Bereich des Doppelgängers, denn Jekyll/Hyde ist mittlerweile zum Synonym für die geteilte Persönlichkeit geworden. Jekyll und Hyde, fest verbunden wie die siamesischen Zwillinge Chang und Eng, haben sich zu einem Mythos entwickelt. Eine Beschäftigung mit dem Motiv des Doppelgängers setzt daher zwangsweise die genauere Erwähnung des Phänomens Jekyll/Hyde voraus.

Eine wirklich ausführliche Behandlung beider Werke kann und soll an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Bei der Behandlung der Werke beschränke ich mich auf das für diese Arbeit Wesentliche.

2.4. DER DOPPELGÄNGER- Fjodor Dostojewskij

1846 erschien DER DOPPELGÄNGER. Weder verkaufte sich das Buch anschließend gut, noch erfuhr es von der Kritik eine positive Beurteilung. Auch Dostojewskij selbst hatte zu einem späteren Zeitpunkt die Absicht den DOPPELGÄNGER noch einmal grundlegend zu überarbeiten, wozu es allerdings nie kam. (vgl. Nachwort Neuhäuser in Dostojewski 1999: 199) Doch Gegenstand an dieser Stelle soll das dargestellte Motiv des Doppelgängers in dieser Erzählung sein. Daher werde ich mich folgend nicht näher mit Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte beschäftigen, sondern mich lediglich innerhalb der Darstellung und Strukturen von Dostojewskijs Erzählung bewegen.

Bevor in Kapitel 5 der Doppelgänger zum ersten Mal in Erscheinung tritt, bereitet Dostojewskij ein Feld für dessen Erklärung sorgfältig vor.

Die Erzählung beginnt mit dem morgendlichen Erwachen des Protagonisten, welcher zugleich nicht nur mit seinem Namen, nämlich Jakow Petrowitsch Goljadkin, sondern ebenso mit seiner beruflichen Bezeichnung, Titularrat, vorgestellt wird. Doch erwacht Goljadkin „wie ein Mensch, der sich noch nicht völlig davon überzeugt hat, ob er erwacht ist oder immer noch schläft, ob er alles, was jetzt um ihn herum vorgeht, in wachem Zustand sieht, ob es Wirklichkeit ist oder die Fortsetzung seiner wirren Traumgeschichte.“ (5)[6] Damit wird gleich zu Beginn eine Vermischung von Wirklichkeit und Traumwelt angedeutet, die schließlich ein zentrales Thema wird. Die Handlung ähnelt dann auch eher einer ‚wirren Traumgeschichte’, bei der sich nicht mehr genau sagen lässt, was sich innerhalb der Psyche Goljadkins ereignet und was tatsächlich äußerlich stattfindet.

Die erste Handlung Goljadkins ist der Blick in den Spiegel. Diese am Anfang stehende Selbstvergewisserung des Protagonisten deutet dessen Teilung bereits an. Folgerichtig ist der Spiegel ein immerwiederkehrendes Motiv. Während Goljadkin beim ersten Blick in den Spiegel noch „durchaus zufrieden“ (6) zu sein scheint, verselbstständigt sich im weiteren Verlauf der Erzählung sein Spiegelbild bzw. wird sein Spiegelbild sein Doppelgänger. Schließlich wird in einem Wirtshaus sein Spiegelbild zu einer öffentlichen Demütigung, indem Goljadkin für die Speisen Goljadkin juniors, wie Dostojewskij den Doppelgänger nennt, aufkommen muss, den er bis dahin selbst nicht bemerkte, denn „in dieser Tür, die unser Held übrigens bis jetzt für einen Spiegel gehalten hatte, stand ein Mann, stand er, stand Herr Goljadkin selber – nicht der alte Herr Goljadkin, nicht der Held unserer Erzählung, sondern der andere Herr Goljadkin, der neue Herr Goljadkin.“ (108) Durch die Verwendung des Motivs des Spiegels zur Verdeutlichung des Themas der gespaltenen Persönlichkeit nimmt Dostojewskij ein Motiv vorweg, welches erst rund hundert Jahre später durch Jacques Lacan Einzug in die Psychoanalyse hält. Hierin ist die Konfrontation mit dem Spiegelbild die ursprüngliche Ursache einer inneren Diskrepanz, wie sie in jedem Menschen vorhanden sei.[7] Deutlich wird an diesen Stellen sowie in den weiteren Beschreibungen der Erlebnisse Goljadkins, wie sorgfältig Dostojewskij den psychologischen Aspekt in seine Erzählung einbringt. Obgleich die Verwendung des Motivs des Spiegels durchaus ein älteres ist, so dürfte es doch in diesem Zusammenhang, mit der Verknüpfung des Doppelgängermotivs, für die spätere Psychoanalyse, auch für die Ausführungen Lacans, nicht ohne Einfluss gewesen sein.

Ein Arztbesuch Goljadkins wird zu einer äußerst wichtigen Szene, denn hier zeigen sich für die Handlung wie für den Charakter Goljadkins entscheidende Merkmale. Goljadkins Unsicherheit im ‚richtigen’ Umgang mit anderen Menschen wird ebenso deutlich wie dessen Bewusstsein intrigieren zu müssen, um seine hochgesteckten ehrgeizigen sozialen Ziele erreichen zu können, doch könne er dies nicht tun, denn „eine Maske trage ich nur zur Faschingszeit, aber ich gehe nicht tagtäglich unter den Leuten damit herum.“ (18) Zudem zeigt sich seine ‚unehrenhafte’ Vergangenheit, die ebenfalls eine berufliche Aufstiegshinderung darstellt, sowie seine Zuneigung zu Klara Olsufjewna Iwanowitsch, welche der ‚höheren’ Gesellschaftsschicht angehört und damit für ihn in seiner jetzigen Position unerreichbar ist. Der Arzt rät ihm schließlich eine „radikale Umgestaltung“ seines Lebens und ein „Zerbrechen“ (15) seines Charakters. So wird hier ein bestimmender Konflikt Goljadkins deutlich. Zum einen möchte er eine höhere gesellschaftliche Stellung erreichen, ist sich aber zum anderen darüber bewusst, diese, und damit auch die Liebe von Klara Olsufjewna Iwanowitsch, nicht erreichen zu können ohne zu ‚intrigieren’. Dies verbietet ihm allerdings seine ‚idealistische’ Gesinnung, schließlich geht Goljadkin „geradeaus, nicht auf Seitenwegen, die ich verachte und anderen überlasse.“ (17) Auch zu einem späteren Zeitpunkt stellt Goljadkin noch einmal seine „Lebensregeln“ klar: „..jedenfalls stelle ich keinem ein Bein. Ich bin kein Intrigant – und ich bin stolz darauf. Zum Diplomaten würde ich nicht taugen.“ (30) Der Grund des Auftauchens seines Doppelgängers und dessen Aufgabe sind daher bereits hier angelegt.

Zum Auslöser der Begegnung mit seinem Doppelgänger wird eine öffentliche Demütigung auf einer Feierlichkeit der ‚höheren Gesellschaftsschicht’. Sein Rausschmiss von dieser Feier steht für die Verweigerung, der von ihm angestrebten sozialen Stellung, sowie für die Unmöglichkeit einer Beziehung zu Klara. Von dieser Schlüsselszene ausgehend ereignet sich die Selbstteilung Goljadkins.

