Theaterarbeit mit schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Wie das Theater bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung helfen kann


Livre Spécialisé, 2019

51 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Abstract

2 Theaterpädagogik oder Theatertherapie? – Theaterarbeit!

3 Das Trauma - Die Posttraumatische Belastungsstörung
3.1 Das autobiographische Gedächtnis
3.2 Posttraumatische Belastungsstörung – Folgen und Symptome
3.3 Erfahrungsbericht eines in der Kindheit misshandelten Mädchens

4 Wie kann Theater helfen?
4.1 Gruppenzugehörigkeit
4.2 Freiwilligkeit
4.3 Grundlegendes zur Wirkung des Theaters - Heilkraft per se
4.4 Das Theater der Unterdrückten – Augusto Boal
4.5 Arbeitsansatz von Ingrid Lutz mit Opfern von sexueller Gewalt

5 Interdisziplinäre Anforderungen an den Pädagogen

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © Studylab 2019

Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München

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„Wenn er was getrunken hatte, was so gut wie jeden Abend vorkam, wurde es schlimmer. Wie er mich anschaute, welche leisen Geräusche er machte, wie er seine Hand bewegte, wie sanft und unauffällig er es tat. Irgendwann wo er sich sicher fühlte, wo es schon lange Zeit so verlief, fing er an mich auch unten zu bedrängen. Im ganzen Haus, sogar draußen. Er gab mir das Gefühl er kann machen was er will mit mir und keiner sieht es, keiner merkt es.“

(Marion M.)

Für meine wundervollen Eltern,

meinen geliebten Andrés,

meine verständnisvolle Therapeutin,

und meine tapfere Marion.

1 Abstract

Diese Bachelorarbeit soll aufzeigen, inwiefern schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen mit Hilfe des Theaters geholfen werden kann.

Ich werde in einem ersten Schritt aufzeigen, wo sich die Theaterpädagogik und die Theatertherapie heute befinden und wie sich diese definieren lassen. Als nächstes möchte ich auf die sogenannte PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) eingehen, da man verstehen muss, wie sich die Traumatisierung auf die Kinder und Jugendlichen auswirkt, um gezielt mit Hilfe des Theaters an den Symptomen und Folgen einer PTBS arbeiten zu können. Anschließend folgen Stellungnahmen bezüglich der Wirkung des Theaters an sich. Es werden zwei verschiedene Arbeitsansätze vorgestellt, welche einen exemplarischen Einblick in die Arbeit mit traumatisierten K. und J.1 bieten sollen. Die interdisziplinären Anforderungen an den Pädagogen lassen sich hierbei durch den gesamten Text Schritt für Schritt herauskristallisieren und werden am Ende der Ausarbeitung nochmals explizit von mir benannt.

In meiner Ausarbeitung möchte ich als Beispiel sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche nehmen, da der sexuelle Missbrauch eine besonders schwere Form der Traumatisierung darstellt. Sie hat gravierende Auswirkungen auf die Persönlichkeit, das Selbstbild und vieles mehr. An dieser Stelle sei jedoch auch zu bemerken, dass wir im Strom der zurzeit herrschenden Flüchtlingskrise viele K. und J. aufgenommen haben, welche durch die Schrecken des Krieges in ihrem Land ebenfalls schwer traumatisiert wurden. Auch für diese K. und J. könnte eine gezielte, professionelle Theaterarbeit helfen, die traumatisierenden Erfahrungen verarbeiten zu lernen beziehungsweise besser damit umgehen zu können.

Ich habe mich für dieses Thema entschieden, da ich selber in einer schwierigen Lebenssituation am eigenen Leib erleben durfte, wie hilfreich Theater sein kann. Es hat mir neue Perspektiven und Handlungsalternativen für mein Problem aufgezeigt und gleichzeitig habe ich es geschafft eine Distanz zu meinen traumatischen Erfahrungen zu gewinnen. Durch meine Erfahrungen bin ich der festen Überzeugung, dass Theater bei K. und J. aber auch allen anderen Altersgruppen hilfreich sein kann, da die ästhetischen Künste Möglichkeiten erbringen sich auf andere Art und Weise zu artikulieren, mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich zu reflektieren.

