Junge türkische Frauen in der BRD: Leben zwischen zwei Kulturen


Tesis, 2005

99 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Gliederung

Einleitung

1. Historischer Rückblick

2. Sozialisation junger türkischer Frauen in der BRD
2.1 Definition von Sozialisation
2.2 Sozialisationsbereich Familie
2.2.1 Familienstruktur
2.2.2 Geschlechtsspezifische Erziehungsmethoden in der traditionellen türkischen Familie
2.2.3 Das Werte- und Normensystem in der traditionellen türkischen Familie
2.2.4 Sexualität und Heirat junger türkischer Frauen
2.3 Sozialisationsbereich Bildung und Erwerbstätigkeit
2.3.1 Die vier Phasen der Bildung und Erwerbstätigkeit
2.3.2 Schule/Studium und Beruf
2.3.2.1 Schule und Studium
2.3.2.2 Beruf
2.4 Sozialisationsbereich Freizeit
2.4.1 Das Freizeitverhalten von türkischen Jugendlichen
2.4.2 Geschlechtsspezifische Entwicklung in der Jugend

3. Das Kopftuch – Ein Symbol der Unterdrückung?

4. Identität junger türkischer Frauen in der BRD
4.1 Definition von Identität
4.2 Identitäts- und Kulturkonflikt
4.3 Identität junger türkischer Frauen

5. Die Integration junger türkischer Frauen in der BRD
5.1. Definition von Integration
5.1.1 Die Anpassung
5.1.2 Die Assimilation
5.2 Die Integrationspolitik
5.3 Die bilinguale Integration

6. Sozialarbeiterische Projekte für türkische Frauen

Schlussbetrachtung

Bibliographie

Internetverzeichnis

Anhang

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Hintergrund und zentrale Fragestellung

In der vorliegenden Arbeit soll über die Situation junger türkischer Frauen der zweiten und dritten Generation in der BRD aufmerksam gemacht werden. Da ich selbst Türkin der zweiten Generation bin, in Deutschland geboren und aufgewachsen, kenne ich nur allzu gut das Dilemma, zwischen zwei Kulturen leben zu müssen. Auch ich habe mit Identitätsverlust, dem Gefühl von Heimatlosigkeit und nach wie vor mit Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen. Diese Problematik hat mein Interesse für diese Arbeit geweckt.

Deshalb lautet das Thema dieser Diplomarbeit „Junge türkische Frauen in der BRD. Leben zwischen zwei Kulturen“. Diese Arbeit befasst sich mit dem Leben junger türkischer Frauen der zweiten und dritten Generation, die in der BRD geboren beziehungsweise aufgewachsen sind. Im Mittelpunkt steht der Identitäts- und Kulturkonflikt der jungen Frauen, der sich aus dem Leben zwischen zwei Kulturen ergibt. Vor diesem Hintergrund stellen sich in den jeweiligen Kapiteln folgende Fragen:

1. Kapitel

- Wo sind die Wurzeln junger türkischer Frauen der zweiten und dritten

Generation in der BRD?

- Was sind die Beweggründe der Auswanderung ihrer Väter und Mütter?
- Wie ist die Integration der Eltern verlaufen?
- Welche Folgen hat ihre Anpassung an die deutsche Kultur in Bezug

auf ihre Nachkommen?

2. Kapitel

- Wie verläuft die Sozialisation junger türkischer Frauen in der BRD?
- Wie ist hierbei die traditionell- türkische Familienstruktur aufgebaut? –
- Durch welche Merkmale ist der traditionell- türkische Erziehungsstil

gekennzeichnet?

- Wie gestaltet sich das Wert- und Normensystem in der traditionell-

türkischen Familie?

- Welchen Veränderungen sind Familienstruktur, Erziehungsstil, sowie das

Wert- und Normensystem im Migrationsprozess ausgesetzt?

- Wie sind die traditionellen Vorstellungen über Sexualität junger

türkischer Frauen und welche Regeln gelten für türkische Familien bei

der Heirat?

- Wie verläuft der schulische und berufliche Werdegang türkischer

Jugendlicher, speziell der der türkischen Mädchen?

- Wie sind diesbezüglich ihre Chancen?
- In welchem Rahmen gestaltet sich das Freizeitverhalten türkischer

Jugendlicher, insbesondere das der türkischen Mädchen und jungen

Frauen?

3. Kapitel :

- Welche Ansichten gibt es in Bezug auf die Kopftuchfrage?
- Was symbolisiert das Tragen eines Kopftuchs für junge,

türkische Frauen?

4. Kapitel :

- Wie und in welcher Weise entsteht die Identität von Migrantkindern?

Wie verläuft insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung junger

türkischer Frauen?

- Welche Konflikte resultieren aus dem Leben zwischen zwei Kulturen? –

- Wie ist der Identitäts- und Kulturkonflikt zu lösen?

5. Kapitel :

- Welche Probleme entstehen bei der Integration türkischer Migranten,

vor allem bei der junger türkischer Frauen?

- Welche Lösungsansätze für die Integration gibt es?

6. Kapitel :

- Welche sozialarbeiterischen Projekte für junge türkische

Frauen wurden bereits realisiert?

Vorgehensweise und Forschungshintergrund

Im Hauptteil der Arbeit wird die Methodik der Literaturanalyse, in einem praktischen Teil das Medium Interview gewählt.