Die nächtliche Flucht durch St. Petersburg, wo die Handlung stattfindet, stellt dann auch eher ein Flüchten, ein Wegrennen vor sich selbst dar. In diesem Moment einer „seltsamen dunklen Seelenangst“ (54) kommt es nun zu der Begegnung mit Goljadkin junior, dem er hinterher rennt, den er zu erreichen versucht. Die Selbstteilung wird also durchaus im Zuge der Verzweiflung, wenn auch unbewusst, von Goldjakin selbst eingeleitet, denn „er wünschte diese Begegnung sogar herbei, hielt sie für unvermeidlich und flehte nur, dass alles schneller enden, seine Lage irgendwie eine Lösung finden möge – nur schneller.“ (58) Der Wunsch des Entkommens aus einer ausweglosscheinenden Situation ist damit Ursache der Selbstteilung. Ganz im Sinne der Definition Jean Pauls führt Dostojewskij Goljadkin junior hier ein: „Herr Goljadkin hatte seinen nächtlichen Freund nun erkannt. Dieser nächtliche Freund war kein anderer als er selber, ein zweiter Herr Goljadkin, der aber genauso aussah wie er selber – mit einem Wort das, was man einen Doppelgänger zu nennen pflegt...“ (59)

Ab diesem Zeitpunkt und dem Auftreten des Doppelgängers an Goljadkins Arbeitsplatz beginnt nun eine Vermischung von Wirklichkeit und Halluzination, die auch der Rezipient letztlich nicht mehr trennen kann. So erfährt auch der Doppelgänger eine äußere Referenz, ohne dass die weiteren Mitarbeiter eine Merkwürdigkeit feststellen können. Schließlich beginnt Goljadkin „an seiner eigenen Existenz zu zweifeln.“ (65)

Um das Motiv des Doppelgängers näher zu erläutern, führt Dostojewskij durch einen Arbeitskollegen das, wie oben erwähnt, zu dieser Zeit populäre Thema der siamesischen Zwillinge ein: „Sie haben doch, um ein Beispiel anzuführen, von den – na, wie heißen sie denn? – ja, von den siamesischen Zwillingen gehört, die mit den Schultern aneinandergewachsen sind und so leben, so essen, zusammen schlafen.“ (69) Demnach, nicht unbeeinflusst von den tatsächlichen siamesischen Zwillingen, benutzt Dostojewskij dieses Bild, um es auf eine psychologische Ebene zu transferieren.

Die Aufgabe des Doppelgängers wird zugleich deutlich, wenn Goljadkin diesen mit in seine Wohnung nimmt, denn der Weg, den Goljadkin auswählt, verläuft symbolisch durch ein „Seitengässchen“ (75), obwohl, wie zu sehen war, Goljadkin den ‚geraden Weg’ bevorzugt. In Goljadkins Wohnung werden dann die Verhältnisse klar aufgezeigt. Wozu Goljadkin nicht in der Lage ist, soll die Aufgabe des Doppelgängers werden; und dies soll durchaus, wie hier zu sehen ist, im Sinne und nach dem Willen Goljadkins geschehen.

Schließlich übernimmt der Doppelgänger seine Aufgabe, welche eben erst seinen Existenzgrund darstellt, mit Bravur. Doch richten sich seine Intrigen gegen Goljadkin selbst, denn folglich ist es der alte Goljadkin bzw. dessen Eigenschaften, welche dem neuen Goljadkin, will dieser erfolgreich sein, im Wege stehen.

Die Befürchtungen Goljadkins um den Erfolg seines Doppelgängers zeigen die Befürchtungen um die eigene Ersetzbarkeit, die eigene Austauschbarkeit, auf. Jene Angst bzw. jenes Wissen äußert sich in den stärker werdenden Visionen Goljadkins. Während eines Traums erfährt Goljadkin die vollständige Auflösung von Individualität, denn „bei jedem Aufsetzen des Fußes auf den Granit des Trottoirs sprang gleichsam aus der Erde ein ihm vollkommen ähnlicher, durch seine Herzensverderbtheit abstoßender Herr Goljadkin hervor. Und alle diese sich vollkommen Gleichenden [...] hinkten in einer langen Kette wie eine Gänseschar Herrn Goljadkin senior nach, so dass sich dieser vor den vollkommen Gleichen nicht retten konnte.“ (129) Nicht nur zeigt sich innerhalb dieses Traums das Auflösen von Individualität, sondern folglich ebenso die absolute Ersetzbarkeit und die Gleichschaltung in der Masse. Die letztlich stattfindende vollkommene Ersetzung Goljadkins durch seinen Doppelgänger wird in diesem Traum vorweggenommen. So tritt dieser Traum in variierter Form gegen Ende der Erzählung erneut auf, als Goljadkin seniors Ende durch einen „Judaskuss“ seines Doppelgängers besiegelt ist: „Es kam ihm vor, als ob eine Unzahl, ein ganzer Zug sich vollkommen gleichender Goljadkins mit Lärm durch die Türen ins Zimmer brach.“ (192)

Nach Erhalt der Kündigung Goljadkins sind seine Selbst-Zweifel, „Ich Selbstmörder! [...] Was soll ich jetzt mit mir anfangen? Wozu tauge ich noch?“ (168), Ausdruck des Erfolgseingeständnisses seines Doppelgängers. Die Rolle des ursprünglichen Goljadkins ist nunmehr überflüssig.

Bei einer letztlichen Feierlichkeit erfährt nicht nur die Liebe zu Klara ihr Ende, sondern es kommt schließlich vor versammelter ‚höherer’ Gesellschaft zu der öffentlichen Abdankung Goljadkins. Am Ende steht der Wahnsinn und der Abtransport in eine Nervenheilanstalt durch seinen Arzt.

2.4.1. Dostojewskijs Doppelgängerthematik

Noch einmal soll hier die Art des Doppelgängers, wie er von Dostojewskij in DER DOPPELGÄNGER dargestellt ist, erläutert werden.

Goljadkins Doppelgänger erscheint in einem Moment der Demütigung für Goljadkin. Er ist eine exakte identische Kopie des Protagonisten und soll jene Aufgaben übernehmen, die Goljadkin nicht in der Lage ist auszuführen. Damit ist er die personalisierte Wunschvorstellung Goljadkins. Während der Doppelgänger vollständig die beruflichen und gesellschaftlichen Ziele Goljadkins verwirklicht, will Goljadkin selbst seinen Idealen treu bleiben. Hierdurch wird er allerdings nicht nur überflüssig, sondern ebenso hinderlich für den Erfolg seines Doppelgängers. Daher steht am Ende die vollkommene Ersetzung Goljadkins durch seinen erfolgreichen Doppelgänger. Goljadkin selbst zweifelt an seiner Existenz. Indem er die eigene Person infragestellt, erfährt er eine „Auflösung des Selbstverhältnisses.“ (Forderer 1999: 122)

Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER ist die Geschichte einer Bewusstseinsspaltung. Die Verdopplung des Protagonisten ist Ausdruck dieser. Nicht nur erfolgt diese Spaltung aufgrund der Restriktionen, Frustrationen und Oppressionen, welche als der sozialen Stellung Goljadkins inhärent bezeichnet werden, sondern ebenso aus den ehrgeizigen wie auch von Neid geprägten Wünschen und Vorstellungen Goljadkins. Hillel Schwartz bemerkt hierzu: „Golyadkin 2 is the second, projection of the Titular Councilor’s thwarted ambitions, his obsessions with honor and the extension of himself. He is the present tensed, a double to whom Golyadkin is fatally siamesed.” (Schwartz 1996: 65) Der Wunsch nach einer beruflichen Karriere, welche aufgrund Goljadkins Herkunft und seiner sozialen Stellung nur durch ‚Intrige’ erreicht werden kann, steht dem Wunsch nach Würde und Idealen entgegen. Dostojewskij veranschaulicht den Ausdruck der inneren Zerrissenheit seines Protagonisten mit dem Motiv des Doppelgängers. Der Doppelgänger selbst erscheint als „Symptom einer Bewusstseinsstörung.“ (Forderer 1999: 118)

Für Herdman ist DER DOPPELGÄNGER eine fast klinisch-psychologische Studie. Das Neuartige sieht er in der Ersetzung einer übernatürlichen und fantastischen Ursache des Doppelgängers, wie in früheren romantischen Erzählungen, durch die subjektiven Halluzinationen der Psyche des Protagonisten. (vgl. Herdman 1990. 111) Oder wie Forderer schreibt: „Der Doppelgänger ist in Dostojewskijs Roman nicht mehr Figur einer phantastischen Erzählung, er ist Figur einer ‚erzählten Phantastik’“. (Forderer 1999: 119)

Äußerst wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Ausführung Forderers, in welcher er die Zerrissenheitserfahrung, wie sie in DER DOPPELGÄNGER auftritt, mit sozialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Der Verstädterungsprozess und dessen Folgen sind hierbei ein zentrales Thema. Dadurch, dass Dostojewskij seine Geschichte in einer Großstadt, nämlich St. Petersburg, spielen lässt, macht er „aus dem Doppelgänger als unfassbarem Gespenst“ einen „Doppelgänger als bürgerlichen Arbeitskollegen.“ (Forderer 1999: 110)

Damit wird der Doppelgänger nicht nur der Nächste, sondern ihm wird jegliche (fantastische) Außergewöhnlichkeit genommen. Er ist nun als beliebige Person dargestellt.

