Atypische Beschäftigungsverhältnisse in der Einzelhandels- und Textilindustrie am Beispiel von H&M


Masterarbeit, 2018

91 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Literaturteil
2.1 Theoretischer Rahmen der Beschaftigungsformen
2.1.1 Das Normalarbeitsverhaltnis
2.1.2 Atypische Beschaftigung
2.1.3 Prekaritat und prekare Beschaftigung
2.1.3.1 Individualebene vs. Haushaltsebene
2.1.3.2 Merkmale der Prekaritatsrisiken
2.2 Historischer Kontext und Entwicklung der Prekarisierung
2.3 Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat
2.3.1 Die Veranderungstendenzen der Arbeitswelt
2.3.2 Die neoliberale Politik
2.3.3 Die Veranderung von Geschlechter- und Familienverhaltnissen
2.4 Zwischenfazit

3. Methodenteil
3.1 Begrundung der Fallstudie und Fallauswahl
3.2 Die qualitative Datenerhebung
3.3 Methode des leitfadengestutzten Experteninterviews
3.3.1 Aufbau und Inhalte der Interviewleitfaden
3.3.2 Qualitative Inhaltsanalyse
3.3.3 Durchfuhrung und Transkription der Interviews
3.3 Methode der Dokumentenanalyse

4. Empirischer Teil
4.1 Einleitung in den Fall: H&M
4.1.1 Unternehmensprofil von H&M
4.1.2 Vorstellung der Beschaftigungsverhaltnisse
4.2 Analyse und Interpretation der Ergebnisse
4.2.1 Auswertung der Dokumentenanalyse
4.2.2 Auswertung der Interviews
4.3 Identifikation der Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat

5. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang
Anlage 1: Interview-Leitfaden
Anlage 2: Kategorien Dokumentenanalyse
Anlage 3: Interview-Transkripte

Zusammenfassung

Zu den festen Parametern der modernen Arbeitsgesellschaft zahlt die standige Veranderung - die Digitalisierung, der technologischer Wandel und die Globalisierung der Wirtschaft mit der Internationalisierung der Markte stellen Veranderungstendenzen dar, welche Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Beschaftigungsverhaltnisse haben (vgl. Schmidt 2010). Insbesondere die Ausweitung ungeschutzter Beschaftigungen gewinnt einen starken Bedeutungszuwachs, sodass intensive Debatten uber die Prekarisierung des Arbeitsmarktes in Deutschland gefuhrt werden (vgl. Schiersch 2014: 1). Atypische Beschaftigungsverhaltnisse wie Teilzeit, Zeitarbeit, befristete Beschaftigung oder auch geringfugige Beschaftigung finden eine zunehmende Nachfrage und treiben den Beschaftigungswandel voran (vgl. Wingerter 2012: 3).

Besonders Branchen wie die Einzelhandels- und Textilindustrie besitzen ein hohes Prekaritatspotenzial aufgrund ihrer wirtschaftsstrukturellen Merkmale und soziookodemografischen Besonderheiten (vgl. Buschoff, Seifert 2017: 8-9). Immer mehr Normalarbeitsverhaltnisse werden hier durch Teilzeit und geringfugige Beschaftigung ersetzt und damit die Prekarisierung vorangetrieben (vgl. ebenda).

Vor diesem Hintergrund soll in Rahmen der vorliegenden Masterarbeit untersucht werden, welche Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat in der Einzelhandels- und Textilindustrie verantwortlich sind. Anhand des Textilkonzern H&M, der in Deutschland einer der groRten Arbeitgeber im Sektor Einzelhandel darstellt und als Vorreiter fur prekare Beschaftigungsverhaltnisse gilt, soll eine empirische Untersuchung der Forschungsfrage durchgefuhrt werden.

Mithilfe der Erkenntnisse der Fachliteratur wurde eine Grundlage fur die empirische Untersuchung geschaffen und der aktuelle Forschungsstand prasentiert. Dabei ergaben sich Ursachen wie z.B. die Verscharfung des globalen Wettbewerbs, die Ausweitung des Dienstleistungssektors und die DeregulierungsmaRnahmen, welche es mit der empirischen Untersuchung zu prufen und zu erweitern gilt. Aus methodischer Sicht wurden Experteninterviews und eine Dokumentenanalyse durchgefuhrt, welche branchenspezifische und -ubergreifende Ursachen identifizieren konnte. Als pragnanteste Ergebnisse lassen sich der Strukturwandel, die Zielgruppenverschiebung und das veranderte Konsumverhalten nennen.

