Das Fenstermotiv im Roman "Der Prozeß" von Franz Kafka


Dossier / Travail, 2016

22 Pages, Note: 1,0

Anonyme


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Textanalyse Fenstermotiv
2.1. Andere Fensterformen
2.2. Herausgestrichener Fensterabschnitt in der historisch-kritischen Ausgabe

3. Bedeutung des Fenstermotivs für die Figurenkonstellation

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

6. Anhang: Tabelle mit Fenster-Textstellen im Roman Der Prozeß von Franz Kafka
6.1. Anhang: Tabelle mit Fenster-Textstellen in der historisch-kritischen Ausgabe

1. Einleitung

Das Fenster – ein viel genutztes Motiv sowohl in der Kunst als auch in der Literatur.1 Fenster bilden eine Verbindung zwischen dem Außen- und dem Innenraum. Durch diese können Räume erhellt werden, da durch die Glasscheibe Licht ins Innere fallen kann. Ebenso kann durch das Öffnen ein Luftaustausch beider Räume stattfinden. Sie bieten auch die Möglichkeit des Ein- und Ausblicks.

Die Daemmrichs bringen das Motiv des Fensters mit der Literatur in Verbindung und stellen fest, dass Fenster die „[...] geistige Verfassung einer Figur charakterisieren.“2 Damit spiegeln diese die Gefühlswelt der literarischen Figur wider. Ein offenes Fenster kann deren Verlassenheit und Be- wusstwerdung zeigen. Geschlossene Fenster hingegen bilden eine abschirmende Wand zwischen der Außenwelt und dem Innenraum bzw. der Gefühlswelt des Protagonisten. Wird ein Fenster bewegt, also geöffnet oder geschlossen, kann dies auf eine Veränderung in der Lebensauffassung der Figur hindeuten. Explizit werden von den Daemmrichs Franz Kafkas Erzählungen hervorgehoben, wobei das Fenster den Ausdruck des Wunsches nach Kontakten zeigt.

Die Symbolträchtigkeit der Fenster wird von Mergenthaler hervorgehoben.3 Sie sind Indikatoren für die Distanzierung, Trennung, Grenzüberschreitung oder Imagination. Es kann distanziertes Begeh- ren, Grenzüberschreitungen oder ein Verstehen zum Ausdruck bringen und durch die Blicklenkung eine Projektionsfläche für beispielsweise Wünsche sein. Dieser Artikel stellt heraus, dass das Fens- ter in Kafkas Der Proceß eine akzentuierte Rolle spielt. Während der zentralen Eingangsszene, in der Josef K. verhaftet wird, schaut dieser häufig durch das Fenster auf das gegenüberliegende Haus. Daraus ergibt sich die Frage über die Bedeutung des Fensters bei Franz Kafkas Roman Der Proceß.4

Nach der These von den Daemmrichs lassen sich anhand der Darstellung der Fenster Rückschlüsse auf die Figur ziehen:

Der Hauptkonflikt im Proceß besteht in Josef K.s Anklage, doch der Grund bleibt ihm selbst und dem Leser durch die interne Fokalisierung unklar.5 Es gibt drei Wirklichkeitsbereiche:

die Privatwelt, Geschäftswelt und Gerichtswelt, welche in untere und obere Gerichtsinstanzen ein- geteilt werden muss.6 In der nachfolgenden Arbeit soll untersucht werden, inwieweit das beschriebe- ne und immer wieder auftauchende Fenster Aufschluss über die Handlung, die Situation oder die Fi- gur Josef K.s und dessen Gefühle geben kann.

2. Textanalyse Fenstermotiv

Bei der Lektüre des Romans wird der Fokus immer wieder auf das Fenster gelenkt.7 Es kann hier keine vollständige Analyse aller Fensterstellen durchgeführt werden, da dies zu umfangreich ist. Stattdessen sollen exemplarisch zentrale Momente analysiert werden.