Nicht nur ist es die Großstadtanonymität, Konkurrenzbeziehungen und Bürokratie, wie Forderer ganz richtig herausstellt, die bei Dostojewskij mit dem Motiv des Doppelgängers in Verbindung gebracht werden, sondern allem voran ist es die durch den industriellen Vormarsch bedingte neu entstehende Gesellschaft der Masse. (vgl. Forderer 1999: 111) So ist Goljadkins Vision der eigenen Vervielfachung eine am Ende wiederkehrende, wenn Goljadkin selbst bereits nicht mehr ‚benötigt’ wird. Hierin manifestiert sich eben auch die Angst vor der eigenen Ersetzung bzw. der Austauschbarkeit in einer neuen Gesellschaftsordnung.

Die aufkommende moderne Gesellschaftsordnung wird demnach als vereinheitlichend dargestellt. Folglich nimmt die Wichtigkeit des Subjekts[8] bzw. dessen individuelle Ideale, wie in Goljadkins Fall, beständig ab. Vielmehr passen sie, wie die Einlieferung Goljadkins in eine Anstalt zeigt, längst nicht mehr in die präsentierten aktuellen gesellschaftlichen Strukturen und werden zum Fall für die Irrealität. Die anpassungsfähige und –willige Ausgabe Goljadkins, sein Doppelgänger, ist der Prototyp des neuen erfolgreichen Menschen. Rudolf Neuhäuser sieht hierin in seiner Nachrede zu Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER, in der dtv – Ausgabe von 1999, die „Entstehung des Massenmenschen in einer von Macht, Hierarchiedenken, Unmoral und bürokratischen Mechanismen bestimmten Welt.“ (Neuhäuser 1999: 207)

Als weitere Veranschaulichung soll sich folgend mit der wahrscheinlich berühmtesten Doppelgängergeschichte DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE von Robert Louis Stevenson beschäftigt werden. Äußerst sinnvoll erscheint dies nicht nur weil Jekyll und Hyde sich zu einem Mythos entwickelt haben, sondern weil das Motiv des Doppelgängers um einen Aspekt erweitert wird und auf andere Art benutzt wird als bisher aufgezeigt.

2.5. DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE

- Robert Louis Stevenson

1886 erschien der Roman und wurde schon kurz darauf zu einem großen Erfolg. Die Einfachheit, und damit aber auch Klarheit, der Struktur und des dargestellten Doppelgängermotivs dürften hierbei eine Rolle gespielt haben.

Schauen wir zunächst auf eine Gemeinsamkeit mit Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER. Wie auch bei jener Erzählung ist der Handlungsort von DR. JEKYLL UND MR. HYDE in eine Großstadt, in diesem Fall London, gelegt. Allerdings wird der Stadt hier eine wesentlich direktere Erwähnung zugestanden. Die Großstadt London ist bei Stevenson eine eigene wichtige Komponente, in welcher die Strukturen der eigentlichen Handlung angelegt sind.

Um den Ausgangspunkt der Thematisierung der Stadt zu verdeutlichen, soll hier ein Zitat von Michael Sadler aus FORLOM SUNSET wiedergegeben werden: „London in the early sixties was still three parts of jungle. Except for the residential and shopping areas...hardly a district was really ‚public’ in the sense that ordinary folk went to and fro... There was no knowing what kind of a queer patch you might strike, in what blind alley you might find yourself, to what embarrassment, insult or even molestation you might be exposed. So the conventional middle-class kept to the big thoroughfares, conscious that just behind the house-fronts to either side murmured a million hidden lives, but incurious to their kind, and hardly aware that those who lived there were also London citizens.” (Sadler zit. n. Encyclopaedia Britannica 2002) London in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird hiernach als ‚Dschungel’ beschrieben - ebenso undurchschaubar und undurchdringlich wie geheimnisvoll. In diesem ‚Dickicht’ befinden sich repräsentativ alle gesellschaftlichen Klassen in verschiedenen Gegenden. Anonymität und soziale Kälte prägen das beschriebene Bild. Hinter den Wänden, also im Verborgenen, befindet sich das beständig vorhandene Unbekannte, welches potenziell ein bedrohliches Bild abgibt. Am deutlichsten allerdings zeigt sich die hierin ausgedrückte Teilung Londons. Nach außen, in den äußeren Grenzen, stellt die Stadt London eine Einheit dar, im Innern jedoch präsentiert sie sich als ein gespaltenes Wesen, um einen belebten Terminus zu verwenden.

In diesem Bild ist die ambivalente Struktur von DR. JEKYLL UND MR. HYDE bereits angelegt. Daher wird eben auch das Umfeld einer Geschichte von Ambivalenz auf diese Weise dargestellt. Bei DR. JEKYLL UND MR. HYDE repräsentiert die Stadt eine Dualität, die schließlich auch im Protagonisten zum Ausbruch kommt. Das Verborgene ist auch hier allgegenwärtig. So vernimmt der Anwalt Utterson, als er auf einen Mann namens Hyde wartet, der „Londoner Stadt untergründige [s] Grollen.“ (41) Genau jene Szene zeigt die Bedeutung des Mr. Hyde: Nicht nur ist er das Versteckte, auf welches sein Name (von ‚hide’) bereits hinweist, eines Mannes, sondern vielmehr das untergründig Latente einer ganzen Stadt. Sich selbst versteckt Hyde in Soho. Wie der Übersetzer der Ausgabe von 1946 anmerkt, war Soho zum damaligen Zeitpunkt ein verrufenes Viertel. (vgl. 43) Hier kommt das Verborgene an die Oberfläche und Hyde kann weitgehend unbemerkt bleiben.

Auf der anderen Seite befindet sich das London, in dem Utterson, Dr. Jekyll und Dr. Lanyon wohnen – Anwälte und Ärzte. Dieses Gebiet steht im klaren Kontrast zu dem Viertel Soho, in welches sich Hyde zurückziehen kann. Den Charakteren Dr. Jekyll und Hyde wird eine spezifische Umgebung zugeordnet. Damit wird nicht nur die Ambivalenz der Figur Jekyll/Hyde verdeutlicht, sondern ebenso die innere Teilung einer äußeren Einheit, nämlich der Stadt London. Erst beide Hälften komplettieren das Bild.

Diese Teilung setzt sich ebenso in der Beschreibung von Dr. Jekylls Haus fort. Undurchsichtig erstreckt sich der Grundriss des Hauses über ein Gebiet, so dass es von zwei Straßen aus begehbar ist. Die Front des Hauses weist „unverkennbar [...] Züge des Reichtums und der Behaglichkeit“ (46) auf. Hingegen die Rückseite mit der Hintertür, die Hyde benutzt, um in Jekylls Laboratorium zu gelangen, ist Teil eines „irgendwie unheimlich aussehende [n] Bauwerk [s] , welches „seinen Giebel aufdringlich in die Straße hinaus“ zwängt, und das obwohl die Straße selbst „allgemeine Sauberkeit und ansteckende Heiterkeit“ vermittelt. (22)

Und natürlich sind ebenso die weiteren Charaktere von der Teilung betroffen auch wenn sie eben darin besteht, dass sie nicht zum direkten Ausdruck kommt. Die Ambivalenz Uttersons, Enfields und Dr. Lanyons wird in der Darstellung ihrer Selbst -Disziplinierung und Selbst -Zügelung beschrieben. Das Gespaltensein lässt Utterson erst den Fall Dr. Jekyll untersuchen. Obwohl Utterson im ersten Kapitel gegenüber Enfield verspricht, die ganze Geschichte um Hyde zu vergessen, begibt er sich dennoch auf die Suche nach diesem: „Wenn er Mr. Hyde ist, sagte er sich, so bin ich Mr. Seek.“ (40) Tatsächlich ist der Roman eine Detektivgeschichte aus der Perspektive Uttersons. Das Gesuchte hierbei ist allerdings nicht nur die Wahrheit um Dr. Jekyll, sondern vielmehr das Versteckte, der im Verborgenen liegende Teil. Damit wird es die Suche des ‚halbierten’ Uttersons nach der Vollständigkeit. Was in den Figuren zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht die Angst vor einer äußeren Bedrohung, sondern vielmehr die Angst dem eigenen (vollständigen) Selbst zu begegnen. Die Beschreibung des Edward Hyde stellt die Verkörperung eines unterdrückten anderen Teils dar.