Das Leben zwischen zwei Kulturen wird in der Forschung mehrfach untersucht. Es existieren diverse Vorstellungen über die Kopftuchfrage, sowie über Sozialisation, Identitäts- und Kulturkonflikt und Integration junger türkischer Frauen. Die Autoren Ursula Neumann, Ursula Boos Nünning, Konstantin Laijos, sowie Silke Riesner vertreten überwiegend eine eher negative Position, die besagt, dass junge türkische Frauen zwangsläufig einem Identitäts- und Kulturkonflikt ausgesetzt sind und dass das Leben zwischen zwei Kulturen Gefahren birgt. Kirstin Bauer geht von einer strengeren Haltung bezüglich des Erziehungsstils junger türkischer Mädchen aus. Faruk Sen hingegen tendiert zu liberalen Formen der Erziehungsmethodik. Heide Oestreich diskutiert die Kontroversen „Kopftuch als Symbol der Unterdrückung oder des Schutzes/Sicherheit“. All diese Forschungsansätze wurden von mir gesichtet, die einzelnen Gesichtspunkte analysiert und herausgearbeitet. Die untersuchten Aspekte sollen dem Leser keineswegs infiltriert werden. Er soll sie nicht als gegeben hinnehmen, sondern vielmehr unvoreingenommen an die Arbeit herangehen und zur Bildung einer eigenen Meinung animiert werden. Die eher positive Ansicht, in der Auseinandersetzung zwischen zwei Kulturen auch Chancen zu sehen, wird ebenfalls diskutiert. Eigene Sichtweisen über die Thematik Leben zwischen zwei Kulturen werden ebenso erörtert. Um den Argumentationsstrang jedoch nicht zu stören, werden diese in Form eines kritischen Resumées in einer Schlussbetrachtung aufgeführt. Die durchgeführten Interviews sollen die eigenen Sichtweisen untermalen.

Während der Literaturrecherche war auffällig, dass es an aktueller Forschung fehlt, insbesondere mangelt es an geschlechtsspezifischen Ergebnissen über junge türkische Frauen der zweiten und dritten Generation in der BRD.

Da es den Rahmen einer Diplomarbeit sprengen würde, bleiben einige sicherlich erwähnenswerte Aspekte, wie z.B. das türkische Frauenbild seitens der türkischen Männer oder der deutschen Frauen unerwähnt. Bei der Thematik Kopftuchstreit und islamische Frauenrolle im Koran beispielsweise werden auch nur Aspekte herausgearbeitet, die Aufschluss über das Leben junger türkischer Frauen zwischen zwei Kulturen geben.

Zusammenfassung und Erläuterung der Gliederung

Im ersten Kapitel wird ein historischer Rückblick über die Herkunft und Entwicklung der 1. Generation türkischer Migranten aufgeführt, um das Thema junge türkische Frauen der zweiten und dritten Generation in der BRD einzuleiten. Das zweite Kapitel behandelt die Sozialisation junger türkischer Frauen. Denn das Leben zwischen zwei Kulturen ist nur zu verstehen, wenn man die Sozialisationsentwicklung der Frauen in den Bereichen Familie (primärer Sektor), Schule/Beruf (sekundärer Sektor) und Freizeit (tertiärer Sektor) betrachtet. Im dritten Kapitel wird die Kopftuchfrage behandelt, um die beiden Positionen „Verschleierung als Symbol der Unterdrückung oder der Stabilität“ gegenüberzustellen. Der Identitäts- und Kulturkonflikt, insbesondere die geschlechtsspezifische Identitätsentwicklung junger türkischer Frauen thematisiert das vierte Kapitel. So wird das Dilemma, zwischen zwei unterschiedlichen Wert- und Normensystemen leben zu müssen, begreifbar gemacht. Um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, die Diskrepanz zwischen zwei Welten zu überwinden, wird in Kapitel fünf auf das Problem der Integration türkischer Migranten mit dem Schwerpunkt Bilingualität aufmerksam gemacht. Die in Kapitel 6 angeführten sozialarbeiterischen Projekte für junge türkische Frauen (Türk kadinlar Birligi e. V. Kassel, TIO, Papatya) sollen die bereits realisierten Bemühungen um die Integration junger türkischer Frauen in der BRD zeigen. In einer Schlussbetrachtung werden die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst. Ein kritisches Resumée veranschaulicht persönliche Sichtweisen zur vorliegenden Thematik. In einem Ausblick werden Zukunftsperspektiven bezüglich einer Integration der Nachkommen junger türkischer Frauen in der BRD diskutiert.

1. Historischer Rückblick

Mit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei am 31.10.1961 wurden türkische Arbeiter, meist aus sehr unterentwickelten Gegenden Süd- und Ostanatoliens stammend, in die Bundesrepublik Deutschland bestellt. Dies wurde veranlasst, um die deutsche Wirtschaft anzukurbeln, und weil ein Arbeitermangel durch den Berliner Mauerbau herrschte (Sen, 1994, S.9).

Um Krankheitsfällen in Deutschland vorzubeugen, wurden von den deutschen Behörden zahlreiche Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen bereits in der Türkei durchgeführt. Diese empfanden die türkischen Männer und Frauen als unwürdige Entblößung. Wie Schwerstverbrecher wurden ihnen Nummern auf die Körper geschrieben. Sie kamen sich vor wie Menschen zweiter Klasse. Nur die Gesunden wurden ausgewählt und bekamen eine Arbeitserlaubnis für das Ausland. Die türkischen Migranten trafen als erste nicht europäische Gastarbeiter mit den Zügen auf dem bekannten "Gleis 11“ ein. Von dort aus wurden die völlig erschöpften Ankömmlinge auf ihre neuen Arbeitgeber verteilt (Terkessidis, 2002, S. 9 ff.).

Bereits vor der Auswanderung in die BRD fand eine Binnenmigration innerhalb der Türkei statt. Die Bauern zogen aufgrund harter Arbeitsbedingungen und geringer Erträge im landwirtschaftlichen Sektor aus den Dörfern in die Großstädte Istanbul, Izmir und Ankara. Die Masse von ungelernten Arbeitern konnte in den Städten nicht mit genügend Arbeitsplätzen versorgt werden. So stellten die Arbeitsangebote aus dem Ausland einen hohen Anreiz zur Verwirklichung von Zukunftsplänen, wie z.B. berufliche Selbstständigkeit oder das Erwerben von Immobilien in der Heimat dar (Sen, 1994, S.15 ff.).