Im Allgemeinen dient das Motiv des Fensters der Handlung sehr unterschiedlich: Sie können passiv als Raumbestandteil auftreten oder sie werden aktiv in Handlungen mit einbezogen, indem sie geöffnet oder geschlossen werden. Einerseits können die Fenster beim Eintreten bereits offen, andererseits geschlossen sein. Oppositär gibt es Fenster, die sich in bekannten oder in fremden Räumen befinden. Dem zugehörig sind sich gegenüberstehende Fenster. Diese Gliederungspunkte sollen der Übersicht dienen – sie sind keineswegs klar voneinander abgrenzbar, ihre Grenzen überschneiden sich und sie sollen lediglich als Anhaltspunkte für die folgende Analyse dienen. Weitere Fenstermotive treten in unterschiedlicher Gestalt in Erscheinung, mit oder ohne Vorhang oder in anderen Formen. Nach der Analyse ausgewählter Ausschnitte kann mit der gewonnenen Erkenntnis in der historisch-kritischen Ausgabe nach Abweichungen gesucht werden, um revidierten oder veränderten Fensterstellen auf ihre möglich gewesene Inhaltsveränderung und die gewählte Bedeutung hin zu untersuchen.

Chronologisch steht die Verhaftung Josef K.s zu Beginn,8 bei der das Fenster zum ersten Mal auf- taucht. Er betritt das Wohnzimmer von Frau Grubach und am offenen Fenster sitzt ein fremder Mann, der sich als Wächter K.s herausstellt. Direkt danach beobachtet K. im gegenüberliegenden Fenster eine Frau, die ihn neugierig beobachtet (Vgl. S. 8). Durch das Wort „wieder“, wird in der Rückschau deutlich, dass er bereits ab dem vierten Satz einerseits selbst beobachtet und andererseits beobachtet wird:

„K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete es.“ (S. 7).

Zu Beginn wird durch das Fenster Offenheit demonstriert. Alles, was in der Wohnung geschieht, scheint einsehbar zu sein. K. stellt zwar fest, dass die Nachbarin neugierig ist, lässt dies jedoch un- kommentiert stehen, es stört nicht. Zu beachten ist, dass K. die Nachbarn ebenfalls beobachtet, was auch bei ihnen Unbehagen auslösen könnte. Danach reflektiert K., was der Grund für seine Verhaf- tung sein könnte.9 An dieser Stelle gesteht er sich ein

„Er neige stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte.“ (S. 10). Er stellt aber fest „noch war er frei.“ (S. 10).

Dieses Freiheitsgefühl könnte im geöffneten Fenster zu sehen sein. Das Fenster ist offen, aber ein Wächter sitzt davor und von dem gegenüberliegenden Fenster wird hereingeschaut, was das Gefühl der „Freiheit“ bei K eigentlich widerlegt. Von K.s Standpunkt aus, ist er zwar in gewisser Weise frei, es ist aber nur eine scheinbare Freiheit, da die Wächter ihn bewachen. Im Verlauf der Verhaf- tung, nimmt auch die Szenerie im gegenüberliegenden Fenster langsam an Handlung zu. Bei einem Streitgespräch zwischen den Wächtern und K. um die Frage nach der Gesetzeslage, gesellt sich im Fenster gegenüber zur alten Frau ein älterer Greis, den sie umschlungen hält (Vgl. S.12). Nimmt man die Fensterszene als Spiegelung von K’s Situation an, würde das Umschlingen hier von den Wächtern keine liebevolle Geste mehr bedeuten, sondern geschehen, um K.s Verhaftung fortschrei- tend voranzutreiben. Aufgrund dieser Abweichung, bzw. dieser Gegensätzlichkeit zwischen Liebe und Gewalt, liegt die Annahme einer Spiegelung von K’s Situation nicht nahe. Frey hingegen deutet diese Stelle explizit spiegelnd. Demnach überträgt sich die starke Neugier der Frau auf K. selbst, der Neugier für sich zu entdecken beginnt. Sie sieht dies für K. als Möglichkeit, aus seinem mechani- schen Beruf herauszutreten.10 Pilca ergänzt zu der Spiegelung, dass K. sich immer mehr dem Fens- ter zuwendet, aber später nur Nebel sehen wird, was K.s Gefühlswelt zeigt.11 Das Hinzukommen des alten Manns deutet Frey als Selbstbeobachtung K.s („[...] von seinem eigenen Gewissen beobachtet und durchschaut zu werden [...]“, Frey 2006, S. 23). An die Szene anschließend sagt K., er müsse dieser Schaustellung ein Ende machen. Laut Holstein wird K. „[...] zum Schauobjekt der Gesell- schaft beim Fenster, die als Zuschauer die Verhandlung wie auch in den [anderen] Räumen beobach- ten […].“12 Ob mit dieser Schaustellung das vorangegangene Gespräch oder das Gesehene im Fens- ter gemeint ist, lässt sich schwer differenzieren.