Abstract

Constant change is one of the fixed parameters of modern working society - digitization, technological change and the globalization of the economy with the internationalization of markets are changing tendencies which have an impact on the labour market and on employment (Schmidt, 2010). In particular, the expansion of unprotected work is gaining importance arousing intense debates about the precarity of the labor market in Germany (Schiersch, 2014, p. 1). Atypical employment relationships, such as part-time work, temporary employment, fixed-term employment and even marginal employment, are finding increasing demand and driving employment change (Wingerter, 2012, p. 3).

Sectors such as the retail and textile industries have a high potential for precariousness due to their structural features and socio-economic characteristics (Buschoff and Seifert, 2017, pp. 8-9). More and more traditional working conditions are being replaced by part-time work and marginal employment, thus promoting precariousness (Buschoff and Seifert, 2017, pp. 8-9).

Against this background, the aim of this Master's thesis is to investigate which causes are responsible for the development of precariousness in the retail and textile industries. Based on the textile company H&M, which is one of the largest employers in the retail sector in Germany and is considered a precursor to precarious employment, an empirical investigation of the research question will be carried out.

With the help of literary findings a basis for the empirical investigation was created and the current state of research was presented. This highlighted causes such as the intensification of global competition, the expansion of the service sector and the deregulation measures, which will be examined and expanded with the empirical investigation. From a methodological point of view, expert interviews and a document analysis were conducted, which were able to identify industry- specific and cross-sectoral causes. The most succinct results are the structural change, the shift of the target group and the changed consumer behavior.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zonenmodell nach Klaus Dorre (Castel, Dorre 2009: 48)

Abbildung 2: Unterscheidung zwischen Individualebene und Haushaltsebene (eigene Darstellung in Anlehnung an Goebel, Kottwitz 2017: 5)

Abbildung 3: Entwicklung der Normalbeschaftigung vs. Atypische Beschaftigung (1991-2015) (eigene Darstellung, vgl. Statistische Bundesamt 2017c)

Abbildung 4: Erwerbstatigenquoten von Frauen und Mannern in Deutschland (1980-2016), in % (eigene Darstellung; vgl. Statistische Bundesamt 2017f; vgl. Sacher 2005: 482)

Abbildung 5: Auswahl von Gesetzen zur Forderung von "atypischer" Beschaftigung (Mayer-Ahuja 2003: 48; vgl. Verein fur soziales Leben e.V. 2011)

Abbildung 6: Unternehmensprofil H&M (vgl. H&M 2017; vgl. Kohnen 2006: 7, 33)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Dimensionen des prekaren Potenzials von Beschaftigungsverhaltnissen (Goebel, Kottwitz 2017: 6)

Tabelle 2: Entwicklung des Normalarbeitsverhaltnis und der atypisch Beschaftigten im dem ausgewahlten Wirtschaftszweig "Handel" (eigene Darstellung, vgl. Schulze-Buschoff, Seifert 2017: 9; Statistisches Bundesamt 2008, Statistisches Bundesamt 2017d)

Tabelle 3: Beschaftigte in Deutschland nach Sektoren (1950-2016)(eigene Darstellung, vgl. Statistisches Bundesamt 2017e)

Tabelle 4: Erwerbskonstellationen in Paarhaushalten mit und ohne Kind in Westdeutschland (Goebel, Kottwitz 2017: 15)

Tabelle 5: Kategorisierungstabelle der Dokumentenanalyse (eigene Darstellung)

Tabelle 6: Struktur der Beschaftigten bei H&M in Deutschland (Kohnen 2006: 11)

1. Einleitung

„Trotz Arbeit arm" oder „Verurteilt zum Leben ohne Perspektive" stellen immer haufiger werdende Schlagzeilen in den deutschen Medien dar (vgl. verdi 2016). Insbesondere der ansteigende Bedeutungszuwachs von unsicheren Beschaftigungsverhaltnissen, der sich bereits seit den 1970/80er Jahren vollzieht, fuhrt zu einer zunehmenden Thematisierung des Beschaftigungswandels in der Offentlichkeit.

Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes seit den 1980er Jahren verringerte der deutsche Gesetzgeber eine Reihe von gesetzlichen Beschrankungen des Arbeitsmarktes (vgl. Ludwig- Mayerhofer, Stephan 2014: 383-385), sodass sich die Rahmenbedingungen vervielfaltigt haben und den Beschaftigungswandel vorantrieben (vgl. Wingerter 2012: 3). Atypische Beschaftigungsverhaltnisse wie Teilzeit, Zeitarbeit, befristete Beschaftigung oder auch geringfugige Beschaftigung entstanden und gewinnen immer mehr an Bedeutung, sodass intensive Debatten uber die Prekarisierung des Arbeitsmarktes in Deutschland gefuhrt werden (vgl. Schiersch 2014: 1).