Diese Menschen ließen ihre Liebsten und ihre Familien in der Heimat zurück, und zogen oft mit niedriger Bildung und keinerlei Deutschkenntnissen in die große Fremde. Mit dem Gehalt aus

Deutschland galt es auch die zurückgelassene Familie zu versorgen (Sen, 1994, S.12).

In der „neuen Heimat“ brachte man die Migranten dann in Sammelunterkünften unter. Mit Verzicht auf jegliche Art von Privatsphäre lebten hier bis zu sechs Männer eingepfercht auf nur 10 Quadratmetern. Die Wohnlager grenzten direkt an die Fabriken, in denen sie arbeiteten. Der Kontakt zur Außenwelt war durch mangelnde Sprachkenntnisse und arbeitsbedingte Erschöpfungszustände ohnehin stark begrenzt und wurde durch schlechte Wohnbedingungen zusätzlich eingeschränkt (Terkessidis, 2002, S. 19).

Die schwersten Arbeiten wurden von Gastarbeitern verrichtet. Sie deckten hauptsächlich unqualifizierte und unsichere Arbeitsplätze ab.

Nicht nur Männer wurden angeworben. Jede fünfte türkische Arbeitskraft war eine Frau. Diese Frauen entsprachen nicht dem deutschen Bild einer typischen Türkin. Sie emigrierten zunächst einmal ohne ihre Männer und arbeiteten in „Frauenfabriken“, wie z.B. in der Textil-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie, sowie im Dienstleistungsgewerbe. Sie wurden angeworben, weil sie den deutschen Staat aufgrund ihrer niedrigen Löhne nicht viel Geld kosteten (Terkessidis, 2002, S. 19).

Viele junge Frauen wurden nach Deutschland geschickt, um später ihre Ehemänner und Kinder nachholen zu können. Es kamen aber auch zahlreiche ledige, geschiedene, verwitwete Frauen, da ihre finanzielle Situation in der Türkei keine andere Möglichkeit zuließ. Sie wanderten auch aus, um ihren Lebenshorizont zu erweitern oder um ein neues Leben zu beginnen. Wie auch die ersten männlichen Gastarbeiter, lebten sie zunächst in Sammelunterkünften. Diese Einengung führte zu großen psychischen Problemen, unter anderem zu Depressionen. Darüber hinaus fühlte sich ein Großteil der türkischen Einwanderinnen in Deutschland nicht wirklich willkommen. Sie waren Generations- und Kulturkonflikten ausgesetzt, mussten ihre Wert- und Normvorstellungen anpassen, dem „Gastland“ gerecht werden. Hinzu kam die andauernde physische Belastung durch Akkord- und Schichtarbeit, sowie die zusätzlichen Aufgaben im Haushalt. Die zurückgebliebenen Familienangehörigen wurden bis 1973 nachgeholt (Terkessidis, 2002, S. 26).

Im November 1973 veranlasste die Bundesregierung einen Anwerbestopp für Ausländer, die nicht aus der Europäischen Gemeinschaft kamen. Dieses Abkommen resultierte aus der Ölpreisexplosion und der sich andeutenden Rezession. Durch den Anwerbestopp wollte die BRD die Ausländerzahl auf Dauer reduzieren, insbesondere die Zahl der nicht EG-Mitglieder, wie z.B. der Türken. Jahrelang dachten sowohl die Türken als auch die Einheimischen, dass der Aufenthalt in Deutschland nur von kurzer Dauer sei. Man zeigte kein Interesse für die türkische Kultur und bemühte sich nicht um die Integration der Einwanderer. Gründe für das Verbleiben in Deutschland seitens der Gastarbeiter waren die schulische Ausbildung der Kinder, die schlechte wirtschaftliche Lage der Türkei und finanzielle Unsicherheit im Falle einer Rückkehr in die Heimat (Sen, 1994, S.23ff.).

Zudem änderten sich die Wohnverhältnisse für türkische Migranten in Deutschland ab 1972. Sammelunterkünfte wurden nach und nach durch Mietwohnungen ersetzt, der Lebensstandard verbesserte sich dadurch erheblich. Bedingt durch die zunehmende Gastarbeitermigration sollte nach dem Anwerbestopp 1972 die zweite Generation integriert und an die Gesellschaft angepasst werden (Terkessidis, 2002, S. 27 ff).

2. Sozialisation junger türkischer Frauen in der BRD

2.1 Definition von Sozialisation

Der Begriff der Sozialisation, auch Sozialisierung genannt, kommt aus der Sozialwissenschaft, und beschreibt den Prozess, in dem sich der Mensch zu einem vollwertigen Gesellschaftsmitglied entwickelt, und sich somit an seine Umwelt anpasst. Die Psychologie definiert Sozialisation als Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft. Sie beinhaltet die Aneignung der üblichen Kommunikationsmittel, insbesondere die der Sprache, der kulturellen Normen und Werte, sowie der jeweilig geltenden Moral, und regelt die Interaktion mit anderen. Die Grundlage der Sozialisation wird bereits während der frühen Kindheitsphase innerhalb

der Familie festgelegt. Hier erlernt das Kind, in wie weit es sich anpassen muss oder sich durchsetzen kann (Knoll, 1997, S. 372).

Von einer erfolgreichen Sozialisation spricht man, wenn sich der Mensch soziale Normen, Werte, Repräsentationen sowie auch soziale Rollen der Gesellschaft und Kultur, in der er sich aufhält, angeeignet hat. Albert Bandura umschreibt den Begriff der Sozialisation wie folgt: „Sozialisation bezieht sich auf den Prozess, durch den Individuen jene Qualitäten entwickeln, die für ein wirksames Bestehen in der Gesellschaft, in der sie leben, wesentlich sind“ (Arnold, Eysenck, Meili, 1971, S. 375).

Klaus Hurrelmann definiert Sozialisation als „produktive Verarbeitung der Realität“, als "Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt." Vorrang hat für Hurrelmann dabei die Frage, "wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet" (Hurrelmann, 1976, S. 11, S.15).