2 Theaterpädagogik oder Theatertherapie? – Theaterarbeit!

Die Theaterpädagogik ist eine sehr junge wissenschaftliche Disziplin und so ist es kaum verwunderlich, dass sie noch keine einheitliche Definition sowie Fachsprache besitzt. Aus diesem Grund fällt es dieser leider auch noch immer schwer sich wissenschaftlich zu etablieren (Klahn, S. 22 f.). Bei der Theatertherapie finden wir die selbe Problematik (Neumann, 2002, S. 12 f.). Die dramatherapeutische Theoriebildung sei noch lange nicht abgeschlossen (Martens, S. 56). Einigkeit herrsche somit noch nicht in allen Bereichen, jedoch kann so viel bereits gesagt werden. Die Theaterpädagogik schwankt zwischen dem ästhetischen Erfahrungsraum (Theater) und dem Bildungsprozess (Pädagogik). Hierbei lassen sich zwei Extrempole herauskristallisieren: das ästhetische Produkt und der soziale Prozess (Bidlo, 2006, S.39). In den 1970er Jahren konnte man die Theaterpädagogik als Sozialerziehung betiteln. Hier ging es vor allem um die Vermittlung sozialer und kommunikativer Schlüsselqualifikationen sowie der Fähigkeitsschulung in Empathie, Identitätsfindung, Toleranz, Rollenerprobung und vielem mehr. In den 1980er Jahren änderte sich dieser Blickwinkel. Nun ging es vielmehr um eine therapeutisch arbeitende Theaterpädagogik, welche ihren Fokus auf das Individuum und dessen Biographie rückte. Die Theaterpädagogik wurde als eine Möglichkeit der Therapieform betrachtet (Bidlo, 2006, S. 35 ff.). Ästhetische Bildung wurde als Persönlichkeitsbildung angesehen. An dieser Stelle ist der Theaterpädagoge Augusto Boal zu benennen. Dieser entwickelte das Theater der Unterdrückten (T.d.U.) in Rio de Janeiro, wo seinerzeit eine Militärdiktatur herrschte. Er wollte mit seinem T. d. U. auf die offenen und sichtbaren Unterdrückungsmechanismen aufmerksam machen und die dort lebenden Menschen zu Handlungsalternativen bewegen (ebd., S. 74 ff.). Damals war seine Arbeit politisch motiviert. Ab den 70er Jahren reiste er durch Europa und entwickelte seine Theatermethoden weiter. Seine Arbeit wurde immer mehr eine präventiv – therapeutische (ebd.), da er bemerkte, dass es in Europa durchaus offene, direkte Unterdrückung wie beispielsweise Rassismus oder auch Sexismus gab, aber dass neben dieser Form durchaus mehr verstecktere, subtilere Formen von Gewalt und Unterdrückung existierten. Hierzu zählte er unter anderem die Einsamkeit, die Angst vor der inneren Leere, Selbstzweifel, Selbstzerstörung und Kommunikationsschwierigkeiten. Diese Unterdrückungen fasste er unter dem Begriff der seelischen Unterdrückung zusammen und bemerkte, dass es eine unsichtbare und im Individuum selbst begründete Eigenunterdrückung sei (ebd., S.83 ff.). Boal war der Auffassung, dass seine Methoden zum Lernen über sich selbst und als Schlüssel zur Lösung innerer Verstrickungen angewendet werden könne. Er selbst unterteilt seine Arbeit in drei Hauptbereiche: den Erziehungs-, Sozial- und Therapiebereich (Vogtmann, 2010, S. 27 ff.). An anderer Stelle wird detaillierter auf seine Arbeit und Theorie eingegangen.

In den 90er Jahren war in der Theaterpädagogik wieder eine entgegengesetzte Tendenz zu erkennen. Abgelehnt wurde eine pädagogische Instrumentalisierung des Theaters und die Wiederentdeckung seiner ästhetischen Qualitäten. Anders formuliert können wir sagen, dass nun die Ästhetik und somit das Theater in den Vordergrund der Arbeit gerückt wurde. Verwiesen wurde hierbei darauf, dass die ästhetischen Künste per se einen Bildungscharakter aufweisen (Bidlo, 2006, S. 36ff.). Auf diesen Aspekt des Bildungscharakters wird an anderer Stelle nochmal eingegangen.