Körperliche ‚Gelüste’ in Form von Frauen finden erst überhaupt keine Erwähnung. Sie sind vollkommen aus dieser Gesellschaft enthoben. Folglich gibt es nicht eine einzige weibliche Figur in dem gesamten Roman. Indem das weibliche Geschlecht in der Abwesenheit körperliche Lust repräsentiert, wird erst das ganze Ausmaß der Lustarmut der beschriebenen Gesellschaft deutlich. Die dermaßen präsentierte Welt der Männer erscheint als abgeteilt von einer weiblichen Welt.

Der Widerstreit der strikten sozialen Konventionen mit den ‚lustvollen Trieben’ verwandelt letztlich Dr. Jekyll in Mr. Hyde. Die Erfindung der Substanz, welche die Verwandlung ermöglicht, ist erst durch diesen Widerstreit motiviert. Wie Dr. Jekyll in seinem Bekenntnisschreiben posthum mitteilt, traf bei ihm eine „etwas übertriebene Lebenslust“ auf den Wunsch nach öffentlicher Anerkennung und damit „den Kopf recht hoch zu tragen.“ (129) Die Realisation des eigenen „Doppellebens“ gepaart mit einem „krankhaften Schamgefühl“ den eigenen Lüsten gegenüber ließ Dr. Jekyll „die zwei Seiten von Gut und Böse, die des Menschen Doppelnatur trennen und verbinden, als breiteren Graben [fühlen] als gewöhnliche Sterbliche.“ (130) Weiterhin bezeichnet Dr. Jekyll die menschliche Doppelnatur als „hartes Lebensgesetz“, welches die „Wurzel der Religion“ sei. (130)

Dr. Jekyll wird sich bewusst über den „unaufhörlichen Kampf der zwei Wesen in meiner Brust“, denn „war ich doch nicht weniger ich selber, wenn ich alle Zurückhaltung abstreifte und mich in den Suhl der Sünde stürzte, als wenn ich – des Lichtes des Tages froh – angestrengt der Förderung des Wissens oder der Linderung von Sorge und Leiden oblag.“ (130/131) Auch hier zeigt sich die Ambivalenz über das Bild „des Lichtes des Tages“, welches im Kontrast zu der Schwärze der Nacht steht. Licht und Dunkelheit, so hier die implizite Mitteilung, bilden eine untrennbare und voneinander abhängige Einheit. Aus diesem Zwiespalt Dr. Jekylls heraus, beides bewusst zu sein und zu wollen, entsteht die Erschaffung des Edward Hyde. Damit spaltet Dr. Jekyll den ‚Sündenteil’ von sich ab. Hyde als eigenständiges Wesen ist die Verkörperung der Sünde wie auch des Bösen. Er steht daher zunächst für eine Entlastung des Charakters Dr. Jekyll.

Um die Entstehung Hydes noch einmal kurz zu verdeutlichen: Aus der gegebenen „menschlichen Doppelnatur“ entsteht Jekylls „Doppelleben“, welches wiederum den Doppelgänger Hyde produziert.

Die „Wahrheit“ auf die Dr. Jekyll stößt ist die, „dass der Mensch nicht ein einheitliches, sondern ein zwiespältiges Wesen ist.“ (131) Dies ist das zentrale Thema der Ambivalenz, auf welchem die gesamte Struktur des Romans aufgebaut ist.[9]

Da Dr. Jekyll es als „der Menschheit Fluch“ bezeichnet, „dass diese widerstrebenden Kräfte zu einem uneinigen Bündel zusammengeschnürt waren, dass sich diese gegensätzlichen Zwillinge im wunden Schoße des Bewusstseins widersprechend bekämpften“ (132), löst Jekyll durch seine wissenschaftlichen Experimente dieses „Bündel“, indem er einen Trank braut, welcher die Verwandlung in Hyde bewirkt. Das Produkt Hyde bezeichnet Jekyll als zu seiner Natur gehörend und als „Ausdruck der niedrigen Elemente meiner Seele.“ (134) Hyde stellt die Verkörperung dieser „niedrigen Elemente“ im genauen Sinne des Wortes dar, denn seine Körperform, seine Ausdrucksweise und sein Erscheinungsbild werden als minderwertig und krüppelhaft bezeichnet.

Der Figur Edward Hyde wird eine deformierte Körperlichkeit gegeben. Hydes „Leib“ stellt Enfield als „verwachsen“ und „krüppelhaft“ dar. (31) Als Utterson Hyde begegnet, bemerkt er an diesem „ein fahles und zwerghaftes Aussehen und den Eindruck eines Verwachsenen.“ (44) Dem ‚Bösen’ wird demnach ein abschreckendes menschlich unästhetisches zugeschrieben. Doch die zuvor erwähnten dämonischen Attribute und seine physiognomische Deformation erfahren nun eine Erweiterung, denn Utterson empfindet Hydes Verhalten als eine „mörderische Mischung von feiger Angst und Frechheit.“ (44) Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass Hyde nicht wie ein Mensch aussehe, sondern „etwas Urzeitliches, Unzivilisiertes, Wildes an sich“ habe. (45) Damit ist das Vokabular des animalischen gegeben. Hyde erfährt von nun an eine tierisch-animalische Attribution. Er wird als vorzivilisatorische Lebensform charakterisiert. Folglich ist das ‚Böse’ das Tier im Menschen, welches schließlich Verbrechen begeht und damit der Zivilisation schadet. Als Hyde Carew, der eine „harmlose Freundlichkeit“ (57) ausstrahlt, ermordet, erfährt das Animalische abermals Betonung, denn Hyde ermordet Carew, indem er ihn „zertrampelt“; und dies geschieht mit „affenähnlicher Wut“. (58) Auch der Hausdiener Jekylls, Poole, bezeichnet Hyde als „maskiertes Unding“, welches sich „wie ein Affe“ bewege. (102) Jekyll selbst sieht Hyde nicht nur als „das nackte Böse“ (138), sondern schreibt diesem Bösen eine „tierische Genussfähigkeit“ und eine „sadistische Wohllust“ zu. (142) Schließlich bezeichnet er Hyde in aller Deutlichkeit als „das Tier, das in mir schlummerte.“ (160) Demnach ist Hyde der wilde, vorzivilisatorische Teil des Menschen, der noch immer bestehe. Die moralische Aufrichtigkeit kontrastiert Jekyll, während er über sein Verhalten sinniert, mit der „tierischen Gleichgültigkeit“, welche bereits ein „Trunkenbold“ besitze. (150) Hierbei wird Stevensons Konzept der Gegensätzlichkeit deutlich: Die Zivilisation steht der Natur gegenüber.

Das Bild der deformierten Physiognomie und Körperlichkeit, welches Hyde hier gegeben wird, steht im Einklang mit damaligen psychologischen und kriminalanthropologischen ‚Erkenntnissen’. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, sollen diese ‚Erkenntnisse’ hier kurz erläutert werden, da sie ohne Zweifel großen Einfluss auf die Gestaltung der Figur des Edward Hyde hatten.