Aus den oben aufgeführten Begriffsbestimmungen der Sozialisation lassen sich folgende drei Verwendungsbereiche ableiten.

"Sozialisation" beschreibt zunächst im weitesten Sinne den Prozess der Erziehung und beinhaltet alle gesellschaftlichen Maßnahmen, die direkt oder indirekt auf die Ausbildung der Persönlichkeitsstruktur der Gesellschaftsmitglieder Einfluss nehmen. Zum anderen umfasst Sozialisation die Persönlichkeitsentwicklung selbst, so weit sie durch Umwelteinflüsse bestimmt wird. Des weiteren bezeichnet sie den Prozess der Vermittlung von gesellschaftlichen Normen und Handlungsmustern, in dessen Verlauf das Mitglied der Gesellschaft erst zu einem handlungsfähigen menschlichen Subjekt wird (http://www.bebis.cidsnet.de).

Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess. In dessen Mittelpunkt steht die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Sie resultiert zum einen aus der Einzigartigkeit des Menschen, zum anderen aus dem Sozialcharakter, den die Mitglieder einer Gesellschaft miteinander teilen. Darunter ist die Übernahme von Werten, Normen und sozialen Rollen im Prozess der Entkulturation zu verstehen.

Man differenziert die primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation. Die primäre Sozialisation verläuft innerhalb der Familie und endet mit der Herausbildung einer individuellen Identität des Menschen. Die in dieser Zeit angelernten Normen, Werte und Verhaltensregeln gelten als fester Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung, die sich jedoch in der sekundären Sozialisationsphase durch äußerliche Einflüsse verändern können. Die sekundäre Sozialisation findet innerhalb von Gemeinschaften und Institutionen insbesondere in der Familie, Schule sowie in gleichen Altersgruppen statt. Hier lernt der Mensch, wie er sich innerhalb der Gesellschaft verhalten soll. Die Sozialisation, die der Mensch im Erwachsenenalter durchläuft, nennt man tertiäre Sozialisation. Diese Phase bezeichnet die Anpassungen des Individuums, die im Handlungsprozess mit seiner sozialen Umgebung ständig vorgenommen werden (http://www.bebis.cidsnet.de).

Um die Lebenssituation der jungen türkischen Frauen, die einen Großteil ihres Lebens in der BRD verbracht haben, näher zu betrachten, sind Kindheit und Jugendalter, insbesondere die genannten Sozialisationsbereiche Familie, Schule und Freizeit zu untersuchen.

2.2 Sozialisationsbereich Familie

2.2.1 Familienstruktur

Die türkische Familie im Allgemeinen ist patriarchalisch nach Geschlechts- und Altershierarchie strukturiert. So haben die männlichen Familienmitglieder vor den weiblichen, die Älteren vor den Jüngeren Vorrang. Das älteste männliche Familienmitglied bildet das Oberhaupt der Familie, bei dem auch die Autorität liegt. Danach folgen alle männlichen Personen, die je nach Alter Ansehen im Familienverband genießen. Die Frauen stehen an zweiter und an untergeordneter Stelle. Aber auch hier entscheidet Alter über Hierarchie (König, 1989, S. 25 ff.).

Die Familienstruktur richtet sich nicht nach der individuellen Persönlichkeit der einzelnen Familienmitglieder, sondern nach ihrer Anpassung an Rollenklischees. Die Familienstruktur ändert sich durch den Migrationsprozess. Verschiedenste Faktoren haben Einfluss auf diesen Prozess. Es kommt beispielsweise darauf an, welcher Ehepartner als erstes immigriert. Dadurch entfremden sich die einzelnen Familienmitglieder. Entscheidend sind auch das Wohnumfeld der Familie sowie die Berufstätigkeit der Mutter, nicht zu vergessen die Aufenthaltsdauer der Familie in der BRD und ihre unterschiedliche Anpassung an die Umwelt.

Insbesondere der Grad der Religiosität beeinflusst die Familienstruktur im Migrationsprozess. Die türkischen Familien leben hier in einer fremden Umgebung, werden mit unbekannten Werten und Verhaltensweisen konfrontiert, mit denen schwer zurecht zu kommen ist. Im Koran finden sie Orientierung und Sicherheit, fühlen sich beschützt in einer fremden Welt und bewahren sich vor einer Identitätskrise (Riesner, 1990, S. 27).

Die traditionell türkische Familie besteht weder in der Türkei noch in Deutschland. Familiengröße, hierarchische Struktur und Lebensgewohnheiten hängen überwiegend davon ab, wie die Familie vor der Auswanderung in der Heimat lebte. Alle hier lebenden türkischen Familien haben zwar die gemeinsame Erfahrung der Auswanderung gemacht, aber die Verkraftung des jahrelangen Getrennt seins, sowie das Bestreben, in einer zunächst unbekannten Lebens- und Arbeitswelt zurechtzukommen, ist ihnen gemeinsam. Aber wie sich die Familienstruktur im Migrationsprozess verändert, hängt von ihrer Herkunft ab. Es ist ein Unterschied, ob sie eher aus einer ländlichen Gegend mit traditionellen Werten und klar definiertem Geschlechtsrollenverständnis stammt, oder aus Städten mit eher gleichberechtigt- moderneren Ansichten.

Die traditionelle türkische Großfamilie, in der mehrere Generationen unter einem Dach leben, ist hier in Deutschland nicht möglich. Zum einen ist es schwierig, günstige Wohnungen mit viel Raum zu bekommen, zum anderen möchten die Töchter und Söhne das Elternhaus verlassen und unabhängig und selbstständig leben. Entsprechend dem gesellschaftlichen und sozialen Strukturwandel hat sich in den letzten Jahrzehnten die Struktur der türkischen Familien mit verändert

(Sen, 1994, S. 54).

