Die Natur als Entwicklungsraum der Persönlichkeit

Naturerfahrungen in der "Deutschen Waldjugend"


Fachbuch, 2019

83 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

I Theoretischer Teil

2 Aspekte des Naturbegriffs und der Naturerfahrungen
2.1 Der Begriff Natur
2.2 Dimensionen der Naturerfahrungen

3 Die Bedeutung der Natur in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung
3.1 Entwicklungspsychologische Ansätze
3.2 Umweltbewusstsein
3.3 Gesundheitsaspekt

4 Der Weg in die Natur
4.1 Die Deutsche Waldjugend

II Empirischer Teil

5 Methoden der empirischen Untersuchung
5.1 Problemzentriertes Interview
5.2 Sampling und Durchführung des Interviews
5.3 Datenauswertung anhand der qualitativen Inhaltsanalyse

6 Darstellung der Untersuchungsergebnisse
6.1 Analyse des Interviews

7 Diskussion der Ergebnisse

8 Fazit

9 Literaturverzeichnis

10 Anhang
10.1 Interviewleitfaden
10.2 Richtlinien der Transkription
10.3 Transkription des Interviews
10.4 Kategoriensystem

1 Einleitung

Die Natur als Entwicklungsraum der Persönlichkeit. Völlig absurd? Nicht weiter relevant? Wofür denn jetzt die Natur?

Unser alltägliches Leben spielt sich immer mehr in städtischen Umgebungen und geschlossenen Räumen ab und der Bezug zur Natur wird weniger. In der Literatur wird dieses Phänomen als Naturentfremdung bezeichnet und beschreibt die Distanz zur natürlichen Umwelt.

Aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und anderen Faktoren, welche den natürlichen Kontakt zur Natur beeinflussen, entfernen sich die Menschen von der Natur, was zu „verringerten Sinneserfahrungen, Aufmerksamkeitsproblemen und ein höheres Maß an körperlichen und emotionalen Erkrankungen […]“ (Louv 2011, S. 55) führt. Die Vorzüge des natürlichen Raumes bleiben außen vor, womit die wichtigen Folgen von Naturerfahrungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung verloren gehen. Dabei bietet die Natur einen ganzheitlichen Raum, der die Entwicklung mit allen Sinnen auf unterschiedlichen Ebenen fördern kann. Während des Erlebens von persönlichen Erfahrungen in und mit der Natur wird die Gesundheit gestärkt, die Entdeckerfreude und Gestaltungslust angeregt und verloren gegangene Sinnbezüge wiederhergestellt.

Für mich sind Naturerfahrungen etwas Selbstverständliches, ich bin damit aufgewachsen. Egal, ob zuhause auf dem Bauernhof, im Waldkindergarten oder meine Zeit in einem Naturschutzjugendverband, der Deutschen Waldjugend – tagtäglich habe ich mich in der natürlichen Umwelt bewegt. Mit dem Auszug von Zuhause, um in der Stadt zu studieren, hat diese Selbstverständlichkeit von Naturnähe abgenommen. Es erwartete mich ein Kontrastprogramm von grauen Hochhäusern, ständigem Straßenlärm und fast pausenlos die Begegnungen mit Menschen.

Ich fühle mich heute wohl, merke jedoch auch, wie ich Aufenthalte in der Natur mehr wertschätze und regelrechte positive Veränderungen in mir spüre, sobald ich die Vielfalt der Natur mit allen Sinnen erlebe. Diese Verbundenheit zur Natur habe ich den Erfahrungen in meiner Kindheit zu verdanken, insbesondere den Erfahrungen in der Waldjugend. Mit sieben Jahren besuchte ich das erste Mal die Ortsgruppe im heimatlichen Dorf und es war der Beginn einer unvergesslichen Zeit, welche mich zu der Person geformt hat, die ich jetzt bin.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Natur als einen unterschätzen Ermöglichungsraum für die Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen, insbesondere die Bedeutung von Naturerfahrungen, welche in der Waldjugend erlebt werden können, sollen beleuchtet werden. Mithilfe eines problemzentrierten Interviews, geführt mit einem Mitglied der Deutschen Waldjugend, sollen individuelle Erfahrungen erfasst werden, um damit exemplarisch die Verbindungen zwischen gelebter Naturerfahrung und individueller Persönlichkeitsentwicklung sichtbar zu machen. Im Fokus steht dabei nicht die Generalisierung der Aussagen des Interviews, sondern vielmehr das problemorientierte Sinnverstehen des Einzelfalls. Mit den Ergebnissen dieser Arbeit möchte ich einen explorativen Beitrag zur Erforschung des Zusammenhanges von Persönlichkeitsentwicklung und Naturerfahrung leisten, wodurch letztlich auch der theoretischen Durchdringung eben dieses Zusammenhanges zugetragen wird.