Im Zuge der Verbrechensaufklärung begann man im 19. Jahrhundert potenzielle Täterprofile zu erstellen, um vorbeugende ‚Erkenntnisse’ zu erlangen. Dabei war die kriminelle Anthropologie auf den ‚abweichenden’ und den ‚fremden’ Körper fokussiert. Zu potenziellen Verdächtigen wurden die Kolonisierten, die Immigranten, die Farbigen, die Armen, die Wandernden, die als degeneriert klassifizierten und die Prostituierten. Letztlich entstand die Figur des ‚habituellen Verbrechers’. Dieser sei biologisch verschieden von dem Normalbürger. Besondere Anerkennung erlangte hierbei der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso. 1872 maß Lombroso Größe, Körpergewicht sowie Schädel- und Hirnvolumen von Kriminellen, um schließlich eine Kategorisierung der Biologie des Verbrechers erstellen zu können. Hiernach bestätigte sich für Lombroso die ‚Bosheit der Buckligen’. Eine hohe Anzahl der Verbrechen wurde als biologisch bedingt angesehen. (vgl. Feyerabend 2002)

In der Psychologie zeichnet sich zum gleichen Zeitpunkt ein durchaus ähnliches Bild ab, in dessen Tradition der Psychologe C.G. Jung noch Jahre später argumentiert, wenn er einen Traum beschreibt, in dem ein ‚kleiner braunhäutiger Wilder’ vorkommt. Dieser, so interpretiert Jung, sei die Verkörperung des primitiven Schattens des Menschen. Der Schatten wird als negative Seite der Persönlichkeit definiert. Er sei die Summe der unangenehmen Eigenschaften, welche man lieber verstecken möchte. Jeder Mensch besitze einen solchen Schatten. Der Schatten bestehe aus Minderwertigkeiten, welche eine emotionale Natur besäßen. Die niedersten Bereiche dieser minderwertigen Persönlichkeit seien ununterscheidbar von dem Instinkt eines Tieres. (vgl. Herdman 1990: 198) Demnach schreibt Jung dem Menschen einen tierischen, also einen naturhaften, Teil zu, welcher emotional und minderwertig sei. Die Gegenpole, die sich hierbei abzeichnen, sind Selbst-Disziplin und Zivilisation, wie in dem Roman von Enfield, Utterson und Lanyon vertreten.

Die aus heutiger Sicht offensichtlich rassistischen und diskriminierenden ‚Befunde’ aus der ‚wissenschaftlichen’ Forschung finden ihren Niederschlag in der Figur Edward Hyde. Hyde ist der ‚habituelle Verbrecher’. Nicht nur wird er biologisch als degeneriert und krüppelhaft beschrieben, sondern seine Figur wird zudem in Soho, einem Armenviertel, angesiedelt. Damit ist er Teil einer gesellschaftlichen Randgruppe. In Hyde zeigt sich das allgemein übereingekommene Bild des Verbrechers. Hyde ist der ‚bucklige Schatten’ - demnach dem Tier näher als dem Menschen.

Bemerkenswert an beiden ‚Forschungen’ ist die Erwähnung des Außerzivilisatorischen. Ob es nun der kriminelle Fremde, biologisch ‚Unnormale’ oder der ‚kleine braunhäutige Wilde’ ist, sie stehen als Nicht-Mitglieder der Gesellschaft fest. Ihr Platz ist vor den Toren der Zivilisation, denn sie richten sich automatisch gegen diese – als Verbrecher oder als tierischer Instinkt.

Während Hyde animalische Attribute zugeordnet werden, er somit als der Natur verbunden dargestellt wird, repräsentiert Henry Jekyll die obere Schicht der Zivilisation. Edward Hydes Verhalten richtet sich dementsprechend direkt gegen zivilisatorische Errungenschaften.

Abgesehen von den Lustbefriedigungen, die nur indirekt angedeutet werden, stellt Hydes erstes Opfer die Moral dar. Indem er ein junges ‚unschuldiges’ Mädchen zu Boden wirft und dieses anschließend mit Tritten bestraft, zieht er die Empörung der ‚moralischen’ Gesellschaft in Form von Enfield auf sich. Sein zweites Opfer bzw. sein erstes Todesopfer ist Carew. Carew wird nicht erschossen oder erstochen; Hyde traktiert Carew mit Tritten und Schlägen bis zu dessen Tode. Die Gewalt der reinen ursprünglichen Körperlichkeit führt zu dem Tode Carews. Wie sich herausstellt ist der Mord ein „abscheulicher Mord an einem Parlamentsmitglied“. (71) Mit dem Mord an Carew findet ein Mord an einem Symbol für den Erhalt der zivilisatorischen Ordnung statt. Die animalische Aggression richtet sich an dieser Stelle direkt gegen die gesellschaftliche Ordnung. Gott selbst als höchste Repräsentation bzw. höchste Instanz dieser Ordnung wird ebenfalls von Edward Hyde angegriffen. In einem „frommen Werk“ Dr. Jekylls vermerkt Hyde „abscheulich gotteslästerliche Randbemerkungen“. (110) Demnach ist das ‚Böse’, welchem animalische vorzivilisatorische Zuordnungen gegeben werden, gegen Gott und damit gegen die Schöpfung gerichtet. Der Schöpfung ist die Zerstörung und Hydes „Lust, Schmerz zu bereiten“ (158) gegenübergestellt.

Letztlich richtet sich Hyde gegen seinen eigenen Schöpfer, denn Hyde beginnt zu wachsen und die Kontrolle zu übernehmen. Die Verwandlung von Jekyll zu Hyde verselbstständigt sich. Unbeabsichtigt findet die Transformation im Schlaf statt. Daher verdammt sich Jekyll zur Schlaflosigkeit, was Jekylls Zerfall und Hydes beständig steigende Kräfte jedoch nicht aufhalten kann. Die „Todes- und Geburtswehen“ (138), die Dr. Jekyll während der Transformation empfindet, deuten bereits die Zerstörung Jekylls an, denn der Untergang Jekylls würde die vollständige Schöpfung Hydes bedeuten. Diese findet am Ende des Geständnisbriefes von Dr. Jekyll statt. Jekyll verabschiedet sich zur endgültigen Geburt Hydes. Die letztlich erfolgende Selbst -Zerstörung, der Selbst- Mord kurz vor der Erstürmung des Laboratoriums durch Utterson und Poole, ist daher eine Selbst- Befreiung für Jekyll und für Hyde die ultimative Zerstörung.

Die Figur Hyde wird als allgegenwärtige, der Gesellschaft inhärente beschrieben. So sieht Utterson im Schlaf „das Phantom nur noch umso verstohlener durch schlafende Häuser irren“. (39) Der Gestalt ist „kein Gesicht gegeben“. (39) Jekyll fragt schließlich: „Was war ich denn eigentlich anders [...] als meine Nachbarn?“ (155) Und Dr. Lanyon bleiben die philosophischen Fragen nach dem Bösen, oder eben auch dem Vorzivilisatorischen, in der Gesellschaft überlassen, denn er möchte über Hyde „erfahren, woher er kam, was für ein Leben er führen und was für eine gesellschaftliche Stellung er in dieser Welt einnehmen mochte“. (123) Damit spricht Dr. Lanyon die zentralen Fragen an, welche sich aus dem Widerstreit zwischen Natur und Zivilisation ergeben.

An anderer Stelle spricht Dr. Jekyll von dem ‚Bösen’ als dem „sterblichen Teil des Menschen“. (137) Damit ist nicht nur eindeutig aufgezeigt, dass das ‚Böse’ als dem Menschen inhärent verstanden wird, sondern dieses ‚Böse’ immer weiter zurückgedrängt werde. Hierin liegt die eigentliche Ambivalenz, da in diesem Glauben der Glaube an die Zivilisation zum Ausdruck gebracht wird. Auch wenn die starren Konventionen der viktorianischen Gesellschaft erst zu dem Experiment Dr. Jekylls geführt haben, so steht bei aller Kritik am Ende dennoch der Glaube an die Zivilisation.