Bei der Betrachtung der Verteilung dieser Beschaftigungsformen auf die unterschiedlichen Wirtschaftszweige zeigt sich, dass besonders Branchen im Dienstleistungssektor betroffen sind. Auch die Einzelhandels- und Textilindustrie ist dem tertiaren Sektor zugehorig und besitzt ein hohes Prekaritatspotenzial aufgrund der vergleichsweise einfachen Substituierbarkeit der Arbeitskrafte und der geringen Aufgabenkomplexitat der Tatigkeiten (vgl. Keller, Seifert 2007: 33). Immer mehr Normalarbeitsverhaltnisse werden hier durch prekare Beschaftigungen wie Teilzeit oder Minijobs ersetzt, was somit die Prekarisierung vorantreibt (vgl. Schulze-Buschoff, Seifert 2017: 8).

In der vorliegenden Masterarbeit werden ausgehend von dieser Situation die Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat in der Einzelhandels- und Textilindustrie untersucht. Anhand des Textilkonzerns H&M, der in Deutschland einen der groRten Arbeitgeber im Sektor Einzelhandel darstellt und als Vorreiter fur prekare Beschaftigung gilt, wird eine empirische Untersuchung der Forschungsfrage durchgefuhrt. Zunachst wird der aktuelle Stand der Forschung im Literaturteil (Kapitel 2) prasentiert und zusammengefasst. Dabei werden mit dem Abschnitt der theoretische Rahmen der Beschaftigungsformen (Kapitel 2.1) fur die Thematik relevante Begriffe definiert und die Abgrenzung der atypischen von der prekaren Beschaftigung aufgezeigt. Mit dem Historischer Kontext und Entwicklung der Prekarisierung (Kapitel 2.2) entstehen die historischen Zusammenhange in welche die Ursachen fur die zunehmende Prekarisierung eingebettet sind, umso im Abschnitt der Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat (Kapitel 2.3) die unterschiedlichen Ursachenbundel zu diskutieren. Das Zwischenfazit (Kapitel 2.4) schlieRt den Literaturteil ab und fasst gewonnene Erkenntnisse zusammen. Mit dem Methodenteil (Kapitel 3) erfolgen die Begrundung der Fallstudie und Fallauswahl (Kapitel 3.1), die Erlauterung fur eine qualitative Datenerhebung (Kapitel 3.2) sowie die Vorstellung der Methodentriangulation mit der Methode der leitfadengestutzten Experteninterviews (Kapitel 3.3) und der Methode der Dokumentenanalyse (Kapitel 3.4). In Kapitel 4 wird die empirische Untersuchung prasentiert, die eingeleitet wird mit der Unternehmensvorstellung von H&M (Kapitel 4.1), ubergeht in die Analyse und Interpretation der Ergebnisse aus den Experteninterviews und der Dokumentenanalyse (Kapitel 4.2) und ihren Abschluss finden wird in der Identifikation der Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat (Kapitel 4.3). Eine abschieRende Zusammenfassung sowie ein Ausblick werden mit dem Fazit (Kapitel 5) erfolgen.

2. Literaturteil

Im Literaturteil dieser Masterarbeit wird der aktuelle Stand der Forschung zur Prekarisierungsdebatte dargelegt, wobei eine Beschrankung auf die fur die Ursachenforschungen relevanten Aspekte stattfindet. Dieses Kapitel ist in die drei folgenden Abschnitte gegliedert: Theoretischer Rahmen der Beschaftigungsformen (Kapitel 2.1), Historischer Kontext und Entwicklung der Prekarisierung (Kapitel 2.2) sowie Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat (Kapitel 2.3). Am Ende des Literaturteils steht ein Zwischenfazit (Kapitel 2.4), das eine Zusammenfassung der gewonnenen Kenntnisse uber den aktuellen Forschungsstand darstellen wird und wichtige Forschungslucken fur diese Arbeit aufzeigen soll.

2.1 Theoretischer Rahmen der Beschaftigungsformen

Um die Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat zu verstehen, ist es wichtig, einen Uberblick uber die Beschaftigungsformen sowie wichtige Begrifflichkeiten und Definitionen zu erhalten. Gerade die atypische Beschaftigung und Prekaritat finden in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Abgrenzungsmoglichkeiten und Definitionen. So soll im folgenden Kapitel ein theoretischer Rahmen in Bezug auf Begrifflichkeiten, Definitionen und Zusammenhange gegeben werden, die die Grundlage fur diese Masterarbeit bilden.