In der theoretischen Erarbeitung werden zunächst die Aspekte des Naturbegriffs und der Naturerfahrungen erläutert (Kapitel 2). Dafür wird zuerst der Begriff Natur aus verschiedenen Sichtweisen biopsychosozial eingegrenzt und anschließend der Begriff Naturerfahrungen anhand verschiedener Dimensionen dargelegt.

Im dritten Kapitel wird der Versuch unternommen, die Bedeutung der Natur in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung unter verschiedenen Blickwinkeln darzustellen. Unter den entwicklungspsychologischen Ansätzen (Kapitel 3.1) wird das dreidimensionale Persönlichkeitsmodell nach Gebhard vorgestellt sowie die Vier Quellen der kindlichen Entwicklung nach Renz-Polster. Des Weiteren wird auf die Ausprägung eines Umweltbewusstseins (Kapitel 3.2) eingegangen sowie auf den Gesundheitsaspekt (Kapitel 3.3), welcher ebenfalls im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung steht.

Nachdem die Natur mit all ihren positiven Effekten in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung dargestellt wurde, stellt sich die Frage, wie Kinder und Jugendliche auf den Weg zurück in die Natur gelangen und welche Möglichkeiten es gibt, um die Lebenswelt möglichst naturnah zu gestalten. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage befindet sich im Kapitel 4. Im Anschluss folgt eine Beschreibung der Deutschen Waldjugend mit ihren Aufgaben und Zielen.

Im methodischen Teil wird die Vorgehensweise der empirischen Forschung genauer erläutert. Dazu werden zunächst die drei Grundpositionen des problemzentrierten Interviews und die für die Durchführung relevanten Instrumente aufgeführt. Nachdem das Sampling und die Umsetzung des Interviews veranschaulicht worden sind, wird die strukturierte Inhaltsanalyse vorgestellt, mit der die Daten des Interviews ausgewertet werden (Kapitel 5).

Das empirische Material, das mithilfe eines Kategoriensystems analysiert wird, soll unter Kapitel 6 zusammenfassend in den einzelnen Kategorien beschrieben werden.

In der Diskussion der Ergebnisse (Kapitel 7) wird dann die Forschungsfrage beantwortet. Dafür werden zentrale Ergebnisse ausführlich dargestellt, die Kategorien gegenübergestellt und mit zusätzlichen Erkenntnissen veranschaulicht. Im abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der Forschung zusammengefasst und der Forschungsprozess hinsichtlich der sinnvollen Durchführung, zur Beantwortung der Forschungsfrage, reflektiert und eventuelle Bedenken geäußert. Am Ende der Arbeit werden weitere Gedanken ausgeführt, die während des Forschens und Schreibens aufgetreten sind sowie ein Ausblick hinsichtlich der Umsetzung von »Naturentwicklungsräumen«.

In der Literatur sind verschiedene Pädagogikansätze zu finden, welche eine Verbindung zwischen der Sozialen Arbeit und der Natur aufzeigen, wie zum Beispiel die Naturpädagogik, die Erlebnispädagogik, die Waldpädagogik etc. In Bezug auf die Bedeutung der Natur für die Persönlichkeitsentwicklung beschränkt sich meine gelesene Literatur auf einen kleineren Teil. Hier verweisen häufig die AutorInnen gegenseitig auf ihre Werke. Der Forschungsstand bestätigt die positiven Effekte und Vorteile der natürlichen Umwelt, trotzdem hat der Kontakt zur Natur laut der Ergebnisse des Jugendreports1 in den letzten 20 Jahren abgenommen.

I Theoretischer Teil

2 Aspekte des Naturbegriffs und der Naturerfahrungen

Um das Erfahren von Natur in seiner Bedeutung für die psychologische Entwicklung darzustellen, ist zunächst eine begriffliche Auseinandersetzung erforderlich. Trotz der häufigen Verwendung des Begriffes ist es schwierig eine eindeutige Definition von Natur zu finden, da je nach Zusammenhang von Geschichte und kulturellen Einflüssen der Begriff mit unterschiedlichen Inhalten und Wertungen belegt ist (vgl. Lude 2001, S.101; vgl. Gebhard 2011, S.40).