2.5.1. Stevensons Doppelgängerthematik

Auch in DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR. HYDE ist der Doppelgänger ein Usurpator. Der Doppelgänger Hyde gleicht allerdings in seinem Erscheinungsbild keineswegs Henry Jekyll, wie dies bei den beiden Goljadkins der Fall ist. Er ist vielmehr der ‚verwegene’ Teil Jekylls und erscheint als eigenständige Person. Während Goljadkin seinem Doppelgänger ständig gegenübergestellt wird, ist eine Begegnung mit dem Doppelgänger bei Jekyll/Hyde nicht möglich. Es gibt nur Entweder/Oder, denn beide besitzen eine physische Präsenz. Im Gegensatz zu Goljadkins Doppelgänger, der eine unbewusste Erscheinung aufgrund eines inneren Zwiespalts ist, wird die Figur Edward Hyde gewollt und bewusst von Dr. Jekyll erschaffen. Hieraus ergibt sich, dass Dr. Jekyll nach der geglückten Rücktransformation durchaus das Wissen über die Gestalt in sich besitzt und damit das Wissen über die Teilhaftigkeit des Ichs. Das Doppelwesen Jekyll/Hyde beansprucht für sich zwei Ichs.

In Anbetracht dieser Aufgliederung des Ichs spricht der Klappentext der Ausgabe von 1946 davon, dass Stevenson „in dichterisch-visionärer Form [...] die Psychoanalyse vorweggenommen“ habe. (Stevenson 1946, Klappentext) Natürlich sind hiermit die psychoanalytischen Ausführungen Sigmund Freuds gemeint, doch auch die in der psychiatrischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschriebenen Phänomene müssen hier erwähnt werden, denn was um diese Zeit plötzlich auftaucht ist die Diagnose der multiplen Persönlichkeit.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts existierte bereits eine breite Strömung in Philosophie und Psychologie, welche die Einheitlichkeit des Ichs infragestellte. Nietzsche schrieb 1884: „Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt. (...) Meine Hypothesen: das Subjekt als Vielheit (...)“. (Nietzsche 1884, zit.n. Forderer 1999: 144) Die bisherige traditionelle cartesianische Vorstellung des einheitlichen Subjekts,[10] wie es die christlich-humanistische Auffassung war, erfuhr ihre Zweifel. In der psychiatrischen Literatur entstanden neue Phänomene wie etwa die Hypnose und die Hysterie. In der Hypnose zeigten die Hypnotisierten Fähigkeiten und Kenntnisse, die sie während ihrer gewöhnlichen Persönlichkeit, also nicht im Zustand der Hypnose, nicht zu haben schienen. Vor allem aber wurde zu einem häufigen Diskussionsthema der Psychiatrie das Krankheitsbild von Personen, die offensichtlich zu bestimmten wiederkehrenden Intervallen ihre Persönlichkeit vollständig veränderten. Dieses Krankheitsbild wurde als ‚multiple Persönlichkeit’ bezeichnet. In medizinischen Berichten erfuhr das Krankheitsbild eine immer häufigere Diagnose. Zur Entstehungszeit von Stevenson DR. JEKYLL UND MR. HYDE war die multiple Persönlichkeit ein äußerst stark diskutiertes Thema in der psychiatrischen Literatur. Die psychiatrischen Befunde wurden als Infragestellung der grundsätzlichen Einheit des Ichs gedeutet. So schrieb Max Dessoir 1890 von einem jeden Menschen inhärenten ‚Doppel-Ich’, welches sich aus ‚Oberbewusstsein’ und ‚Unterbewusstsein’ zusammensetze. Deutlich zeichnet sich hier die Vorgängerstufe von Sigmund Freuds Schichtenmodell von Ich, Es und Über-Ich ab, welches die Psychoanalyse erst begründete. (vgl. Forderer 1999: 138/144/146-154)

Demnach verbindet Stevenson die neue Vorstellung einer Teilhaftigkeit des Ichs mit dem Motiv des Doppelgängers. Dabei greift er auf die Ursprünge des Doppelgängermotivs im Schauerroman zurück.

Dostojewskijs Figur des Doppelgängers zeigt sich als ein imaginäres Produkt, welches eine psychische Zerrissenheit anzeigt. Dabei entsteht die Imagination aus dem Kontrast zwischen den Ansprüchen, die der Protagonist an sich stellt, und den ihm gegebenen Möglichkeiten. Stevensons Gestaltung des Doppelgängers geht hierüber noch hinaus. Auch hier sind es zwar die Ansprüche, die Dr. Jekyll an sich stellt, welche ihn zu dem Experiment inspirieren, doch wird die Teilung des ursprünglich gedachten einheitlichen Ichs als natürlich gegebene dargestellt. Die städtisch (viktorianische) Zivilisation trifft bei Stevenson auf die naturhafte Seite des Menschen.

Außer Acht gelassen darf in beiden Fällen nicht die Rolle der erwähnten Frauen. Bei Dostojewskij offenbart sich die Liebe von Goljadkin zu Klara als unerreichbares Hindernis. Klara ist Mitglied einer Gesellschaftsschicht, die Goljadkin zu erreichen nicht die Möglichkeit hat. Damit ist die Unerreichbarkeit der Liebe aufgrund einer klaren hierarchischen Gesellschaftsordnung ein zentrales Motiv seines psychischen Zerfalls. Dr. Jekyll hingegen ist bereits angesehenes Mitglied der ‚hohen’ Gesellschaft. Hier sind Frauen gerade durch ihre gezielte Nicht-Erwähnung präsent, was sich vor allem in Jekylls Eingeständnis des lustvollen Verlangens widerspiegelt. Während das Verlangen Goljadkins bei Dostojewskij unerreichbar bleibt, tritt es in der von Stevenson beschriebenen Gesellschaft als außerzivilisatorische Emotion auf, der sich Jekyll nur in der Gestalt des Hyde nähern kann, da Hyde eine eindeutige Identität besitzt.

2.6. Zusammenfassung

Wie sich in den veranschaulichten Beispielen gezeigt hat, ist die Verwendung des Motivs des Doppelgängers eng mit der Problematisierung von Identität verknüpft. ‚Was bedeutet Identität?’, ‚wie setzt sie sich zusammen?’, ‚kann sie als einheitlich verstanden werden?’ und ‚wann besitzt man eine Identität?’ so lauten die Fragen, die sich aus der dargestellten Bearbeitung des Doppelgängermotivs ergeben. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit können solche Fragen, deren Diskurse letztlich Jahrhunderte alt sind, natürlich nicht geklärt werden, was auch nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist. Vielmehr soll durch die Analyse von FIGHT CLUB aufgezeigt werden, wie die Verwendung des Motivs des Doppelgängers in der Postmoderne solche Thematiken bearbeitet.

Goljadkins ideelle Vorsätze, d.h. die Werte, über die er sich selbst definieren will, erfahren eine schrittweise Auflösung bis zur völligen Abkehr von Individualität und damit zum Eintritt in die uniforme Masse. Die Angst vor der Auslöschung von Identität in einer neuen und neuartigen bürokratischen streng hierarchisch gegliederten Gesellschaftsordnung wird hierbei aufgezeigt, indem der Protagonist, ursprünglich aus einer ländlichen Gegend, mit den fremden städtischen Prozessen und Vorgängen konfrontiert wird. Die Verstädterung bzw. das Stadtbild Londons stellt sich auch bei Stevenson als Ausgangspunkt dar. In der unüberschaubaren Stadt, welche sich selbst als gespaltenes Wesen präsentiert, wird erst die eigentliche Ambivalenz deutlich. Dabei handelt es sich um die Ambivalenz der Identität. Natürliche und zivilisatorische Eigenschaften sind unter einer Hülle verborgen. Eine klare Identität wird lediglich dem Teilprodukt Hyde zugesprochen, denn dieser ist die Verkörperung eines Teiles einer zwiespältigen Identität. Identität wird als grundsätzlich ambivalent präsentiert, indem Jekyll eine Spaltung erfährt.[11]

Beide ausführlich veranschaulichte Behandlungen des Motivs des Doppelgängers erweisen sich bis heute als grundsätzliche. Wichtige thematische Elemente aus beiden Geschichten lassen sich in FIGHT CLUB und anderen zeitgenössischen Behandlungen des Motivs wiederfinden. Zu diesen bereits beschriebenen Elementen gehören die symbolische Verwendung der Spiegels, die Verwirrung des Selbst, der Rollentausch, die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung, eine enge Verbundenheit mit dem Doppelgänger, der sich zunächst als Helfer aus einer Notsituation präsentiert, sowie die Unmöglichkeit einer beständigen parallelen Existenz. Wie diese Thematiken in die Postmoderne Einzug erhalten, soll die folgende Analyse des Films FIGHT CLUB aufzeigen.