Haun bringt Theaterpädagogik folgendermaßen auf den Punkt:

„Der Ort der Theaterpädagogik ist also die Pädagogik – um es genauer zu sagen: die Wissenschaft Pädagogik. Vermutlich jedoch in einem weitaus stärkeren Maße als dies Musik- und Kunstpädagogik leisten (wollen), stellt Theaterpädagogik neben ihre besondere künstlerisch-kreative Bildungsarbeit die Persönlichkeit der Menschen, mit denen sie zu tun hat, und betreibt somit Persönlichkeitsbildung. Ihr Gegenstand ist also die Kunst des Theaterspiels wie auch die Person der Darstellung“ (ebd., S. 32f.).

Die Theatertherapie grenzt sich von der Theaterpädagogik ab in dem diese Folgendes zu verstehen gibt:

„In der Regel setzen die Praktiker sich mit der Betitelung „therapeutisches Theater“ von der Theaterpädagogik ab, um deutlich zu machen, dass Theater dezidiert auf der Basis therapeutischen Handelns praktiziert wird und der therapeutische Effekt nicht ein Begleitphänomen ist, wie er in theaterpädagogischer Arbeit vorkommen kann.“ (Neumann, 2002, S.14)

Meines Erachtens liegt genau hier der Fehler. Die Theaterpädagogik und die Theatertherapie sollten sich zusammenschließen, um eine Theaterarbeit zu entwickeln, welche den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sich selbst zu entfalten, sich zu akzeptieren, Identität zu finden und vieles mehr. Der therapeutische Effekt sollte auch in der Theaterpädagogik kein Begleitphänomen sein, wenn sie sich auf das von mir gewählte Klientel bezieht. Doch was viele vergessen, vor allem die Theatertherapeuten, ist die selbstheilende Wirkung des Theaters. Sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche brauchen professionelle Psychologen, welche sich mit den traumatischen Erlebnissen auseinandersetzen, damit die K. und J. diese verarbeiten können. Die Theaterarbeit sollte hierbei als ein unterstützender Prozess betrachtet werden, der bei den K. und J. schwerwiegende Symptome und Folgeerscheinungen lindern kann. Die Theaterarbeit kann keine Posttraumatische Belastungsstörung (welche sich aufgrund des traumatischen Erlebnisses entwickeln kann) heilen. Hierfür ist der Therapeut/die Therapeutin zuständig. Psychotherapeutische Verfahren lassen sich meines Erachtens nach nicht durch das Theater ersetzen. Die Theaterarbeit sollte jedoch den Kindern einen Raum für ihre Emotionen, für ihre Ängste und Sehnsüchte bereitstellen. Sie sollte diesen einen Raum geben, in dem sie sich wohl und einer Gruppe zugehörig fühlen können, ohne sich verstellen zu müssen. In der sie so sein können, wie sie sind. Aufgrund der bei mir als Beispiel aufgeführten sexuell traumatisierten K. und J. ist zu erkennen, dass sie sich in ihrer Schulgruppe sowie in ihrem sozialen Umfeld nur schwer integrieren können (Levin, 2002, S. 206). Plausibel und durchaus nachvollziehbar bei dessen Erfahrungen und extremen Belastungssituationen. Die Theaterarbeit sollte ihnen helfen sich selbst zu entfalten und ihre Probleme offen zeigen zu können. Selbstverständlich in einem geschützten Rahmen. Denn die Tabuisierung dieser Thematik verstärkt die Scham der sexuell missbrauchten K. und J. noch mehr. Hierzu folgen im nächsten Kapitel weitere Ausführungen.

Im Folgenden möchte ich bewusst weder von Theaterpädagogik noch von Theatertherapie sprechen. Theaterarbeit ist das Stichwort. Theaterkunst, welche Menschen helfen kann, sich ein Stück weit selbst wiederzufinden und sich neu zu entdecken. Welche aufzeigen sollte, dass man so wie man ist, gut ist.

Über Begrifflichkeiten lässt sich streiten. Ich möchte mit dieser Arbeit nicht einen fachwissenschaftlichen Diskurs darüber führen, wer dafür zuständig ist, dass diesen K. und J. mit Hilfe des Theaters geholfen wird. Ich möchte aufzeigen WIE man helfen kann. Ob sich die Theaterpädagogik letztendlich dafür auch verantwortlich fühlen wird, liegt bei den Theaterpädagogen/Innen.