2.1 Der Begriff Natur

Der Begriff Natur (lateinisch natura von nasci »entstehen, geboren werden«) wird im Folgenden biopsychosozial eingegrenzt und nähert sich verschiedenen Ansätzen von Interpretationen, welche für das Thema dieser Arbeit entscheidend sind.

In Bezug auf die kindliche Entwicklung ist eine allgemeingültige und subjektunabhängige Definition des Begriffes Natur schwierig, da das Verhältnis zur Natur und die damit einhergehende Interpretation von den individuellen Naturerfahrungen abhängig ist und immer in diesem Spannungsverhältnis gesehen werden muss.

Vorerst werden die Definitionen dargelegt, welche im Lexikon aufgezeigt werden. Anschließend werden Interpretationen von Raffelsiefer, Gebhard und Louv dargestellt sowie die Natur als ideeller Begriff.

Im Wörterbuch der philosophischen Begriffe heißt Natur:

„1. Das Gewordene, Gewachsene an einem betrachteten Gegenstand,
2. sein inneres Wesen, seine Eigenart im Gegensatz zum Künstlichen, Gekünstelten,
3. die Gesamtheit zunächst aller Lebewesen, ferner
4. der Inbegriff aller von selbst, ohne unser Zutun entstehenden, nur den Naturgesetzen unterworfenen Wirklichkeit, im Unterschied zum Menschenwerk, zu den Schöpfungen des menschlichen Geistes und der Kultur.
5. Eine weitere Fassung des Naturbegriffes macht die Unterscheidung in organische (belebte) und anorganische (leblose) Natur notwendig.“ (Wörterbuch der philosophischen Begriffe 2013, S.440)

Marion Raffelsiefer nähert sich der Bedeutungsvielfalt des Begriffes Natur, indem sie zwischen den Begriffsinhalten Naturbegriff, Naturverhältnis und Naturverständnis unterscheidet (vgl. Raffelsiefer 1999, S. 74).

Der Naturbegriff wird unterschieden zwischen der Bezeichnung für konkrete Objekte, wie Gegenstände oder Landschaften, und der abstrakten Bedeutung, wie Werte und Normen von Natur (vgl. ebd.). Das Naturverständnis wird unter dem Einfluss von persönlichen Vorerfahrungen und Werten widergespiegelt und als geistige Ebene verstanden, welche sich als Wechselspiel zwischen Umwelt und Wahrnehmung zeigt (vgl. ebd.). Das Naturverhältnis, welches von dem Naturverständnis bestimmt wird, beinhaltet das Verhältnis und die Umgangsweise des Menschen zur Natur (vgl. ebd.).

Auch Gebhard (2013) beschreibt den Naturbegriff als „durch historische und kulturelle Einflüsse zu vielfältig“ und spricht von einem „hohen Grad der Unbestimmtheit des Begriffsinhaltes von Natur“ (S.40). Erfahren wird der Naturbegriff auf der phänomenologischen Ebene als Gesamtheit von Naturphänomenen, wie Tiere, Pflanzen, Landschaften, und auf der anderen Seite umfasst Natur den ästhetisch-symbolischen Aspekt (vgl. Gebhard 2013, S.40).

Während von vielen Seiten die Natur als Gegenwelt des Menschen gesehen wird und der Mensch nicht als Naturbestandteil dazugezählt wird (vgl. Lützenkirchen; Herrmann; Posch; Schmahl, S.13), ist laut Gebhard (2013) der Mensch „immer zugleich Teil und Gegenüber der Natur“ (S.40). Auf der einen Seite stehen Mensch und Natur sich gegenüber, da die Natur von Menschen angeeignet und bereits reflektiert wurde (vgl. Gebhard 2013, S.40). Auf der anderen Seite ist der Mensch aufgrund seiner Körperlichkeit Teil der Natur und hat dadurch Anteil am Natürlichen (vgl. ebd.). Laut dieser Interpretation überträgt sich die Beziehung zum eigenen Selbst aufgrund des „Selbst-Natur-Sein des Menschen“ (ebd.) auf das Verhältnis zur Natur. Gebhard (2013) greift in diesem Zusammenhang auf ein Zitat von Schelling zurück, indem es heißt:

„Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich was eine lebendige Natur ist so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe; ...sobald ich aber mich ... von der Natur trenne, bleibt mir nichts übrig als ein todtes Objekt und ich höre auf, zu begreifen, wie ein Leben außer mir möglich sey.“ (Schelling 1797)

Auch Louv (2011) geht von zwei Bedeutungsfeldern der Natur aus. Auf der einen Seite umfasst die Natur „im weitesten Sinne die materielle Welt und all ihre Gegenstände und Phänomene“. Auf der anderen Seite ist Natur als alles, was nicht vom Menschen gemacht wurde und wird mit den Begrifflichkeiten wie „draußen“, „an der frischen Luft“ oder „in der freien Natur“ (vgl. Louv 2011, S.23) assoziiert.

Wird die Natur als ideeller Begriff eingeordnet, umschreibt sie „nicht nur Gegenständliches, sondern versinnbildlicht auch bestimmte Werte, Emotionen oder sogar Normen“ (Raffelsiefer 1999, S.83).

In diesem Zusammenhang steht die Natur in einer Bedeutung als

-Kompensationsraum (Kontrast-und Ausgleichsraum zur Alltags-und Arbeitswelt, die mit Genuss, Freizeit und Schönheit verbunden ist),
-als Ordnung (beständige und gesetzesförmige Konstante),
-als Wildnis (gegenüber der Zivilisation in ihrer Unberührtheit),
-als Bedrohung (Naturgewalten, welche Angst auslösen),
-als positiver Wert (alles Natürliche ist gut und verlässlich; symbolisiert Schönheit, Harmonie und angenehme Emotionen)
-als das natürliche Leben als Norm (umweltgerechter, ökologischer Lebensstil) (vgl. ebd., S.84).

2.2 Dimensionen der Naturerfahrungen

Unter dem Begriff der Naturerfahrungen wird in erster Linie ein „spezifischer Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit seiner belebten Umwelt“ (Bögeholz 1999, S. 21) verstanden, der sich durch „unmittelbare, multisensorische, affektive und vorwissenschaftliche Lernerfahrungen“ (ebd.) kennzeichnet. Dabei unterscheidet Bögeholz (1999) in drei verschiedenen Erfahrungs-und Bewusstseinsebenen, auf denen Naturerfahrungen stattfinden:

-„Primäre Naturerfahrung wird als sensorisch-körperliche Begegnung mit Phänomenen der (belebten) Umwelt erlebt.
-Sekundäre Naturerfahrung ist durch stärker erkundende oder forschende Dimensionen gekennzeichnet.
-Tertiäre Naturerfahrung baut auf primärer und sekundärer Naturerfahrung sowie auf Umweltwissen auf und enthält eine Anwendungsdimension im weiteren Sinne“ (S.21).

Um die Auswirkungen von Naturerfahrung darzulegen, hat Susanne Bögeholz (1999) eine empirische Studie durchgeführt, welche sie in ihrem Buch „Qualitäten primärer Naturerfahrung und ihr Zusammenhang mit Umweltwissen und Umwelthandeln“ darstellt. In diesem Zusammenhang ergeben sich anhand verschiedener Naturbegegnungen Dimensionen, an denen versucht wird, die Heterogenität der Naturerfahrungen zu fassen. Es wird in fünf Naturerfahrungsdimensionen unterschieden:

Die ästhetische Dimension umfasst das sensitive Erfahren von Schönheit der Natur. Sie beinhaltet „optische, akustische, gustatorische, olfaktorische und haptische Erfahrungen“ und „fokussiert auf die formale Ästhetik von Bewegungen, Formen, Farben, Gerüchen und Geräuschen, kurz auf die Vielfalt der Erscheinungsformen von Lebewesen und Landschaften“ (vgl. Bögeholz 1999, S.22).

Die erkundende Dimension umfasst das Beobachten und Erforschen von Tieren und Pflanzen, wobei die instrumentelle Dimension sich auf das Versorgen und Verwerten von Tieren und Pflanzen bezieht (vgl. ebd.).

Die ökologische Dimension bezieht sich auf das Schützen von Arten und Biotopen und umfasst „sowohl originär naturschützerische Aktivitäten (z.B. Artenschutzmaßnahmen) als auch praktische Untersuchungen zu umweltrelevanten ökosystemaren Fragestellungen“ (ebd. S.23). Im Gegensatz zur erkundenden Dimension steht hier die Untersuchung von umfassenden Systemen im Vordergrund.