Um das Motiv des Doppelgängers in der Postmoderne behandeln zu können, muss sich demnach zunächst mit der Postmoderne und ihren Merkmalen auseinandergesetzt werden.

Dabei will ich zuerst auf die Herkunft und Geschichte des Begriffs ‚Postmoderne’ eingehen, da sich hierdurch bereits definitorische Ansätze verdeutlichen. Anschließend soll sich die kulturelle Ausprägung der Postmoderne genauer angeschaut werden, um dann schließlich vor diesem Hintergrund analytisch vorgehen zu können.

3. Die Postmoderne

Geradezu inflationär wird der Begriff ‚Postmoderne’ bis zum heutigen Zeitpunkt benutzt. Alles und jeder bekommt das Attribut ‚postmodern’ zugeschrieben, um die Besonderheit des Dargestellten zu betonen, auch wenn es sich bei dem Dargestellten um ein Kochrezept handelt. Entweder soll der Begriff hierbei das ‚hippe’ Neumodische beschreiben oder ist er eben abwertend gemeint und drückt damit eine ablehnende Haltung des Benutzers aus. Als beliebig verwendbares Modewort hat der Begriff allerdings mittlerweile seinen Höhepunkt überschritten und taucht besonders auch in den Feuilleton-Teilen von Zeitungen in abnehmendem Maße auf.

Die wissenschaftlichen Diskurse über ein mögliches Ende der Postmoderne oder über die sogenannte ‚Post-Postmoderne’ sollen hier keine Berücksichtigung finden, da sie für die folgende Analyse nicht von Bedeutung sind und bisher keine fruchtbare Konzeptentwicklung oder umfassende Bestandsbeschreibung hervorgebracht hat.

Zunächst soll hier knapp die Entwicklungsgeschichte des Begriffs ‚Postmoderne’ wiedergegeben werden. Schon eine solche Erläuterung führt zu einem ersten Verständnis des Begriffs. Hauptsächlich beziehe ich mich hierbei auf die Ausführungen Wolfgang Welschs in seinem 1988 erschienenen Buch WEGE AUS DER MODERNE: SCHLÜSSELTEXTE DER POSTMODERNE-DISKUSSION. In diesem verfolgt Welsch den Begriff ‚Postmoderne’ bis hinein in das 19. Jahrhundert.

Anschließend zeige ich zwei Theorien über die Postmoderne auf, die ich als grundlegende verstehe. Sie sollen die Basis der folgenden Analyse darstellen.

Die Theorie des marxistisch geprägten Literaturwissenschaftlers Fredric Jameson erweist sich für die Analyse als äußerst nützlich, da Jameson seinen Schwerpunkt auf ökonomische Aspekte legt und von diesen ausgehend seine Theorie entfaltet.

Der Soziologe Zygmunt Baumann beschreibt in seinen Ausführungen einen Zustand von gegenwärtiger Ungewissheit, deren Dimensionen er aufzeigt. Diese Ungewissheit sowie die von Jameson ausgeführten Gegebenheiten sollen den Hintergrund darstellen, vor dem der Film FIGHT CLUB in dieser Arbeit betrachtet wird. Dass dies sinnvoll ist, um die postmoderne Ausprägung des Motivs des Doppelgängers zu verstehen, wird sich innerhalb der Analyse zeigen.

3.1. Kurze Geschichte des Begriffs ‚Postmoderne’

Das Adjektiv ‚postmodern’ tritt hiernach das erste Mal 1870 in England auf. Ein Salonmaler namens Chapmann benutzte das Adjektiv, um das Ziel seiner Malerei und der Malerei seiner Freunde zu definieren. Damit stellten sie sich gegen die damalige Dominanz des französischen Impressionismus. Die Verwendung des Begriffs blieb jedoch ebenso folgenlos für die heutige Postmoderne-Debatte wie die des deutschen Kulturkritikers Rudolf Pannwitz. Dieser sprach in seinem 1917 erschienenen Buch DIE KRISIS DER EUROPÄISCHEN KULTUR von einem ‚postmodernen Menschen’. Da die hierin vorgenommene Definition eines solchen Menschen durchaus interessant erscheint, möchte ich sie an dieser Stelle folgend wiedergeben. Pannwitz schreibt: „der sportlich gestählte nationalistisch bewusste militärisch erzogene religiös erregte postmoderne mensch ist ein überkrustetes weichtier ein juste-milieu von décadent und barbar davon geschwommen aus dem gebärerischen strudel der groszen décadence der radikalen revolution des europäischen nihilismus.“ (Pannwitz 1917: 64 zit. n. Welsch 1988: 8) Sehr schön ist hier ein Entwurf eines Idealtyps zu erkennen, welcher sicherlich zur damaligen Zeit nicht nur bei Pannwitz großes Interesse fand. Pannwitz selbst formuliert seinen ‚postmodernen Menschen’ in Bezug auf Nietzsches ‚Übermenschen’. Bei Nietzsche ist der Mensch etwas, was zugunsten des ‚Übermenschen’ überwunden werden soll. Der Mensch sei „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde.“ (Nietzsche 1995: 15 (zuerst 1894)) Der Übermensch tritt als heroischer Überwinder des modernen Menschen in Erscheinung. (vgl. Vester 1993: 9) In diesem Sinne spricht nun auch Pannwitz von dem ‚postmodernen Menschen’. Aufgrund der „Kritik von Modernität auf den Ebenen des philosophischen Denkens, der abendländisch-westlich-modernen Zivilisation, der Ästhetik und des Selbstverhältnisses des Menschen“ (Vester 1995: 10) gilt Nietzsche, so Welsch, „ als die Vaterfigur der Postmoderne.“ (Welsch 1988: 8)

Der Literaturwissenschaftler Federico de Oníz ist es, der zum ersten Mal das Substantiv ‚Postmoderne’ verwendet. In seiner 1934 erschienenen Anthologie über die neuere spanische und hispano-amerikanische Dichtung benennt er drei Phasen: ‚modernismo’ (1896-1905), ‚postmodernismo’ (1905-1914) und ‚ultramodernismo’ (1914-1932). De Oníz verwendet den Begriff ‚Postmoderne’ also als Zwischenschritt einer Steigerungsform der Moderne. Die ‚Ultramoderne’ stellt hierbei den Höhepunkt an Beschleunigung und Intensivierung der Moderne dar. (vgl. Welsch 1988: 8)

Auch wenn die drei bisher aufgezeigten Verwendungen der Begriffe ‚postmodern’ und ‚Postmoderne’, wie Welsch formuliert, „ohne nachhaltige Wirkung“ (Welsch 1988: 8) geblieben sind, so lassen sich doch aus ihnen auch für den weiteren Verlauf interessante Komponenten ableiten. Bei Chapman (1870) geht es um die Brechung einer bestimmten kulturell-ästhetischen Dominanz, Pannwitz (1917) behandelt ein neues Menschenbild und de Oníz fügt die Komponenten Intensivierung und Beschleunigung hinzu.