1.1.1 Das Normalarbeitsverhaltnis

Um atypische Beschaftigungsverhaltnisse definieren zu konnen, ist es zunachst wichtig, den Begriff des Normalarbeitsverhaltnisses zu erlautern und abzugrenzen.

Der Begriff des Normalarbeitsverhaltnisses wurde 1985 von Ulrich Muckenberger gepragt (vgl. Muckenberger 1985: 415-434) und durch folgende zentrale Kriterien definiert:

- dauerhaft und kontinuierlich
- Vollzeitbeschaftigung
- vorliegen der Schutzidentitat durch geltende Arbeits- und Sozialverfassung (vgl. Muckenberger 1986: 33 f.).

Seitdem wurden die Kernelemente, die ein Normalarbeitsverhaltnis ausmachen, stetig erweitert und neu definiert, sodass zum heutigen Zeitpunkt verschiedene Auffassungen und Definitionen bestehen. Eine gemeingultige Definition der wissenschaftlichen Literatur bieten beispielsweise Ulrich Walwei und Martin Dietz, die das Normalarbeitsverhaltnis wie folgt definieren:

In der Fachliteratur beschreibt eine gangige Definition das Normalarbeitsverhaltnis als eine [...] „abhangige, sozialversicherungspflichtige und unbefristete Vollzeitbeschaftigung" [...]. (Dietz, Walwei 2006: 17).

Im Vergleich dazu wird nach dem Statistischen Bundesamt unter einem Normalarbeitsverhaltnis auch eine Teilzeitbeschaftigung ab 21 Wochenstunden verstanden und folgende Begriffsbestimmung festgelegt:

„Unter einem Normalarbeitsverhaltnis wird ein abhangiges Beschaftigungsverhaltnis verstanden, das in Vollzeit oder in Teilzeit ab 21 Wochenstunden und unbefristet ausgeubt wird. Ein Normalarbeitnehmer arbeitet zudem direkt in dem Unternehmen, mit dem er einen Arbeitsvertrag hat." (Statistisches Bundesamt 2017a).

Ausgehend von diesen Definitionen lassen sich folgende Kriterien eines Normalarbeitsverhaltnisses fur diese Arbeit ableiten:

- Vollzeittatigkeit oder Teilzeittatigkeit ab 21 Stunden
- „Integration in die sozialen Sicherungssysteme,
- unbefristetes Beschaftigungsverhaltnis,
- Identitat von Arbeits- und Beschaftigungsverhaltnis,
- Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber." (Keller, Seifert 2007: 12).

2.1.2 Atypische Beschaftigung

Rein formal betrachtet man atypische Beschaftigungsverhaltnisse als negative Form des definierten Normalarbeitsverhaltnisses (vgl. Brehmer, Seifert 2008: 503).

Solche Erwerbsformen, die als atypisch bezeichnet werden, weichen in mindestens einem Merkmal von einem Normalarbeitsverhaltnis ab (vgl. Wingerter 2012: 209). Ausgehend von den oben definierten Kriterien, die ein Normalarbeitsverhaltnis ausmachen, lassen sich folgende Beschaftigungsformen als atypisch abgrenzen:

1. die Teilzeitbeschaftigung mit 20 oder weniger Wochenstunden,
2. befristete Beschaftigung,
3. geringfugige Beschaftigung,
4. Leiharbeit oder Zeitarbeit (vgl. Statistisches Bundesamt 2017b).

Im Detail bietet die wissenschaftliche Literatur vielfaltige Moglichkeiten der Abgrenzung zum Normalarbeitsverhaltnis und auch zur Existenz von zahlreichen weiteren Beschaftigungsformen (vgl. Ludwig-Mayerhofer, Stephan 2014: 380 f.). Da fur diese Arbeit nur diese Formen atypischer Beschaftigung eine Bedeutung darstellen, wird auf weitere Formen der Beschaftigung an dieser Stelle nicht eingegangen.

2.1.3 Prekaritat und prekare Beschaftigung

Zu den entscheidenden Impulsgebern der Prekaritatsforschung zahlen Robert Castel (1933-2013) und Pierre Bourdieu (1930-2002), die eine weitlaufige Definition des Prekaritatsbegriffes aufstellten (vgl. Motakef 2015: 6). Bourdieu versteht unter dem Begriff „[...] Prekaritat eine gesellschaftliche Tendenz zur Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit, deren Ursprung im okonomischen und Erwerbssystem der Gesellschaft zu verorten ist" (Brinkmann u.a. 2006: 8).