Beiden gemeinsam ist jedoch die Umschlingung und Verstrickung in Etwas. Während dieses Vor- mittags sollte K. eigentlich in der Bank arbeiten.

Um sich dort angemessen entschuldigen zu können, überlegt er, dass er die beiden Alten von drüben als Zeugen anführen könnte. Sie bleiben zwar beobachtende Nachbarn, aber K. beginnt, wenn auch nur gedanklich, diese mit in das Geschehen einzubinden. Als K. in das Zimmer von Fräulein Bürst- ner zu einem Verhör geführt wird, nimmt die Zahl der Leute im Zimmer und parallel dazu im gegen- überliegenden Fenster zu (Vgl. S. 15). Oppositär liegen sich die Fenster gegenüber, nur herrscht in einem eine für K. zunehmend ernst werdende Vernehmung und im anderen eine Gesellschaft.13 Als K. einen Staatsanwalt kontaktieren will, verunsichern ihn die Wachen so sehr, dass er schließlich von diesem Vorhaben ablässt (Vgl. S. 17f.) und stattdessen wieder ans Fenster tritt. Jetzt beginnt er, sich von den Nachbarn gestört zu fühlen und verlangt von ihnen, sich zu entfernen, was diese nur so lange tun, bis sie ihn ungestört weiter beobachten können.

Unterm Strich ist Folgendes festzustellen: Wenn K. sich frei fühlt, ist auch das Fenster geöffnet. Als sich die Situation für ihn zuspitzt, fühlt sich K. auch von den Beobachtern vom gegenüberliegenden Fenster massiv bedrängt und gestört. Nach Fickert, welcher die Fenstersituation auf K. bezieht, ist K.s Ausruf „Schauen Sie nicht hin!“ an die Wächter gerichtet und könnte auch ein Befehl an sich selbst sein, die Verhaftung zu ignorieren.14 Hier wird durch das oben genannte Zitat deutlich, dass K. die Dinge leicht zu nehmen pflegt und ungern von seiner Alltagsroutine abweicht. Um noch einmal auf das Beobachtungsmotiv zurückzukommen, soll K.s Gang durch die Juliusstraße zu seiner ersten Untersuchung betrachtet werden (Vgl. S. 37f.). Die Mietshäuser um ihn herum sind allesamt be- wohnt und es herrscht ein buntes Treiben. In einigen Fenstern befinden sich Männer, Kinder, Bett- zeug oder Wäsche. Das Besondere ist, dass K., je tiefer er in die Straße hinein geht, sich zunehmend beobachtet fühlt.

„K. ging tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er nun schon Zeit oder als sähe ihn der Untersuchungsrich - ter aus irgendeinem Fenster und wisse also, daß sich K. eingefunden habe.“ (S. 38)

Auch hier kann er der Situation nicht entfliehen: der Weg aus der Gasse hinaus führt direkt in das Gerichtsgebäude. Im Gegensatz zur Eingangsszene ist K. nicht auf Augenhöhe mit den Fenstern der Mietshäuser, da er auf der Straße geht und die Häuser hoch sind, vielleicht eine sich entwickelnde Hierarchisierung.