1947 erscheint die Enzyklopädie A STUDY OF HISTORY des Historikers Arnold Toynbee. Als ‚post-modern’ bezeichnet er darin die gegenwärtige Phase der abendländischen Kultur. Den Beginn dieser Phase datiert er auf das Jahr 1875. Diese Phase stelle den Übergang der Politik vom nationalstaatlichen Denken zu globaler Interaktion dar. Während Welsch hier den Gebrauch des Begriffs ‚Postmoderne’ „in ganz anderem Sinn [...] als danach in der uns bekannten Diskussion“ sieht (Welsch 1988: 9), macht der Soziologe Heinz-Günter Vester in dem „transnationale [n] Moment [...] ein wichtiges Merkmal der Postmoderne“ aus. (Vester 1993: 11) Auch andere Postmoderne-Analytiker, wie etwa Zygmunt Baumann, verbinden die Aspekte Globalisierung und Postmoderne miteinander. Damit wächst der Umfang des Begriffs ‚Postmoderne’ erheblich.

Wie wir bisher gesehen haben ist die Verwendung des Begriffs ‚Postmoderne’ durch Unsicherheit geprägt. Unterschiedliches wird darunter verstanden. Auch wird der Begriff in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt.

Der eigentliche Ausgangspunkt des heutigen Verständnisses von Postmoderne findet in den USA der späten 50er Jahre im Bereich der Literatur statt. Hier entsteht nun eine Debatte über postmoderne Literatur. In seinem 1959 erschienenen Aufsatz MASS-SOCIETY AND POSTMODERN FICTION kritisiert Irving Howe, wie auch Harry Levin 1960 durch seinen Aufsatz WHAT WAS MODERNISM? , die zeitgenössische Literatur. Diese sei von Erschlaffung gekennzeichnet und ihr fehle es an Innovation. Wie der Titel des Aufsatzes von Irving Howe schon deutlich macht, wird dies durch die neue Massengesellschaft erklärt. Diese fände ihren „adäquaten Ausdruck in nivellierten Formen.“ (Welsch 1988: 10) Das was Howe und Levin als ‚post-moderne’ Literatur bezeichnen, bekommt somit eine negative Konnotation. Positiv umgewertet wird dies gegen Ende der sechziger Jahre durch die Literaturkritiker Susan Sontag und Leslie Fiedler. Beide plädierten für eine Verbindung von Elite- und Massenkultur, welche in der Moderne eine strikte Trennung erfuhr. (vgl. Welsch 1988: 11)

[...]


[1] Bei Internetrecherchen trifft man heute auf der Suche nach dem Thema des Doppelgängers auf eine Reihe okkulter Beschäftigungen mit diesem, welche den (‚wahrhaftig’ gesehenen, erlebten) Doppelgänger als Beweis einer transzendentalen Ebene betrachten. Dieser ‚geheimnisvoll mysteriöse’ Strang dürfte genauso wie die Kategorie der zahlreichen Verschwörungstheorien Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung und Ungewissheit sein, auf die ich später noch zurückkommen werde. Dem ‚transzendentalen’, ‚paranormalen’ Strang soll hier keine weitere Erläuterung zukommen.

[2] Der Terminus ‚populär’ soll an dieser Stelle in dem allgemeinen Sinne verstanden werden, dass sich etwas bei einer großen Anzahl von Menschen großer Beliebtheit erfreut. Die vielfachen Diskurse über die Populärkultur sind hierbei nicht berücksichtigt.

[3] Möglicherweise ist die Einfachheit der hierin dargestellten Problematik ein Zeichen für den Wunsch nach klaren Orientierungsmustern und Überschaubarkeit in einer Welt, in der eine solch einfache Orientierung nicht mehr möglich ist.

[4] Ebenfalls in dieser Zeit, nämlich 1818, erschein Mary Shelleys FRANKENSTEIN. Auch wenn dies keine direkte Doppelgängererzählung ist, so ist doch die Beziehung der geschaffenen Kreatur zu Dr. Frankenstein eine ähnliche wie die Beziehung von Edward Hyde zu Dr. Jekyll. Dr. Frankenstein sowie Dr. Jekyll erschaffen eine Kreatur, die sie nicht kontrollieren können und ihr eigenes Überleben bedroht. Während dies bei FRANKENSTEIN rein äußerlich geschieht, ist es bei Stevensons DER SELTSAME DR. JEKYLL UND MR. HYDE eine Bedrohung, die aus dem eigenen Selbst hervorgeht.

[5] wie auch innerhalb des nächsten Kapitels in Baumanns Ausführungen über die Moderne zu sehen sein wird

[6] Die in den Klammern aufgeführten Zahlen stellen die Seitenzahlen in der zuvor erwähnten Ausgabe von Dostojewskijs DER DOPPELGÄNGER dar.

[7] Doch zu einer ausführlicheren Behandlung dieser psychoanalytischen Theorie komme ich an späterer Stelle dieser Arbeit noch einmal zurück.

[8] Zum Begriff des Subjekts folgt später noch eine kurze Erläuterung

[9] Vielleicht ist dies der Grund, warum die Fortführung von Jekylls Zitat in der Sekundärliteratur so gut wie keine Beachtung findet. Obwohl offensichtlich die Ambivalenz das entscheidende Thema Stevensons ist, so führt Jekyll in seinem Bekenntnisschreiben dennoch aus: „Ich sage nur deshalb, dass er [der Mensch] bloß aus zwei Wesen bestehe, weil meine eigene Erkenntnis nicht darüber hinausgekommen ist. Andere werden auf dem von mir eingeschlagenen Wege weiterschreiten und mich auf diesem Pfade in den Schatten stellen, und ich wage sogar, die Vermutung auszusprechen, dass man schließlich in der Definition des Menschen so weit kommen wird, dass dieser nichts als eine Zusammensetzung von mannigfaltigen, sich widerstrebenden und nach Unabhängigkeit trachtenden Kräften ist.“ (131) Außer in diesem Zitat gibt es während des gesamten Romans kein weiteres Indiz, welches auf das Konzept der Vielfachheit des Selbst Bezug nehmen könnte. Vielmehr wird eine klare Dualität, welche anhand der zweiten Persönlichkeit Edward Hyde besonders deutlich wird, aufgezeigt. Dennoch: Sieht man von dem ans Transzendentale, Metaphysische angelehnten Terminus ‚Kräften’ ab, so liegt hier die eigentliche visionäre Stärke Stevensons, denn wie später noch zu sehen sein wird, wird die Mannigfaltigkeit oder die fragmentarische Zusammensetzung des Selbst zu einem zentralen Thema der Überlegungen zur Postmoderne.

[10] die auf Descartes zurückgeht: “Ich denke also bin Ich“

[11] Dieses Bild der Spaltung ist für Herdman ein Bild von großer visueller Qualität. Damit sei es verbunden mit der Einfachheit der Geschichte für die vielen folgenden Verfilmungen von DR. JEKYLL UND MR. HYDE verantwortlich. (vgl. Herdman 1990: 115) Die Geschichte der Verfilmung lässt sich über Jahre hinweg bis in die späten 1990er verfolgen. Hier findet eine Verfilmung unter dem Namen MARY REILLY statt. Mit dem Titel zeigt sich bereits die Verschiebung des Schwerpunktes auf ein neues Motiv. Das Auftreten der Frau, die Zuneigung zu dieser und die Unfähigkeit und Unmöglichkeit des Eingeständnisses der Liebe zu dieser treten hier als verursachende Motive des Doppelgängers auf. Dabei wird die Variation des Themas trotz der ursprünglichen zeitlichen Festsetzung eine neuartige, da sie eine feminine Perspektive besitzt.

Excerpt out of 139 pages

Details

Title
Das Motiv des Doppelgängers in der Postmoderne. Eine Analyse David Finchers Films "Fight Club"
College
University of Hamburg  (Institut für Germanistik II)
Grade
1,7
Author
Year
2003
Pages
139
Catalog Number
V48809
ISBN (eBook)
9783638454018
ISBN (Book)
9783638773027
File size
1308 KB
Language
German
Notes
Eine Analyse des Films Fight Club im Hinblick auf die Entstehung des Doppelgängermotivs im postmodernen Kapitalismus
Keywords
Motiv, Doppelgängers, Postmoderne, Analyse, Films, Fight, Club
Quote paper
Christoph Kohlhöfer (Author), 2003, Das Motiv des Doppelgängers in der Postmoderne. Eine Analyse David Finchers Films "Fight Club", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48809

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