Die soziale Dimension beinhaltet das Pflegen einer besonderen Beziehung zu einem Tier und kennzeichnet sich durch „Erleben von Geselligkeit, Partnerschaft und Zuneigung“ (vgl. ebd.).

Lude (2001) erweitert die fünf Naturerfahrungsdimensionen von Bögeholz um zwei weitere Dimensionen, welche er in Anlehnung an Mayer (1993) definiert. Die erholungsbezogene Dimension ist für den weiteren Verlauf dieser Arbeit bedeutend, denn dort heißt es:

„Der Aufenthalt in der Natur, ob unberührter, wilder oder karger Natur, bereitet vielen Menschen emotionale Befriedigung und bedeutet für sie Erholung. Diese Art des Naturzugangs drückt sich vor allem in der Freizeit-und Urlaubsgestaltung aus.“ (Lude nach Mayer 2001, S.64).

Zum anderen ergänzt Lude um die ernährungsbezogene Dimension, welche sich auf den Erwerb oder Verzehr von umweltbewusst produzierter Nahrung bezieht (Lude 2001, S. 65).

3 Die Bedeutung der Natur in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung

3.1 Entwicklungspsychologische Ansätze

Das Erfahren, Erleben und Wahrnehmen in der Natur haben wichtige und ganzheitliche Auswirkungen auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung. Entscheidend ist an dieser Stelle der Einfluss von natürlicher Umgebung für eine gesunde Entwicklung, weswegen keine einschlägigen Entwicklungsmodelle und Theorien vertieft werden2. Es handelt sich um ein großes Spektrum an Werten und ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, welche eine bedeutende Rolle spielen. Die Auseinandersetzung mit der Natur fördert und fordert den Menschen heraus und sorgt für Kreativität, soziale Interaktion, motorische Fähigkeiten und grenzenlose Fantasie. Bei der Stimulierung aller Sinne wird neben einer Wertschätzung und Achtsamkeit für alle Lebewesen auch eine Grundlage für Umweltverantwortung, das Begreifen von Lebenszusammenhängen und eine Sinnhaftigkeit der Welt und der Sinn des eigenen Lebens verfestigt (vgl. Louv 2011, S.65; S.74; S.79).

Renz-Polster (2013) beschreibt die Naturerfahrungen, welche Kinder erleben, als ein Angebot, welches als Stärkung helfen kann, um das Fundament für ihr Leben zu legen – „körperlich, seelisch und mitmenschlich“ (S.57).

„Was Kinder suchen, ist eine Umwelt, in der sie ihre körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklungsbedürfnisse befriedigen können. Das ist ihr Grundmotiv beim Spielen, bei der Erforschung der Umwelt und bei der Gestaltung ihrer Beziehungen. Auf diese Umwelt zielt ihr Entwicklungskompass. Und diesen Erfahrungsraum sollten wir ihnen bieten – „künstliche“ Ausgestaltung hin oder her.“ (Renz-Polster 2013, S.61)

Die kindliche Entwicklung ist ein individueller Lebensweg und ein fortlaufender Prozess, welcher von verschiedenen Einflüssen und Lebensumständen bedingt wird und jedes Kind auf seine Art durchläuft. Eine »gesunde Entwicklung« erfordert Rahmenbedingungen, welche ausschlaggebend für das Verständnis elementarer Bedürfnisse, die Ausbildung sicherer Bindungen, emotionale Zuwendung, Feinfühligkeit und vielfältige Anregungen sind, die jedoch im Laufe der letzten Jahre aufgrund sozialer und gesellschaftlicher Veränderungen zu einem Mangel führen (vgl. Renz-Polster 2013, S.13). Aus diesem Grund sind Kinder „immer mehr gezwungen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren“ (ebd.).

Es steht Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung die Herausforderung bevor, „fundamentale Lebenskompetenzen, wie Kreativität, exekutive Kontrolle, soziale Kompetenz und Resilienz“ zu erfahren (ebd.). Diese Kompetenzen bilden sich während der Entwicklung durch die eigene Neugier und die Lust auf Neues und in der Begegnung mit anderen Kindern und Gruppen, welche Entwicklungsreize anregen und für eine selbst organisierende Entwicklung der Persönlichkeit sorgen (vgl. ebd., S.22).