Castel hingegen stellt mit seiner Prekarisierungsthese ein Zonenmodell auf, das die Arbeitsgesellschaft in unterschiedliche Sicherheitsniveaus spaltet (vgl. Castel 2008: 360 f.). Eine Erweiterung dieses Modells wurde durch Klaus Dorre vorgenommen, der sich Castels Prekarisierungsthese annimmt und die Begriffe „Prekaritat" und „prekare Beschaftigung" voneinander abgrenzt (vgl. Motakef 2015: 7). Dorre beschreibt demnach „prekare Beschaftigung" als ein Erwerbsverhaltnis, das in Bezug auf Einkommens-, Schutz- und Integrationsniveau unter dem gesellschaftlichen Standard liegt und mit Planungsunsicherheit und Anerkennungsdefiziten einhergeht (vgl. Brinkmann u.a. 2006: 17). Indessen spricht er von Prekaritat, wenn sich das unsichere Beschaftigungsverhaltnis zu einem Dauerzustand entwickelt und die soziale Lage konstituiert. Nach seinem Zonenmodell kann in diesem Fall „[...] von der Herausbildung einer „Zone der Prekaritat" gesprochen werden, die sich deutlich von der „Zone der Integration" mit dem geschutzten Normalarbeitsverhaltnis, aber auch von der „Zone der Entkopplung", in der sich die „Entbehrlichen" der Arbeitsgesellschaft befinden"[...] (Brinkman u.a. 2006: 17), abgrenzen lasst (s. Abbildung 1).

Zone der Integration

1. Gesicherte Integration („Die Gesicherten")
2. Atypische Integration („Die Selbstmanager")
3. Unsichere Integration („Die Verunsicherten")
4. Gefahrdete Integration („Die Abstiegsbedrohten")

Zone der Prekaritat

5. Prekare Beschaftigung als Chance („Die Hoffenden")
6. Prekare Beschaftigung als dauerhaftes Arrangement („Die Realistischen")
7. Entscharfte Prekaritat („Die Zufriedenen")

Zone der Entkopplung

8. Oberwindbare Ausgrenzung („Die Veranderungswilligen")
9. Kontrollierte Ausgrenzung („Die Abgehangten")

Abbildung 1: Zonenmodell nach Klaus Dorre (Castel, Dorre 2009: 48)

Eine bewahrte Definition fur „prekare Beschaftigung" bietet auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die den Begriff wie folgt definiert:

Ein Beschaftigungsverhaltnis lasst sich als prekar beschreiben, sofern aufgrund des Erwerbsstatus nur geringe Arbeitsplatzsicherheit vorhanden ist, wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Arbeitssituation besteht, der arbeitsrechtliche Schutz nur partiell besteht und die Chance auf materielle Existenzsicherung durch Arbeit in der Regel schlecht ist (vgl. Castel, Dorre 2009: 198).

Zunehmend verstarkte sich in der wissenschaftlichen Literatur die Kritik, man fokussiere sich bei der Erforschung von Prekaritat vorzugweise auf die Erwerbsarbeit, lieRe aber das Zusammenspiel zwischen Beschaftigungsverhaltnis und Haushaltskontext auRer Betracht (vgl. Goebel, Kottwitz 2017: 3). Erste Einbeziehungen des Haushaltskontextes in die Definition erfolgten u.a. durch das Statistische Bundesamt (vgl. Goebel, Kottwitz 2017: 3), das „prekare Beschaftigung" wie folgt beschreibt:

„Prekare Beschaftigung zeichnet sich durch ein erhohtes Armutsrisiko des/der Beschaftigten aus, wel- ches zusatzlich von der personlichen Berufsbiografie und dem personlichen Haushaltskontext abhan- gig ist." (Statistisches Bundesamt 2017b)

Nach der Definition, die das Statistische Bundesamt aufstellte, lasst sich zwischen Individual- und Haushaltsperspektive unterscheiden, die es im nachsten Abschnitt naher zu betrachten gilt.