Weiterhin fällt auf, dass an keiner Stelle des Romans weitere bereits geöffnete Fenster auftauchen. Nachfolgende werden erst im Verlauf der Handlung aktiv geöffnet. An seinem Arbeitsplatz in der Bank will K. seine Verhaftung und den Prozess geheim halten.

Die Wächter tauchen in der Rumpelkammer der Bank auf. Als sich ein Diener nähert, verschließt K. die Rumpelkammertür und öffnet das Fenster (Vgl. S. 79). Hier will er aktiv von den Geschehnissen ablenken und diese geheim halten. In Verbindung mit der ersten Fensterszene läge die Vermutung nahe, dass er das Fenster in Bezug zu seiner Glaubwürdigkeit öffnet. Dort waren die Nachbarn Zeu- gen und hier öffnet er das Fenster um zu zeigen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Als er von dem Diener ins Gespräch verwickelt wird, lehnt er sich demonstrativ aus dem Fenster, um ihn abzu- wimmeln. Dabei stellt sich heraus, dass alle Fenster um ihn herum dunkel sind. In dieser Situation im Büro wird er von außen nicht beobachtet. Das, was K. Unbehagen bereitet, befindet sich nun im Haus, in diesem Fall in der Kammer und nicht mehr außerhalb des Hauses. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass K. den Prozess alleine bestreitet. Weiteres Vorgehen o.Ä. macht K. mit sich selbst aus.

Um symbolisch bei Unschuld und Freiheit im offenen Fenster zu bleiben, sollte das Kapitel Advo- kat, Fabrikant, Maler hinzugezogen werden. K. öffnet dort das Fenster grundlos, aber anstatt der Zeugen und Menschen in anderen Fenstern kommt nur Rauch und Nebel herein (Vgl. S. 122f.). Der Prozess schreitet fort und ohne Klarheit zu erlangen, verstrickt sich K. weiter - was der Rauch zeigt. K. selbst rechtfertigt den Nebel durch die Jahreszeiten, es sei Herbst. Auffällig ist die schwere Handhabung des Fensters, da K. beide Hände zum Öffnen benötigt. Vielleicht der Versuch und der Wunsch nach seiner ursprünglichen Freiheit, die er glaubt verloren zu haben. Fickert unterstreicht dies und nennt es hier ein „[...] symbol of destruction an obliteration, […] which […] indicate the isolation of the artist.“15

Vor der letzten Öffnung eines Fensters im letzten Kapitel erfolgt der Wunsch nach Öffnung in der Wohnung vom Maler Titorelli (Vgl. S. 142). Das Fenster lässt sich jedoch nicht öffnen, da es nur eine einfache fest eingesetzte Glasscheibe ist, die lediglich Licht spenden soll. K. bereitete sich bei der potentiellen Öffnung darauf vor, Nebel einzuatmen.16 Der Maler war ein Tipp vom Advokaten, dass er ihm in den Gerichtsangelegenheiten helfen könne. K. ist sich an dieser Stelle demnach seiner schwierigen Lage im Prozess bewusst, was ihn nach Hilfe suchen lässt. Was die zu Beginn der Ar- beit genannte These unterstützt, dass K. ein offenes Fenster als Symbol seiner Freiheit auffasst. Die- ses Bewusstsein kann in Wunsch der Öffnung des Fensters gesehen werden – es ist aber doch viel- leicht vielmehr ein angenommenes Bewusstsein über seine Position im Prozess. Nur eine Angenom- mene, da K. keine richtigen Beweise oder Unterlagen vom Gericht und der Anklage erhält.

In dieser Situation hat K. das Gefühl „[...] vollständig abgesperrt zu sein [...]“ (S. 142), was bei ihm Schwindel erregt. Die Abgesperrtheit könnte auch auf die Gerichtsinstanzen zurückzuführen sein, da K. während des Prozesses von allem mehr abgeschirmt als informiert ist.