Das Klischeedenken über Türken, die in traditionellen Großfamilien in einem großen Haus zusammenleben, bestätigt sich nicht, denn es gibt auch viele Kleinfamilien. Aber das Leben in der Kleinfamilie bedeutet nicht Distanz zur Großfamilie, im Gegenteil, der soziale Verband existiert noch immer sehr stark. Die Verwandtschaftsbeziehung als Wertorientierung kommt an erster Stelle. Dazu gehören die Verpflichtungen zur gegenseitigen Hilfe, die weit über die Familie hinausgehen. Man unterstützt eben auch Freunde, Bekannte und Nachbarn. Diese Solidargemeinschaft unter den Türken kommt insbesondere in der Fremde deutlich zum tragen (König, 1989, S.25ff).

2.2.2 Geschlechtsspezifische Erziehungsmethoden in der traditionellen türkischen Familie

Das oberste Erziehungsprinzip in der traditionell türkischen Familie ist der absolute Gehorsam den Eltern, vor allem dem Oberhaupt der Familie, dem Vater gegenüber.

Die Geburt einer Tochter wird oftmals mit Bedauern mitgeteilt und wird weniger willkommen geheißen als die Geburt eines Sohnes, die gefeiert wird. In streng islamischen Familien beschuldigt man sogar die Mütter für das Gebären mehrerer Töchter und es kann zu einem Verstoß der Frau seitens des Ehemannes kommen. Die Diskriminierung der Töchter kommt auch in vielen Redensarten zum Ausdruck. So heißt es z.B. in einem arabischen Sprichwort „Lieber ein Sack Flöhe hüten, als eine Schar junger Mädchen. Es ist gefährlich, sie aus dem Haus zu lassen und es ist gefährlich sie rein zu lassen.“ Natürlich wirkt sich die diskriminierende Behandlung von Mädchen unweigerlich auf deren Entwicklung aus. Mädchen führt man von Anfang ihre Unterlegenheit gegenüber männlichen Familienmitgliedern vor Augen, welche dann später zur Unsicherheit in der Beziehung zur ihrem Ehemann führen kann (Bauer, 1994, S. 33 ff).

Während von Mädchen ein hohes Maß an Freundlichkeit, Zurückhaltung und uneingeschränkten Gehorsam erwartet wird, dürfen sich Jungen Widerspruch und Ungehorsam erlauben. Schließlich wird Durchsetzungskraft als männliche Eigenschaft anerkannt, und ist daher für das spätere Rollenverhalten erwünscht. Den Brüdern wird bereits früh eine Autorität gegenüber ihren Schwestern eingeräumt. Sie dürfen sie zurechtweisen und ihnen Verbote erteilen. Die Geburt eines Sohnes wird auch ungleich höher bewertet als die einer Tochter. Söhne werden im Gegensatz zu Mädchen stark bevorzugt. Ihre Bevorteilung kennt zahlreiche Gründe. Zum einen gelten Söhne als Altersversorgung für die Eltern, Töchter hingegen haben eine Position auf Zeit, da sie irgendwann das Haus als Braut verlassen werden. Die Söhne hingegen wohnen in der Nähe der Familie und tragen die Verantwortung für sie. Zum anderen sichert ein Sohn den Fortbestand der Sippe, denn nur er gibt den Namen der Familie weiter. Werden keine weiteren Söhne geboren, stirbt die Familie aus (Bauer, 1994, S. 30 ff.).

Die Wertschätzung des Vaters beruht auf der Anzahl seiner Söhne, und nicht auf der seiner Töchter. Das Ansehen der Frau steigt mit der Geburt eines Sohnes. Erst dann wird sie von der Familie des Ehemannes erst richtig anerkannt. Aus der unterschiedlichen Behandlung von Töchtern und Söhnen resultiert eine Trennung zwischen männlichen und weiblichen Lebens- und Alltagsgewohnheiten, auf die bereits in der frühen Kindheit vorbereitet wird. Mädchen werden auf ihre Hausfrauen- und Mutterrolle hin erzogen, Jungen hingegen auf ihre Position als Stammhalter und Familienversorger. Die Kindererziehung ist allein Sache der Mutter. Bei Fehlverhalten seitens der Kinder wird sie zur Verantwortung herangezogen. Dem Vater fällt das Recht des Ge- und Verbietens zu. Von zentraler Bedeutung für die Erziehung beider Geschlechter ist das Einhalten von Achtung und Respekt gegenüber älteren Familienmitgliedern (König, 1989, S.32 ff.).

Die Erziehungsmethoden der türkischen Familie ändern sich im Migrationsprozess. Hierbei spielt die Herkunft eine nicht geringe Rolle in der Erziehung der Kinder. Besonders wenn die Familie traditionell geprägt ist, kann es durch die Diskrepanzen zwischen der türkischen und deutschen Kultur zu Konflikten kommen. Aus Angst vor Entfremdung ihrer Kinder von der Familie und der Heimat werden insbesondere die Töchter traditioneller erzogen als dies in der Türkei der Fall wäre. Denn nur in der Fremde konkurrieren unterschiedliche Werte auf so extreme Weise nebeneinander. Die Loslösung von der eigenen Kultur wird befürchtet. Türkische Eltern haben im Erziehungsprozess oftmals Vorbehalte gegenüber der deutschen Kultur, insbesondere gegenüber christlichen Grundeinstellungen. Viele türkische Eltern befürworten jedoch weitestgehend „liberale“ und weniger strenge Erziehungsmethoden. Von einer traditionell geprägten Erziehung, die religiös-moralische Werte beinhaltet, bis hin zu eher westlich orientierten, aufgeschlossenen Erziehungsvorstellungen, bei denen bestimmte traditionelle Werte noch beibehalten werden, sind alle Familienformen in Deutschland vertreten (Sen, 1994, S.54 ff.).