Die Natur bietet einen Entwicklungsraum voller Anreize und Herausforderungen für Kinder, in dem sie Möglichkeiten für Erfahrungen und Bedürfnisse ausleben können, um ein Lebensfundament für ihre eigene Entwicklung zu kreieren (vgl. ebd., S.35.). Dieser Entwicklungsraum ist ein „vieldimensionaler Resonanzraum für dieses sich selbst organisierende System der kindlichen Entwicklung“ (Freiraum, Spielraum, Beziehungsraum, Entdeckungsraum, Gestaltungsraum, Selbsterfahrungsraum, Rückzugsraum) (ebd., S.56).

Der Raum, welcher zwischen Mensch und Natur in der Entwicklung eingenommen wird, fasst Schemel (1998) folgend zusammen:

-„Naturelemente haben als Spielobjekte eine wichtige Bedeutung.
-Erleben von Natur kann Orientierung bieten und eine Hilfe für das Erkennen eines eigenen Standpunktes im System der Welt sein.
-Das Erleben von Natur fördert soziale Interaktionen in verschiedenen Bereichen.
-Eine intensive Beziehung zu natürlichen Umwelten kann die autonome Handlungsfähigkeit, die kognitive Entwicklung sowie die Kreativität fördern.
-Um eine Beziehung zur Natur herstellen zu können, muß das Kind konkrete Naturerfahrungen gemacht haben.“ (S.214)

3.1.1 Das dreidimensionale Persönlichkeitsmodell nach Gebhard

Während die Persönlichkeit des Menschen meistens in zwei Dimensionen dargestellt wird, nämlich die Beziehung zu sich selbst und die Beziehung zu anderen Menschen, stellt Gebhard eine weitere Dimension dar – die nichtmenschliche Umwelt. Dabei handelt es sich um Naturobjekte und eine dingliche und natürliche Umgebung, zu denen eine Beziehung aufgebaut wird – wir leben in einer Welt, in der es mehr nichtmenschliche Objekte als menschliche Objekte gibt (vgl. Gebhard 2013, S. 14).

Während in zweidimensionalen Persönlichkeitsmodellen diese nichtmenschliche Umwelt kaum oder sogar gar keine Rolle spielt, beschreibt Gebhard den Menschen als „Teil und Gegenüber der Natur untrennbar mit all diesen nichtmenschlichen Objekten verbunden“ (ebd.), betont jedoch die Notwendigkeit der menschlichen Umwelt, wie zum Beispiel Bezugspersonen. Für die kindliche Entwicklung ist sowohl die soziale Umgebung als auch die dingliche und räumliche Umgebung bedeutsam.

Vertraute Bezugspersonen und feste Beziehungen sind eine gute Voraussetzung für eine qualitätsvolle, kindliche Entwicklung der Persönlichkeit und genauso bedeutsam für ein „von Vertrauen geprägtes Verhältnis zur Welt“ (ebd. S.14).

„Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung“ (Rousseau 1978)

Der Kontakt zur Natur ist aufgrund des Einflusses auf die psychische und physische Entwicklung ein elementares Bedürfnis. Dieses Bedürfnis führt zu einem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, welches als bedeutsame Beziehung für den Umgang mit der lebendigen, aber auch unbelebten Natur zu verstehen ist (vgl. ebd., S.16). Neben Beziehungen zu Tieren und Pflanzen wird eine entscheidende Beziehung zur Umwelt aufgebaut, die auf der einen Seite persönliche und soziale Bezüge zur materiellen Umwelt enthält und auf der anderen Seite das Verhältnis des Individuums widerspiegelt und damit Bestandteil der Umwelt ist (vgl. ebd.). Dieses Beziehungs-und Verhältniskonstrukt versteht sich als ein dreidimensionales Persönlichkeitsmodell. Besonders bemerkbar wird der Beziehungsaspekt „in Situationen, in denen wir Atmosphären erleben“ (ebd.). Gebhard (2013) versteht darunter Natur-und Landschaftserlebnisse, bei denen die Subjekt-und Objektanteile zusammenfließen und wir uns selbst als auch die Natur spüren (S.16).