2.1.3.1 Individualebene vs. Haushaltsebene

Nach der Erweiterung der Perspektive und Einbeziehung des Haushaltskontextes lassen sich in Bezug auf „Prekaritat" zwei Ebenen voneinander unterscheiden:

1. Individualebene: Diese umfasst das individuelle Beschaftigungsverhaltnis, das Prekaritatsrisiken aufzeigen kann. Demnach liegt der Ursprung des „prekaren Potenzials" im Beschaftigungsverhaltnis des Individuums und kann in eine „prekare Lebenslage" ubergehen (vgl. Goebel, Kottwitz 2017: 3 f.).
2. Haushaltsebene: Die Ebene der Haushalte entscheidet, ob das vermeidlich prekare Beschaftigungsverhaltnis in eine prekare Lebenslage ubergreift oder durch den Haushalt ausgeglichen werden kann (vgl. Goebel, Kottwitz 2017: 3 f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Unterscheidung zwischen Individualebene und Haushaltsebene (eigene Darstellung in Anlehnung an Goebel, Kottwitz 2017: 5)

Eine Unterscheidung zwischen Individualebene und Haushaltsebene vorzunehmen, zeigt einen entscheidenden Aspekt auf, der ohne die Unterscheidung nicht erkennbar ware. Demnach ergibt sich aus Beschaftigungsverhaltnissen mit einem prekaren Potenzial nicht zwangslaufig eine prekare soziale Lebenslage, sondern diese konnen auch freiwillig und bewusst gewahlt sein aufgrund der Kompensation des Haushaltes (vgl. Goebel, Kottwitz 2017: 5).

Atypische und flexible Beschaftigungsverhaltnisse als Synonym fur prekare Beschaftigungsverhaltnisse zu verwenden, ware nach dieser Ausfuhrung als falsch zu bewerten, wenn doch in vielen Formen der atypischen Beschaftigung ein hoheres prekares Potenzial besteht als in einem Normalarbeitsverhaltnis (vgl. ebenda).

2.1.3.2 Merkmale der Prekaritatsrisiken

Anhand welcher Merkmale die Risiken fur Prekaritat bestimmt werden konnen, soll der folgende Abschnitt zeigen.

In der wissenschaftlichen Literatur wurden vier entscheidende Dimensionen herausgearbeitet, anhand derer das prekare Potenzial eines Beschaftigungsverhaltnisses gemessen werden kann (s. Tabelle 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Dimensionen des prekaren Potenzials von Beschaftigungsverhaltnissen (Goebel, Kottwitz 2017: 6)

(1) Beschaftigungsstabilitat: Ein Beschaftigungsverhaltnis ist instabil, falls es nicht auf Dauer ausgelegt ist (=unbefristet) oder durch eine Arbeitnehmeruberlassung erfolgt.
(2) Einkommenssicherheit: Sicherheit durch das Einkommen ist fur das Individuum nicht gegeben, falls es unter dem Mindestlohn verdient oder nur in einer Teilzeitbeschaftigung (<20 vertraglich, vereinbarten Wochenstunden) angestellt ist.
(3) Beschaftigungsfahigkeit: Das Beschaftigungsverhaltnis zeigt prekares Potenzial auf, falls die Erwerbstatigkeit durch berufliche Weiterbildung beschrankt ist oder eine Gesundheitsgefahrdung vorliegt.
(4) Soziale Absicherung: Das Beschaftigungsverhaltnis ist sozial abgesichert, falls ein Anspruch auf Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung besteht (vgl. Goebel, Kottwitz 2017: 6 ff.).

2.2 Historischer Kontext und Entwicklung der Prekarisierung

Nachdem im vorangegangenen Kapitel Begriffsbestimmungen zu den in der Prekarisierungsdebatte relevanten Begriffen vorgenommen wurden, erfolgt in diesem Kapitel die Illustration des historischen Kontextes der Prekarisierung. Die Darstellung uber die Entwicklung von Prekaritat bildet die Wissensgrundlage fur die nachfolgende Konstruktion der Ursachen der zunehmenden Prekarisierung. Besonders die historischen Zusammenhange der 1950er Jahre bis heute sind fur den Prekarisierungprozess relevant und werden entsprechend ihrer Wichtigkeit fur die Forschungsfrage umrissen.

Robert Castel spricht in seinem Werk „Prekaritat, Abstieg, Ausgrenzung - Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts" von der Wiederkehr der sozialen Unsicherheit und impliziert somit, dass das Phanomen der Prekaritat keine neue Erscheinung sei. Setzt man bei dem Beginn der Industrialisierung an, verkorpert diese beispielhaft einen Zustand der sozialen Unsicherheit. Ein soziales Sicherungssystem durch beispielsweise kollektive Arbeitsrechte oder Tarifvertrage war zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden. Erst mit der Entstehung eines Sozialstaates in der Zeit von 1950 bis 1975 kann von einem Ausbau der kollektiven Rechte gesprochen werden (vgl. Castel, Dorre 2009: 23 ff.; Bundeszentrale fur politische Bildung 2013).