Eine besondere Rätselhaftigkeit und Bedeutung bekommt das Fenster im Schlusskapitel. Als K. von den Männern zum Steinbruch geführt wird und getötet werden soll, erblickt er im letzten Stockwerk, gleichsam des letzten Kapitels, ein Licht (Vgl. S. 210). Ein Fenster öffnet sich und ein Mensch beugt sich heraus. Es scheint wie ein letzter Hoffnungsschimmer auf Hilfe, was einerseits durch K.s Fra- gen zum Ausdruck kommt, andererseits durch die Verbindung von Licht mit dem Fenster.17 Licht er- hellt Dinge und führt zu einem Sehen im Dunklen. Da das Licht von der Sonne kommt, die Organis- men auf der Welt zum Leben bringt, ist es existenziell notwendig. Wenn K. sich vorher demnach in einer vorwiegend dunklen Umgebung befand, bedeutet das Licht Hoffnung, die Hoffnung auf Le- ben. Durch das Öffnen kommt eine weitere Ebene dazu. Das Fenster taucht auf, was sich zuvor als Freiheitsempfinden und später als Klärungs- und Freiheitswunsch zeigte. Das Fenster öffnet sich, während K. getötet werden soll und verkörpert in dem Licht den Wunsch, bzw. die Hoffnung zur Freiheit. Allerdings befindet sich die Situation weit entfernt von K. und er erhascht nur ein Blick darauf. Es ist wie eine Erinnerung an das, wonach K. im Roman vergebens gestrebt hatte – viel- leicht die Freiheit. Mit diesem Wissen (das Fenster wird ja nicht wieder verschlossen), stirbt K. An dieser Stelle könnte auch überlegt werden, welche Bedeutung dem Menschen zukommt. Dieser, in- dem er sich aktiv weit aus dem Fenster lehnt und somit handelt, könnte für Hilfe stehen. Hilfe, die K. von unterschiedlichsten Leuten während des Prozesses angeboten wurde, die er jedoch nicht wirklich annahm. In diesem Fall steht das Fenster dann für eine Bewusstwerdung K.s – wie ein Fenster in die Vergangenheit – wie eine Rückschau. Dass K. zu reflektieren beginnt, zeigen seine Fragen. Die Antworten werden bewusst offen gelassen.

Des Weiteren taucht das Fenstermotiv als Statussymbol auf: „In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein großes Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten Stadt- platz hinuntersehen konnte.“ (S. 61). Obwohl K. dem Gericht eindeutig unterstellt ist, versucht K. dieses Ungleichgewicht umzudrehen. Dies geschieht jedoch nur passiv und in K.s Gedanken, nicht aktiv. Der riesigen Fensterscheibe von K. werden Holzgitter im Gericht (Vgl. S. 64) kontrastierend gegenübergestellt. Holstein hebt hervor, dass das Fenster Hinweis darauf geben könnte, dass sich K.

gegenüber dem Gericht im Vorteil sehen könnte.18 Dazwischen befinden sich die Fenster des Advo- katen, der zwei große Fenster im Arbeitszimmer hat (Vgl. S. 96). Menschen, die K. nicht sehr hilf- reich erscheinen und sozial unter ihm stehen, haben einen fensterlosen Raum, wie z.B. Block (Vgl. S. 178). Die Fenstergröße scheint auf soziale Schichten abzuzielen, jedoch mit der subjektiv von K. geprägte Ansicht, dass seine eigene die größte Fensterscheibe sei. Damit stellt er sich höher als das Gericht, obwohl in der Romanhandlung deutlich wird, dass dieses mehr Einfluss und Verbindungen als K. hat. Hieran ist seine Uneinsichtigkeit und Egozentrik deutlich erkennbar.