Ingrid Hentschel betont, dass sich die Theaterpädagogik zwischen dem Hintergrund der Traditionen bewege, auf die sie sich jeweils bezieht, im Spannungsfeld von Pädagogik, Politik und Gesellschaft (2008, S.3). Auch das Theater an sich sollte immer dem Kontext der Zeit und Gesellschaft angepasst werden. Die aktuelle Situation der Theaterpädagogik wird von Hentschel wie folgt beschrieben:

„Heute wird Theaterpädagogik vorrangig als Möglichkeit gesehen, Schlüsselqualifikationen für die Lebenswelt durch ästhetische Erfahrung zu erwerben, also die Eigenständigkeit künstlerisch vermittelter Erfahrung im Hinblick auf die in der Lebenswelt geforderten Kompetenzen zu betonen.“ (ebd., S.5)

Meiner Ansicht nach hat sich hier die Theaterpädagogik noch nicht ganz der aktuellen gesellschaftlichen Lage angepasst. Eine Anknüpfung an die in den 80er Jahren betriebene Theaterpädagogik ist in der aktuellen Zeit von Nöten. Denn wo befindet sich unsere Gesellschaft heute? In der Neuzeit ist ein mechanistisches Weltbild entstanden („die Welt sei eine Maschine, der Mensch auch; die Wissenschaft habe diese Maschinen zu überwachen und zu kontrollieren, gegebenenfalls Störungen zu reparieren“ (Lipinski, 2002, S.50)). Neben vielen positiven Effekten gibt es selbstverständlich ebenso die negativen Tragweiten eines solchen Weltbildes. Emotionen, Gefühle, das Innere des Menschen rücken immer weiter in den Hintergrund. Wer nicht funktioniert, wird ausgeschlossen. Die ästhetischen Künste sollten hier einen therapeutischen, heilsamen Rahmen bieten diese in den Hintergrund gedrängten Faktoren wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Denn auch wenn dies viel erleichtern würde: Menschen waren noch nie, sind und werden nie wie Maschinen funktionieren können. Schon lange nicht Menschen, dessen Seele bereits in der Kindheit durch schreckliche Ungerechtigkeiten und Gräueltaten gebrochen wurde (seien dies Kriege oder andere Gewalttaten). Aus diesem Grund sollte meiner Ansicht nach die Theaterpädagogik wieder einen ganz nach Augusto Boal therapeutisch – präventiven Rahmen einnehmen. Und zwar ohne dabei das Theater zu instrumentalisieren. Brook verdeutlicht, dass man das Theater nicht zu Zwecken der Behandlung missbrauchen sollte. Doch meiner Ansicht nach tut man dies in keinster Weise. Schon in der Antike wurde das Theater als Katharsis benutzt. Warum? Weil das Theater einen Raum bietet, der Heilungsprozesse von selbst in Gang setzt. Die Ästhetik des Theaters, das Spielen an sich liefert schon alles was benötigt wird, um heilend zu wirken. Hierzu folgen später ebenfalls ausführlichere Informationen.

Im nächsten Kapitel wird das Trauma beziehungsweise die Posttraumatische Belastungsstörung aus psychologischer Sicht beschrieben. Denn um mit traumatisierten K. und J. arbeiten zu können, muss man, wie bereits erwähnt, erst einmal verstehen, wie sich diese K. und J. fühlen, wie sie denken und handeln.

3 Das Trauma - Die Posttraumatische Belastungsstörung

Um mit traumatisierten K. und J. arbeiten zu können, braucht man selbstverständlich als erstes Grundwissen einen Einblick in die psychologische Sicht der Posttraumatischen Belastungsstörung. Was macht diese Kinder und Jugendlichen aus? Worauf muss man als Pädagoge/In sensibilisiert werden?

Man muss verstehen, wie das Traumagedächtnis funktioniert, um in einem weiteren Schritt zu verstehen warum die K. und J. so sind wie sie sind und wie das Theater helfen kann. Auch hier ist nur ein kleiner Einblick möglich:

3.1 Das autobiographische Gedächtnis

Allen voran sei bemerkt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch keine klar verifizierte, einheitlich akzeptierte Theorie zu diesem Untersuchungsgegenstand gibt, da es sich hierbei ebenfalls um ein noch junges Forschungsfeld handelt (Maruszewski 2005, 193).