Mit der traditionellen Arbeitsgesellschaft der Nachkriegszeit, die gekennzeichnet war durch eine fordistische Arbeitsweise1 und Vollbeschaftigung, bildete sich aufgrund des starken Wirtschaftswachstums der 1950er und 1960er Jahre, die sich durch Massenproduktion und Massenkonsum auszeichneten, das Normalarbeitsverhaltnis (s. Abschnitt 2.1.1) heraus und der Ausbau der sozialen Leistungen begann (vgl. Hirsch-Kreinsen 2008: 33 ff.; vgl. Bundeszentrale fur politische Bildung 2013). Die Zeit zwischen 1950 und 1970 wird daher auch als das „Goldene Zeitalter" des Sozialstaates bezeichnet (vgl. ebenda). Wichtige Gesetze der expansiven Sozialpolitik dieser Zeit waren z.B. das Kundigungsschutzgesetz von 1951, das Lohnfortzahlungsgesetz und Arbeitsforderungsgesetz von 1969 oder auch das Bundessozialhilfegesetz von 1961 (vgl. Backer u.a. 2008a: 57 ff.).

Seit Mitte der 1970er Jahre stagnierte der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme und eine gegenlaufige Dynamik setzte ein (vgl. Castel, Dorre 2009: 23 ff.). Ausgelost wurde diese Entwicklung durch den Ruckgang des Wirtschaftswachstums, das daraus resultierende Einsetzen der Wirtschaftskrise sowie maRgebliche politische Entscheidungen, die eine Entwicklung hin zum Neoliberalismus2 zeigten (vgl. Hirsch-Kreinsen 2008: 43 f.; vgl. Bundeszentrale fur politische Bildung 2013).

Der nicht zu stoppende Abschwung der deutschen Wirtschaft in den 70er Jahren, dessen zentrale Ursachen vorwiegend in der Sattigung der Nachfrage, wachsender internationaler Konkurrenz sowie in der Zunahme technologischer Innovationen lagen, hatte das Ende der expansiver Sozialpolitik zur Folge (vgl. Hirsch-Kreinsen 2008: 43 f.; vgl. Frevel, Dietz 2004: 37). Megatrends wie die Tertiarisierung, Globalisierung und der technologische Wandel erforderten eine Anpassung der Arbeitsgesellschaft und die Umstrukturierung des Sozialstaates.

Die globale Offnung der Markte erhohte den Konkurrenz- und Kostendruck fur Unternehmen und erforderte Flexibilisierungsmoglichkeiten des noch stark regulierten deutschen Arbeitsmarktes (vgl. Hirsch-Kreinsen 2008: 43 ff.). Durch die Anderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen kristallisierte sich die Tendenz zur Entkollektivierung und Re-Individualisierung von sozialen Rechten und Risiken heraus (vgl. Castel, Dorre 2009: 23 ff.). Man begann eine neoklassische Angebotspolitik zu verfolgen und mit dem Beschaftigungsforderungsgesetz von 1985 erstmals atypische Beschaftigungen direkt zu fordern (vgl. Mayer-Ahuja 2003: 40 ff.). Seither vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel von der traditionellen Arbeitsgesellschaft hin zur flexiblen, der gekennzeichnet ist durch Deregulierung, Privatisierung und Okonomisierung (vgl. Galuske 2002: 194 ff.).

Gesetzliche Reglungen wie z.B. die Reform der Bundesanstalt fur Arbeit von 1994, das Wachstums- und Beschaftigungsforderungsgesetz von 1996 und auch die Hartz-Gesetze, die schrittweise von 2003 bis 2005 in Kraft traten, zielten auf die Forderung von atypischen Beschaftigungsverhaltnissen ab (vgl. Backer u.a. 2008a: 57 ff.).