2.2.3 Das Werte- und Normensystem in der traditionellen türkischen Familie

Das Werte- und Normensystem der traditionell türkischen Familie ist stark durch Religion und Tradition geprägt und ist im Kontext der im Islam übertragenen Werte zu sehen. Das ganze soziale Miteinander richtet sich nach dem Koran. Insbesondere Familienstruktur, Erziehung und Ehre, sogar jegliche Art zwischenmenschlicher Beziehung ist an islamischen Werten orientiert. Jeder Brauch, jede alltägliche Handlung hat einen religiösen Hintergrund, insbesondere was das Leben der türkischen Frau betrifft. Religion und Alltag sind eng miteinander verbunden. Glaube ist keine individuelle Entscheidung. Glaube ist Faktum, Offenbarung und Wissen. Zudem wird im Christentum, nicht wie im Islam, zwischen geistlichem und weltlichen Bereich unterschieden. Die islamische Ordnung regelt alle Lebensbereiche. Die religiösen Werte sind so verinnerlicht, dass sie unbewusst gelebt werden (König, 1989, S.17ff).

Oft werden bestimmte türkische Wertvorstellungen in Deutschland stärker ausgelebt, als in der Heimat. Damit das Rollengefüge der türkischen Mädchen innerhalb der Familie nicht gefährdet wird, hält man die äußerlichen Einflüsse aus der Mehrheitsgesellschaft auf Distanz. So ist zu beobachten, dass der Freiraum der türkischen Mädchen hier sehr eingeschränkt ist. In der Türkei herrschen die gleichen Wert- und Normvorstellungen, nur sind diese für alle gleich bedeutend. So werden die Töchter nicht mit konkurrierenden, westlichen Wert- und Normvorstellungen konfrontiert und sind somit keinem abweichenden, aus religiöser Sicht „unmoralischem“ Verhalten ausgesetzt. Einerseits werden türkische Werte und Normen von der Familie, bzw. dem Verwandten- und Bekanntenkreis vermittelt, andererseits wirkt zunehmend die westliche Kultur auf außerfamiliäre Sozialisationsfelder, wie Schule und Freizeit auf die Mädchen und jungen Frauen ein. Daraus entsteht für die meisten Türkinnen ein Kulturkonflikt. Zum einen wird versucht, ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen her zustellen. Zum anderen wird verhindert, Wünsche und Träume zu realisieren (Riesner, 1990, S.26ff).

Die Auseinandersetzung mit der modernen, westlichen Kultur und die Loslösung von traditionellen Werten und Normen führen nicht immer zu einer Integration in die Gesellschaft. Zahlreiche Untersuchungen in den letzten Jahren weisen sogar daraufhin, dass die Kulturkonflikte in der Auseinandersetzung mit neuer und alter Heimat häufig zu Orientierungs- und Heimatlosigkeit, d.h. zur Entfremdung der eigenen Identität führen (Sen, 1994, S. 56).

In der islamischen Gesellschaft zählt der Mensch nicht als Individuum, sondern als Repräsentant der Familienehre, die strikt bewahrt werden muss. Der höchste Stellenwert und Ehrenkodex einer Familie wird dem sexuellen Verhalten der weiblichen Mitglieder beigemessen. Der Ehrverlust durch sexuelles Fehlverhalten kann kaum wieder gut gemacht werden. Zu den unüberwindbaren Pflichten einer türkischen Frau gehört es, die Ehre niemals zu beschmutzen. Benimmt sich eine Frau schamlos, bringt sie über die ganze Familie Schande. Die Ehre, insbesondere die der Frau, ist von so großer Wichtigkeit, dass sie häufig zum Inhalt von Schwüren genommen wird. So schwört ein Mann nicht nur bei Allah, sondern auch bei der Ehre seiner Schwester und seiner Mutter (Bauer, 1994, S. 32).

Die männlichen Familienmitglieder haben im Gegensatz zu der Frau die Aufgabe, die Familienehre nach außen hin zu verteidigen. Dieses Pflichtbewusstsein kann soweit gehen, dass man vor Mord nicht zurückschreckt, was sich im Ehrenmordfall in Wiesbaden im Juni 2005 gezeigt hat. Die junge Türkin wurde getötet, weil sie mit einem Mann zusammen war, der von den Eltern nicht akzeptiert wurde. Nach Polizeimeldungen und Presseberichten gab es zwischen 1996 und Juli 2004 etwa 40 offizielle Ehrenmorde. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Die UN-Menschenrechtskomission geht davon aus, dass in islamischen Ländern weltweit 5000 Frauen pro Jahr dem Ehrenmord zum Opfer fallen (Sen, 1994, S. 54 ff.).

2.2.4 Sexualität und Heirat junger türkischer Frauen

Das Leben der türkischen Mädchen in Deutschland ändert sich insbesondere mit Einsetzen der Pubertät. Die Erhaltung der Ehre tritt dann in den Mittelpunkt des Familieninteresses. Schließlich ist ein guter Ruf Voraussetzung, einen guten Mann zu finden. Ab der ersten Menstruation sind fortan alle männlichen Familienmitglieder, sowie die älteren Frauen der Familie um das Ansehen des Mädchens besorgt. Anständige Töchter sollten möglichst selten das Haus verlassen. Über sexuelle Aufklärung wird nicht gesprochen, auf die Pubertät wird kaum vorbereitet. Solche Themen bleiben als Tabu weitgehend unangetastet (Bauer, 1994, S.38).

Durch die Unsicherheit der Mütter, diese Themen anzusprechen, werden viele Töchter ganz und gar ahnungslos von der Pubertät überrascht und gehen völlig unvorbereitet in die Ehe. Die Heirat stellt für viele neben dem Verlust der Jungfräulichkeit ein weiteres traumatisches Erlebnis dar. Zwar ist von anderen Hochzeitsfeiern die Bedeutung der Entjungferung als theoretischer Begriff bekannt, man spricht jedoch nicht offen über den Geschlechtsakt oder über sexuelle Praktiken. Den Frauen wird lediglich beigebracht, dass es eine „religiöse Pflicht“ sei, dem Mann in allem zu gehorchen (Bauer, 1994, S.38ff).