3.1.2 Die vier Quellen kindlicher Entwicklung

Renz-Polster bezeichnet die Anreize und den Reichtum, welche die Natur bietet, als Quellen kindlicher Entwicklung oder auch als das Vieleck der Möglichkeiten (vgl. Renz-Polster 2013, S.43). Die vier Quellen Unmittelbarkeit, Freiheit, Widerständigkeit und Verbundenheit werden im Folgenden erläutert.

Die erste Quelle »Unmittelbarkeit« beinhaltet die Ausprägung unserer Sinne durch erlebte und unmittelbare Erfahrungen und das damit entstehende sinnliche Bewusstsein, welches „der erste Schritt zu unserem Selbstbewusstsein ist“ (ebd. S.44). Während die Sinne, wie die Riech-, Hör-und Sichtweite, begrenzt sind, ist die Selbsterweiterung unserer Gedanken und unseres Empfindens unendlich weit. „Berührungen, Blickkontakte, das Hören immer wiederkehrender Muster und Melodien, das Schmecken, das Riechen bald vertrauter Gerüche“ (Renz-Polster 2013, S.43f) sind von wichtiger Bedeutung, denn anhand von diesen sinnlichen Naturwahrnehmungen werden unmittelbare Erfahrungen aufgesaugt, woraus Kinder ihre Körperlichkeit bilden und sich ihre Sinne mit dem inneren Erleben verbinden. Es ist eine Brücke, um im „unmittelbaren Hier und Jetzt“ des eigenen Lebens zu sein und um „uns unser selbst bewusst“ zu machen (ebd).

„Ohne Unmittelbarkeit keine Sinnlichkeit. Ohne Sinnlichkeit keine lebenden Geschichten. Ohne Geschichten kein Anker in der Welt.“ (Renz-Polster 2013)

Diese sinnlichen Erfahrungen, welche Kinder erleben, werden über die Reize der Natur angesprochen, welche im natürlichen Raum gemischt, vielfältig und der kindlichen Reaktions-und Aufmerksamkeitsspanne angepasst sind. So passiert es, dass „Neuland und Heimat“ aufeinandertreffen, da einerseits vertraute Eindrücke auftauchen, aber auch neue und ungewohnte (vgl. ebd., S.46).

Die zweite Quelle »Freiheit« geht von vielfältigen Möglichkeiten und gleichzeitiger Freizügigkeit des äußeren und inneren Erlebens aus. Das unstrukturierte, natürliche Umfeld, immer wieder neue Herausforderungen und die Anreize der Natur sorgen für Kreativität und Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Gestaltungskraft und Zugehörigkeit, welche von den Kindern selbst erzeugt und aufgenommen werden (vgl. ebd., S.47). Da das Naturverständnis intuitiv ist, ist es wichtig den Ort der Natur nicht nur als kognitiven Zugang zu einem Lernort zu konzipieren, sondern auch die Erfahrungen, das Erleben und das Lernen explizit geschehen lassen (ebd.).

Die dritte Quelle »Widerständigkeit« beschreibt die Natur als widerständig, weswegen wir uns anpassen müssen und eine sichernde Gegenwelt bilden. Es führt dazu, dass Emotionen selbst gesteuert werden und die Selbstkontrolle sich dadurch aufbaut. Für Kinder ist es ein Zusammenspiel der Freiheit und der Grenzen, welche in ihrer Suche nach Abenteuer eine Einheit bilden (vgl. ebd., S.50).

[...]


1 vgl.: https://www.natursoziologie.de/NS/alltagsreport-natur/jugendreport-natur-2016.html [06.07.2018]

2 Empfohlene Literatur für weitere Informationen: Arnold Lohaus und Marc Vierhaus: „Entwicklungspsychologie des Kindes-und Jugendalters für Bachelor“ (2015). Dieses Buch beinhaltet Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Entwicklungspsychologie sowie die Entwicklung in zentralen Funktionsbereichen.

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Details

Titel
Die Natur als Entwicklungsraum der Persönlichkeit
Untertitel
Naturerfahrungen in der "Deutschen Waldjugend"
Autor
Jahr
2019
Seiten
83
Katalognummer
V490602
ISBN (eBook)
9783964870001
ISBN (Buch)
9783964870124
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Natur-Defizit, Naturentfremdung, Persönlichkeitsentwicklung, Naturerfahrung, Nature Deficit
Arbeit zitieren
Gesche Siebke (Autor:in), 2019, Die Natur als Entwicklungsraum der Persönlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/490602

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