Die Erinnerungen und Informationen, welche im autobiographischen Gedächtnis gespeichert werden, lassen sich als autobiographische Erinnerungen zusammenfassen. Was macht diese Erinnerungen nun aus?

„Als autobiographische Erinnerungen werden […] alle Erinnerungen bezeichnet, die sich auf komplexe, subjektiv bedeutsame Ereignisse beziehen, die in einem bestimmten raumzeitlichen Kontext erlebt wurden.“ (Jungert, 2013, S.45).

Somit ist zu erkennen, dass Erinnerungen, welche im autobiographischen Gedächtnis vorhanden sind, immer einen Bezug zur eigenen, personalen Vergangenheit haben und diese somit eine entscheidende Bedeutung für die biographische Identität von Personen darstellen (ebd., S. 47). Aus diesem Grund haben diese Erinnerungen immer einen hohen Selbstbezug, auch „self reference“ genannt (Maruszewski, 2005, S. 20). Hierzu kann auch noch ergänzt werden, dass die Identität eines Menschen und seine Selbsteinschätzung stark von dem autobiographischen Gedächtnis beeinflusst wird (ebd., S. 37). Nicht verwunderlich ist also, dass sich die Identitätswahrnehmung nach einem traumatischen Ereignis stark verändert.

Ebenfalls ist zu beachten, dass Emotionen eine entscheidende Rolle bei der Kodierung und Erinnerung von Informationen spielen. Die Genauigkeit und Beständigkeit nimmt mit der Stärke von Emotionen zu. Zweifellos ist, dass Informationen, welche im autobiographischen Gedächtnis gespeichert werden, immer einen hohen emotionalen Grad besitzen, da diese für das jeweilige Individuum und somit für dessen Biographie eine persönlich relevante Rolle darstellen (Jungert, 2013, S. 45).

Forscher machen zudem auf die „narrative Funktion des autobiographischen Gedächtnisses“ (Wagner-Egelhaaf, 2005, S. 90) aufmerksam. Sie sind der Auffassung, dass das autobiographische Gedächtnis Erinnerungen in Form einer Narration speichert und wiedergibt. Narration wird wie folgt definiert: „semiotic representation of a sequence of events, meaningfully connected in a temporal and causal way“ (Jungert, 2013, S.77). Man kann daraus schließen, dass die Erinnerungen im autobiographischen Gedächtnis nicht nur faktisch als Aufzählung vorliegen, sondern diese zeitlich und ebenso kausal angeordnet und miteinander verbunden werden. Nicht verwunderlich also, dass Bluck und Habermas die biographische Identität als „narrativ strukturiertes praktisches Bewusstsein“ (ebd., S. 126) verstehen. Was ist bei einem traumatischen Erlebnis nun anders?

In der Psychologie wird die durch das traumatische Erlebnis auftretende Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) unter anderem wie folgt beschrieben:

„[o]bwohl umstritten […] zumeist übereinstimmend als eine manchmal erst später erfolgte Reaktion auf ein überwältigendes Ereignis beschrieben, und zwar in Form von wiederkehrenden und unentrinnbaren Halluzinationen, Träumen, Gedanken oder Verhaltensweisen.“ (Caruth, S. 85).

Hierbei ist zu beachten, dass Untersuchungen ergeben haben das traumatische Erlebnisse bruchstückhaft kodiert werden (Maruszewski 2005, 31) (fragment, vgl. Abbildung S. 9). Konkret bedeutet dies, dass Personen, die gerade das traumatische Erlebnis erfahren, nicht in der Lage sind, aus den Geschehnissen direkt eine vollständige Narration im autobiographischen Gedächtnis zu bilden. Bei Caruth können wir hierzu folgendes lesen:

„Das Trauma stellt die Konfrontation mit einem Ereignis dar, das aufgrund seiner Unvermitteltheit und Grauenhaftigkeit nicht in die Schemata vorherigen Wissens eingepa[ss]t werden können. Da das Geschehen während seines Ablaufes nicht völlig integriert wurde, kann das Ereignis, so Janet, nicht zu einer in die abgeschlossene Geschichte der Vergangenheit eingebetteten „narrativen Erinnerung“ werden.“ (Caruth, 2000, S. 93).