Die Jungfräulichkeit ist die wichtigste Voraussetzung für eine Heirat. Besteht nur der geringste Verdacht der Entjungferung, ist die Ehre bereits in Frage gestellt. Die Eltern müssen das Ansehen ihrer Tochter und somit auch ihr eigenes Gesicht wahren. Deshalb ist die ganze Familie um das Mädchen besorgt und überwacht sie, zum Wohle ihres eigenen Schutzes, in allem was sie tut. Alles was ihrem ehrenvollen Ruf Schande bereiten könnte, versucht die Familie zu verhindern, so vor allem heterogene Beziehungen. Dies zeigt sich in starkem Kontrollverhalten, im Einschränken des Freizeitverhaltens, aber auch in Angelegenheiten innerhalb der Schule, wie zum Beispiel Schulsport- oder Übernachtungsverbot bei Klassenfahrten. Die Kontrolle findet nicht nur durch enge Familienmitglieder statt, auch Verwandte bzw. Bekannte fühlen sich für die Ehre des türkischen Mädchens mitverantwortlich. Dieses Verantwortungsgefühl entspringt oft einem Pflichtgefühl dem sozialen Umfeld gegenüber, um selbst nicht in schlechten Ruf zu geraten (Riesner, 1990, S.29 ff.).

Am Tag der Hochzeit muss ein türkisches Mädchen die Ehre der Familie durch ihre Jungfräulichkeit unter Beweis stellen. Die Heirat ist gesellschaftlich gesehen der Höhepunkt in ihrem Leben. Eine traditionelle moslemische Heirat basiert nicht auf einer Liebesentscheidung. In erster Linie zählt die soziale Beziehung. Die Ehe ist eine Verbindung zwischen zwei Familien, die Partnerschaft tritt dagegen in den Hintergrund. Diese der türkischen Tradition entsprechenden Haltung beschneidet die junge, behütete türkische Frau in ihren Möglichkeiten, eine eigene Beziehung einzugehen und aufzubauen. Bei der Brautwerbung wird in der Regel der Vater des Bräutigams aktiv. Er beginnt zuerst im engen Umkreis seiner Familie (Vetternehe) zu suchen. Besuche bei Verwandten und Bekannten werden des öfteren dafür genutzt, den Heiratsmarkt auszukundschaften, um mögliche Anträge zu beschleunigen. Eine Braut aus der nahen Verwandtschaft wird bevorzugt, weil sie sich leichter in den Haushalt integrieren kann und sich alle Beteiligten kennen (Riesner, 1990, S. 28 ff.).

Bei einer türkischen Vermählung heiratet die Braut in die Familie des Bräutigams ein. Wenn der Bräutigamsvater einen Heiratsantrag macht, entscheidet dann meist der Vater der Braut, ob eine Heirat zustande kommt. Die Familie des Mädchens selbst bemüht sich nicht um die Gunst des Bräutigams. Dies gilt als unschicklich. Häufig ist es so, dass sich das Paar erst bei der Eheschließung kennen lernt. In der Regel akzeptieren die Mädchen die Entscheidung ihres Vaters. Auch wenn der Koran ausdrücklich vorschreibt, dass keine Frau gegen ihren Willen verheiratet werden darf, haben Mädchen aus traditionsgepägtem Haus kaum eine Möglichkeit, sich der Entscheidung der Familie zu widersetzen. Eine Verweigerung gilt als respektlos gegenüber den Eltern und schädigt das Ansehen der Familie, der dann unterstellt wird, ihre Tochter nicht zum Gehorsam erzogen zu haben. Deshalb gehen die Mädchen den Wünschen ihrer Eltern meist nach. Gleichzeitig sehen sie in der Heirat die Chance, dem strengen Elternhaus zu entkommen. Darüber hinaus verschlechtern sich die Heiratschancen, je älter sie werden und je mehr Bewerber sie ablehnen (Riesner, 1990, S. 30 ff).

Die Schwiegerfamilie beurteilt die Braut nach ihrem guten Ruf, d.h. nach der Jungfräulichkeit. Zudem sollte sie hausfrauliche Fähigkeiten besitzen, sowie respektvoll und unterwürfig sein. Diese Tugenden werden bereits früh anerzogen.

So fallen beispielsweise Aufgaben, wie die Beaufsichtigung der jüngeren Geschwister in den Verantwortungsbereich der älteren Töchter. Meist nehmen sie die Mutterrolle gegenüber den jüngeren Geschwistern ein, vor allem wenn beide Elternteile berufstätig sind (König, 1989, S. 20ff).

Wenn die Braut nach der Heirat in die Familie des Mannes und deren Haushalt überwechselt, wird sie anfangs als Fremde angesehen und muss die erlernten Tugenden erst einmal unter Beweis stellen. Sie versucht deshalb durch Fleiß, Anpassung und gute Manieren das Herz der Familie zu erobern, die Erwartungen ohne großen Widerspruch zu erfüllen, den respektvollen Umgang mit allen Mitgliedern der „Schwiegerfamilie“ zu wahren. Denn in der Rangordnung steht sie lediglich über ihren eigenen Kindern. Jedoch steigt ihr Ansehen mit der Geburt ihres ersten Kindes, insbesondere wenn ein Junge zur Welt kommt. Ihre Aufwertung erklärt auch die häufig enge Bindung zwischen Müttern und ihren Söhnen und den langsameren Ablösungsprozess. Wie schon erwähnt, legitimiert der Sohn ihre Existenzberechtigung innerhalb der Familie. Sie hat ihre Pflicht im Dienst der männlichen Sippe erfüllt, ihren Fortbestand gesichert. Je mehr Söhne sie zur Welt bringt, desto besser ist ihre Stellung innerhalb der Familie. Mit der Geburt eines Sohnes ist sie den Erwartungen der Familie gerecht geworden, sie hat ihre Fruchtbarkeit unter Beweis gestellt und ist somit von gesellschaftlichen Zwängen befreit. Sie ist somit der Schande entgangen, keinen Stammhalter geboren zu haben.