Um das Motiv des Öffnens besser zu verstehen, muss auch der Aspekt der Schließung eines Fens- ters genauer betrachtet werden. Im Kapitel Der Prügler tritt der Wunsch nach Geheimhaltung so- wohl im Öffnen, als auch im Verschließen des Fensters auf. Beides dient dem Zweck, dass die Bank nicht wissen soll, dass K. unter Anklage steht (Vgl. S. 80). Die Fenster im Hof sind dunkel, was für Fickert zeigt, „[...] how K.´s failure to comunicate results in other perople´s suffering.“19 Ähnliches wird bei Frey deutlich, die feststellt, dass K. seinen Problemen nicht mehr gewachsen ist. Er will der Verantwortung entfliehen und daher außerhalb des Büros Hilfe suchen.20 Weiteres soll unter dem Unterpunkt „andere Fensterformen“ näher beleuchtet werden.

Erweiternd zum Schließen des Fensters werden an einigen Stellen Fenstervorhänge thematisiert. Im Kapitel Der Onkel/ Leni spricht K. mit seinem Onkel über den laufenden Prozess. Als ein Diener im Zimmer ist, geht der Onkel auf und ab, sich über K. ärgernd. Als er am Fenster vorbeikommt, knüllt er die Vorhänge zusammen und als der Diener geht, entlädt sich die Spannung des Onkels im Aus- ruf, dass auch sie nun gehen können (Vgl. S. 86). Das Zusammenknüllen der Vorhänge verdeutlicht die Anspannung des Onkels, der K. helfen will. Zudem verweist es auf den Gesprächsbeginn, bei dem K. aus dem Fenster schaute, anstatt dem Onkel, der ihm helfen will, Bericht zu erstatten. Der Onkel lehnt die Passivität K.s ab und knüllt er die Vorhänge zusammen, sich an die Situation zurück erinnernd. Dadurch verstärkt sich sein anschließender ungeduldiger Ausruf. Konträr zur aktiven Hil- fe des Onkels, die K. im Laufe des Romans nicht mehr in Anspruch nehmen will, steht K. im Schlusskapitel mal wieder am Fenster und sieht auf vorwiegend mit Vorhängen verdeckte Fenster.21

Beobachter wie am Anfang gibt es nicht mehr. Hier wird er sich seiner Einsamkeit und Aussichtslo- sigkeit bewusst.

In einem hellen Fenster sieht er Kinder spielen und K. nennt sie Schauspieler (Vgl. S. 206). Auch am Romananfang nennt er die Menschen Zuschauer. In diesem Zusammenhang sieht er sich selber als Schauspieler, da er beobachtet wird. Hier scheint die Situation umgedreht, da er jetzt die anderen als Schauspieler bezeichnet. So wird deutlich, dass sich K. trotz allem in der Opferrolle sieht. Her- abgelassene Vorhänge könnten auch das Ende voraus deuten. Laut Pilca kann der ganze Roman als Plädoyer für die Freiheit gelesen werden. K. erhofft sich durch das Öffnen des Fensters Hilfe, die je- doch im Laufe des Romans nicht angenommen wird. Dass es diese Freiheit und im Gerichtssinn die wirkliche Freisprechung gab, zeigt der Maler Titorelli in seinen Heidelandschaften.22

[...]


1 Vgl. Baun, Michael: Rooms with a View? Kafkas Fensterblicke, in: German Studies Reviw (15), hg.v. The Johns Hopkins Universität Press on behalf of the German Studies Association 1992, S. 12.

2 Horst S. Daemmrich, Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handburch, Tübingen 1995, S. 154-157.

3 Mergenthaler, Volker: Fenster, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg.v. Günter Butzer und Joachim Jacob, 2., erweiterte Auflage, Stuttgart 2012, S. 117.

4 Vgl. Manfred Engel: Der Prozeß, in: Kafka Handbuch. Leben- Werk- Wirkung, hg.v. Manfred Engel und Bernd Auerochs, Stuttgart 2010, S. 192- 207: Der Prozeß von Franz Kafka entstand ab dem 11.08.1914 und wurde 1915 abgebrochen. Kafka ordnete die einzelnen Kapitel in unterschiedlichen Mappen mit einer jeweiligen Überschrift an. Das erste Kapitel mit der Verhaftung und die Schlusskapitel rahmen die Handlung. Je nach Ausgabe werden unterschiedliche Kapitelreihenfolgen vorgeschlagen.