Die Gedächtnisforschung legt hierzu nahe, dass „unsere Erlebnisse normalerweise in verarbeiteter Form gespeichert werden“ (Ehring & Ehlers, 2012, S. 27) (eben in einem zeitlich räumlichen kausalen Zusammenhang).

„Bei traumatischen Erlebnissen [wiederum] ist diese Verarbeitung unvollständig. Ein Trauma ist so überwältigend, so anders als alles bisher Erlebte, und passiert meist so unerwartet, dass man nicht in der Lage ist, das Trauma schnell und geordnet zu verarbeiten. Zum einen wird daher das Erlebnis, insbesondere die schlimmsten Momente, sozusagen in unverarbeiteter Rohform im autobiographischen Gedächtnis abgespeichert. Diese Rohform zeichnet sich v.a. dadurch aus, dass sie viele der ursprünglichen Sinneseindrücke, Gefühle und Körperempfindungen enthält und nur wenig geordnete bzw. verarbeitete Gedanken.“ (ebd., S.27 f.)

Erst nach einer gewissen Zeit kann die betreffende Person die Informationen zu einer stimmigen Geschichte verbinden. Und meist auch nur mit Hilfe eines Therapeuten/einer Therapeutin. Vor allem bei solch schwerwiegenden traumatischen Erfahrungen wie der sexuellen Misshandlung in der Kindheit. Die Erlebnisse werden verdrängt, ins Unterbewusstsein vergraben. Freud ist hierbei der Auffassung, dass die Erinnerungen, welche noch nicht in eine vollständige Narration eingebettet werden konnten, für einen gewissen Zeitraum sozusagen „einfrieren“ (freeze, vgl. Abbildung S.9). Diese zeitliche Verzögerung bezeichnet er als Latenzzeit (vgl. ebd., 89f.). Sie entsteht, weil man zum Zeitpunkt, in dem das traumatische Erlebnis stattfindet, dieses nicht vollkommen in das Bewusstsein einlassen kann, oder weil es nicht in einer Ganzheit erfahren wird, sondern, wie oben bereits erwähnt, bruchstückhaft. Bruchstückhaft kodiert wird es, weil die während des Traumas Betroffenen mit der Verarbeitung des Erlebnisses überfordert sind (Ehring & Ehlers, S. 30). Das Geschehene kann erst später wirklich erfahren werden. Dies geschieht, indem die traumatisierte Person erneut von dem Trauma „in Besitz genommen wird“ (Caruth, 2002, S.85).

Zusammenfassend kann man sagen, dass „[d]as Trauma […] als zusammenhängender Ablauf von einem Ereignis zu seiner Verdrängung und schließlich zu seiner Wiederkehr zu verstehen [ist].“ (ebd., S.89). Bei der Verdrängung wird davon ausgegangen, dass nach dem Ereignis ein blockierender Faktor das betreffende Individuum daran hindert, die Geschehnisse aufzurufen. Nach einem gewissen Zeitraum (dieser kann einige Tage, aber auch viele Jahre andauern) folgt dann die „Rückkehr“ des Ereignisses (vgl. Maruszewski).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(aus: Huber, 2003, S. 39)

Die kognitiven Strategien, wie beispielsweise die Derealisation während des Traumas, sind wichtige Überlebensstrategien, wenn man beispielsweise vergewaltigt wird. Auf diese Weise ist man in der Lage das Ereignis zu ertragen, da man weder kämpfen noch fliehen kann. Leider bleiben oftmals als Symptome ebenfalls diese kognitiven Strategien noch nach dem Trauma bestehen, da unser Gehirn nicht begreifen kann, dass die Gefahr vorüber ist, da das fragmentierte Kodieren verhindert, dass man das Ereignis, wie bereits erwähnt, zeitlich und räumlich einordnen kann. Somit kann unser Gehirn nicht begreifen, dass das traumatische Ereignis vorüber ist. Bildhaft können wir uns die Traumaerinnerung wie folgt vorstellen:

„Die Besonderheiten der Traumaerinnerung lassen sich vielleicht am besten in einem Bild zusammenfassen. Dabei kann man sich das Gedächtnis wie einen Schrank vorstellen. Alltägliche Erinnerungen werden in diesem Schrank abgelegt, in dem sie zunächst ordentlich gefaltet (d.h. verarbeitet) und dann an den passenden Ort eingeordnet (d.h. mit ähnlichen Erinnerungen und relevanten Informationen verbunden) werden. Daher können diese Erinnerungen bei Bedarf wieder hervorgeholt werden, sie fallen aber nur selten von alleine aus dem Schrank heraus. Die Speicherung der Traumaerinnerung im Gedächtnis kann hingegen mit der Situation verglichen werden, dass viele Dinge ungeordnet ganz schnell in diesen Schrank hineingeworfen werden, so dass man die Tür nicht ganz schließen kann. Die Tür wird daher häufig aufgehen, und die Dinge werden wieder aus dem Schrank herausfallen.“ (Ehring & Ehlers, 2012, S. 28).

3.2 Posttraumatische Belastungsstörung – Folgen und Symptome

- ungewolltes Wiedererleben des Traumas (bspw. in Form von Flashbacks, Albträumen)
- Probleme der Erinnerung an das Trauma
- Vermeidung
- Interessenverlust, Gefühlstaubheit und Entfremdung (Veränderung der Identitätswahrnehmung)
- Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten
- Reizbarkeit und Ärger
- Tendenz zur Isolation und zum Rückzug von sozialen Kontakten
- Apathie
- Abstumpfung von emotionalen Gefühlen
- Scham (und daher folgend: Unfähigkeit über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen)
- paradoxes Gefühl von Schuld (hieraus folgen: Selbstkritik und Selbstzweifel)
- Übermäßige Wachsamkeit und Schreckreaktionen

3.2.1 Komorbidität

- Depression
- Alkohol-, Drogen oder Medikamentenkonsum
- Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen
- Probleme im Selbstbild und im Umgang mit Gefühlen
- Borderline-Störung (kann sich in Folge von traumatischen Erlebnissen in Kindheit oder Jugend entwickeln)
- Körperliche Einschränkungen (wie bspw. chronische Schmerzen im Unterleib, Harnverhalt)
- Angstzustände (Ausweitung bis hin zu Panikattaken, Agoraphobie u.a.)
- Derealisierung, Depersonalisation, Dissoziation
- (vgl. Ehring & Ehlers, 2012, S. 12-17, 22-24)2

3.3 Erfahrungsbericht eines in der Kindheit misshandelten Mädchens

Im Anschluss an die Symptome und Folgeerscheinungen ist es mir gelungen einen Erfahrungsbericht einer Freundin zu erlangen. Ich denke, dass wir den besten Einblick darüber, wie sich sexuell misshandelte Kinder und Jugendliche fühlen, erhalten, wenn wir ihre persönliche Sicht auf die Dinge uns vor Augen führen können.3

Bewusst möchte die Verfasserin des Textes mit ihrem richtigen und vollen Namen genannt werden, um einen Schritt gegen ihre jahrelange Scham und die Tabuisierung dieser Thematik zu tun. Aus Datenschutzgründen wurden jedoch der Nachname und alle genaueren Ortsangaben unkenntlich gemacht.

[...]


1 Kinder und Jugendliche werden im Folgenden mit „K. und J.“ abgekürzt

2 In Europa werden psychische Erkrankungen auf Grundlage des anerkannten Klassifikationssystems ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation diagnostiziert. Die Diagnosekriterien für die posttraumatische Belastungsstörung sind im Anhang A.1 zu finden.

3 Die im Erfahrungsbericht hervorgehobenen Stellen spiegeln typische Symptome und Verhaltensmuster einer PTBS wieder. Die in eckigen Klammern gesetzten Wörter sind von mir aufgeführte Ergänzungen.

Fin de l'extrait de 51 pages

Résumé des informations

Titre
Theaterarbeit mit schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Wie das Theater bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung helfen kann
Auteur
Année
2019
Pages
51
N° de catalogue
V491029
ISBN (ebook)
9783960957164
ISBN (Livre)
9783960957171
Langue
allemand
Mots clés
PTBS, Theatertherapie, Trauma, Therapie, Förderung
Citation du texte
Katrin Grodzki (Auteur), 2019, Theaterarbeit mit schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Wie das Theater bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung helfen kann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/491029

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