Im Gegenzug ist die Geburt einer Tochter ein weniger erfreuliches Ereignis, welches häufig zu unbewusster Ablehnung der Frau führt. Diese Ausgrenzung geschieht durch die Familie, insbesondere durch den Ehemann. Das Mutter-Tochterverhältnis wird meist erst besser, wenn die Tochter selbst heiratet und die Verantwortung auf dem Ehemann und nicht mehr auf der Mutter lastet.

Das Verhältnis zur Schwiegermutter entscheidet maßgeblich über die positive Anerkennung der Frau innerhalb der Familie. Ist die Beziehung zu ihr harmonisch, genießt sie hohes Ansehen. Bei Streit und Spannungen muss sie sich entweder der Autorität der Schwiegermutter fügen oder wieder ins Elternhaus zurückkehren, der Ehemann hält zu seiner Familie (König, 1989, S.30ff).

Scheidungen werden einem Ehrverlust gleichgesetzt und kommen deshalb in konservativ-traditionell geprägten türkischen Familien eher selten vor. Die Ehre hat in islamischen Gesellschaften einen so hohen Stellenwert, dass man Trennungen eher meidet. Die Ehefrau steht somit unter dem Druck, stets den Ansprüchen als Ehefrau, Hausfrau und Mutter gerecht zu werden. Wird eine Frau dennoch von ihrem Mann verstoßen, oder reicht sie selbst die Scheidung ein, muss sie zunächst zu ihrer eigenen Familie zurückkehren, da es sich für eine Frau nicht gehört, alleine zu leben. Hinzu kommt, dass hier die wenigsten Frauen in der finanziellen Lage wären, sich und gegebenenfalls auch ihre Kinder selbständig zu ernähren. Jüngeren Frauen gelingt es manchmal, sich erneut zu verheiraten. Mit zunehmendem Alter allerdings sinken die Chancen erheblich. Im Falle einer zweiten Ehe müssen die Frauen einen sozialen Abstieg in Kauf nehmen, da sie die wichtigste Voraussetzung für das Eingehen einer Ehe, die Jungfräulichkeit, nicht mitbringen (Bauer, 1994, S. 40 ff.).

Ledige, türkische Frauen gibt es kaum. Sie haben in der Regel das gleiche Schicksal wie die Geschiedenen. Sie bleiben im Hause der eigenen Familie und unterstehen somit der patriarchalischen Aufsicht der Familie. Junggesellinnen befinden sich immerzu in einer gesellschaftlichen Randposition. Oft suchen die Eltern heilige Gräber auf oder wenden sich mystischen Bräuchen zu, um Beistand und Hilfe zu bekommen, um somit der Ehelosigkeit ein Ende zu setzen. Da die Familie um die Ehre der Unverheirateten besorgt ist, bleibt ihre Bewegungsfreiheit in der Gesellschaft erheblich eingeschränkt. Erst mit dem Alter erhöht sich das Ansehen der türkischen Frau, da sie dann keine potentielle Gefahr mehr für die Familienehre darstellt (Bauer, 1994, S.35).

2.3 Sozialisationsbereich Bildung und Erwerbstätigkeit

2.3.1 Die vier Phasen der Bildung und Erwerbstätigkeit

Die ausländischen Jugendlichen sind, wenn man sie mit den Deutschen vergleicht, strukturell benachteiligt. Dies wird deutlich, wenn man die folgenden vier Phasen betrachtet, welche nacheinander von den Schülern durchlaufen werden. In jeder der vier Abschnitte werden Schüler heraussortiert, wodurch viele ausländische Schüler, ob männlich oder weiblich, nur minimale Chancen haben, in eine annehmbare Erwerbstätigkeit einzutreten.

Erste Phase: Schule

Der Schulabschluss ist selbstverständlich die Mindestanforderung für ein Ausbildungsverhältnis. wenn man jedoch betrachtet, wie sich die deutschen und ausländischen Schüler auf die unterschiedlichen Schulformen verteilen, fällt die Benachteiligung der ausländischen Schüler schnell auf. Über 60 % dieser Gruppe besucht die Hauptschule und selbst bei einem Schulabschluss steht sie, aufgrund des unausgewogenen Verhältnisses von Ausbildungsstellen und Bewerbern meist auf der Verliererseite, da andere Schulformen von den Arbeitgebern bevorzugt werden.

Zweite Phase: Eintritt in die Berufsausbildung

Früher wurden Ausländer meist aufgrund von unzureichenden Deutschkenntnissen und mangelnden Schulleistungen abgelehnt. Mittlerweile bestimmt jedoch das Überangebot an deutschen Lehrstellenbewerbern die „Verteilung“ der Lehrstellen. Diese Tatsache wirkt sich demotivierend auf die ausländischen Schüler aus, da sie trotz eventuell guter Schulleistungen benachteiligt werden.

Dritte Phase: Abschluss der Berufsausbildung

Ausländische Auszubildende brechen die Berufsausbildung statistisch gesehen häufiger ab als deutsche Auszubildende. 1984 beispielsweise brach beinahe jeder fünfte ausländische Lehrling seine Ausbildung ab.

[...]

Final del extracto de 99 páginas

Detalles

Título
Junge türkische Frauen in der BRD: Leben zwischen zwei Kulturen
Universidad
University of Welfare Mannheim
Calificación
1,7
Autor
Año
2005
Páginas
99
No. de catálogo
V48847
ISBN (Ebook)
9783638454353
Tamaño de fichero
725 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Junge, Frauen, Leben, Kulturen
Citar trabajo
Serpil Ulutas (Autor), 2005, Junge türkische Frauen in der BRD: Leben zwischen zwei Kulturen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48847

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