Diese Hausarbeit arbeitet mit folgender Ausgabe: Franz Kafka: Der Proceß, Roman, Stuttgart 1995 (Reclams Universal- Bibliothek Nr. 9676).

5 Vgl. Fickert, Kurt: The Window Metaphor in Kafkas „Trial“, in: Monatshefte (58), hg.v. University of Wisconsin Press, 1966, S. 345, der anderes hervorhebt: „He is forced to solve the problem of how life is to have coherence.“

6 Engel 2010, S. 196.

7 Fickert sucht Bezüge von Fenstermotiven zu Kafkas Biographie und stellt fest, dass „Kafka had a natural affinity for windows.“ (Fickert 1966, S. 346).

8 Der Protagonist Josef K. wird wie im Roman im Folgenden nur K. genannt.

9 Vgl. Fickert 1966, S. 346: „Joseph K. tries to reorient himself in the world of personal relationships […].“

10 Vgl. Frey, Gesine: Der Raum und die Figuren in Franz Kafkas Roman „Der Prozeß“. Inaugural- Dissertation, Marburg/ Lahn 1964, S. 14.

11 Vgl. Pilca, Ana Irina: Das Fenstermotiv. Zeugen und Gehilfen in Kafkas Prozess, in: Zeitschrift der Germanisten Rumaeniens 15-16, hg.v. GGR und Department für Germanistische Sprachen der Universität Bukarest, Bukarest 2006.

12 Holstein, Judith: Wahrheit aber ist nur, dass Du den Kopf gegen die Wand einer fenster- und türlosen Zelle drückst“: Zu Kafkas Fenster- Poetik, in: Fenster- Blicke. Zur Poetik eines Parergons. Philosophische Dissertation, Tübingen 2003, S.252-253.

13 Fickert 1966, S. 347: „The scene graphically presents K.´s predicament.“

14 Vgl. Fickert 1966, S. 347.

15 Fickert 1966, S. 350.

16 Ebd.: „K. believes that he has always wanted the window open, even at the price of having to inhale the fog.“

17 Ebd.: „The reserve of the romanticist´s irony, which destroys the illusion created in art by establishing its unreality,take place here […].“

18 Vgl. Holstein 2003, S. 256.

19 Fickert 1966, S. 348.

20 Vgl. Frey 1964, S. 42-43.

21 Vgl. Fickert 1966, S. 351: Fickert deutet die Szene als Sichtbarmachung des Scheiterns des Künstlers. Die Kinder zeigen K.s Wunsch nach einem sozialen Familienleben. Die dunklen Fenster repräsentieren die Situation, dass er als

22 Vgl. Pilca 2006.

Fin de l'extrait de 22 pages

Résumé des informations

Titre
Das Fenstermotiv im Roman "Der Prozeß" von Franz Kafka
Université
Christian-Albrechts-University of Kiel  (Germanistisches Institut)
Cours
Franz Kafka
Note
1,0
Année
2016
Pages
22
N° de catalogue
V490517
ISBN (ebook)
9783668973688
ISBN (Livre)
9783668973695
Langue
allemand
Annotations
Es handelt sich um eine detaillierte Textanalyse in Bezug auf das Fenster in Kafkas "Der Prozess". Die Besonderheit besteht darin, dass auch Kafkas handschriftliche Veränderungen und Anmerkungen im Text (siehe historisch-kritische Ausgabe) in der Analyse untersucht und berücksichtigt werden. Viel Spaß!
Mots clés
Kafka, Franz Kafka, Der Prozeß, Der Prozess, Proceß, Fenstermotiv
Citation du texte
Anonyme, 2016, Das Fenstermotiv im Roman "Der Prozeß" von Franz Kafka, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/490517

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