Begunstigt durch diese Veranderung der Rahmenbedingungen zeichnete sich ab 1991 ein Anstieg der atypisch Beschaftigten ab, der seit 2013 zu stagnieren scheint. Indessen zeigte sich eine gegenlaufige Entwicklung bei den Beschaftigten in einem Normalarbeitsverhaltnis, die sich als kontinuierlicher Ruckgang im Zeitraum von 1991-2005 beschreiben lasst (s. Abbildung 3) (vgl. Schulze-Buschoff, Seifert 2017: 6 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Entwicklung der Normalbeschaftigung vs. Atypische Beschaftigung (1991-2015) (eigene Darstellung, vgl. Statistische Bundesamt 2017c)

Laut aktueller Daten des Statistischen Bundesamts verdoppelte sich der Anteil der atypisch Beschaftigen an der Gesamtbeschaftigung im Zeitraum von 1990 bis 2015, sodass auch von einer Zunahme der Beschaftigungsverhaltnisse mit prekarem Potenzial ausgegangen werden kann (vgl. Schulze-Buschoff, Seifert 2017: 6 f.). Auch wenn nicht zwangslaufig von einer Erosion des Normalarbeitsverhaltnisses gesprochen werden kann, bilden sich Wirtschaftszweige mit hoherem prekarem Potenzial und rucklaufigen Anteilen des Normalarbeitsverhaltnisses heraus.

Betrachtet man den Wirtschaftszweig „Handel“, der Grundlage dieser Arbeit ist, so sind in diesem mit 15,5 % (2012) mit am haufigsten atypische Beschaftigte tatig (Statistische Amter des Bundes und der Lander 2012). Seit 1997 verzeichnet dieser Wirtschaftszweig rucklaufige Zahlen des prozentualen Anteils Beschaftigter in einem Normalarbeitsverhaltnis. Waren 1997 noch 78 % in einem Normalarbeitsverhaltnis tatig, sind es 2016 nur noch 67 % (s. Tabelle 2) (vgl. Statistisches Bundesamt 2008).

Anteile in Prozent*

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Entwicklung des Normalarbeitsverhaltnis und der atypisch Beschaftigten im dem ausgewahlten Wirtschaftszweig "Handel" (eigene Darstellung, vgl. Schulze- Buschoff, Seifert 2017: 9; Statistisches Bundesamt 2008, Statistisches Bundesamt 2017d)

Der mit Abstand groRte Anteil der atypisch Beschaftigten im Handel entfallt auf die Teilzeitarbeit (16,8 %), gefolgt von Minijobs (8,2 %) (vgl. Statistisches Bundesamt 2017c). Erklarungen dafur bieten vorwiegend die wirtschaftsstrukturellen Besonderheiten dieser Branche, aber auch soziodemografische Merkmale. Eine stark schwankende Arbeitsnachfrage durch z.B. Spitzenbedarf an Wochentagen oder nur kurze benotigte Einsatzzeiten fur z.B. Verraumen der Waren erfordern temporale Flexibilitat und Lohnkostenvorteile, sodass ein hoher Anteil atypischer Beschaftigung die Folge ist (vgl. Schulze-Buschoff, Seifert 2017: 12).

Die betrachtliche Frauendominanz der Branche (70 %) liefert eine weitere Erklarung fur den hohen Teilzeitanteil (vgl. Deutscher Bundestag 2013: 2). Da Frauen sich vorzugsweise fur kurzere Arbeitszeiten aufgrund von Kinderbetreuung oder familiarer Verpflichtungen entscheiden, findet man eine starke Auspragung der Teilzeitbeschaftigten in der Branche (vgl. Schulze-Buschoff, Seifert 2017: 12). Auch die vergleichsweise einfache Substituierbarkeit der Arbeitskrafte aufgrund geringerer Aufgabenkomplexitat der Tatigkeit forderte den Ausbau der atypischen Beschaftigung im Handel (vgl. Keller, Seifert 2007: 33). GemaR dem Motto „Hire and Fire" sind eine langfristige Bindung und sorgfaltige Selektion nach Qualifikation, Motivation oder auch betrieblicher Sozialisation nicht notwendig, sodass die Arbeitskrafte beliebig und schnell ausgetauscht werden konnten (vgl. ebenda: 50-52).

2.3 Ursachen fur die Entwicklung von Prekaritat

Nachdem im vorangegangenen Kapitel ein Uberblick uber Historie und Entwicklungsdynamik der Prekarisierung gegeben wurde, geht es in diesem Kapitel um die Ursachenforschung. Die bereits thematisierten Ursachen des Prekarisierungsprozesses im Zuge der Darstellung des historischen Kontextes sollen im Folgenden detaillierter herausgearbeitet werden.

Dabei zeigen sich die aktuellen Anderungstendenzen vorzugsweise in den Bereichen Arbeitswelt, Sozialstaat sowie Geschlechterverhaltnis und werden in dieser Arbeit in den folgenden drei Abschnitten dargestellt: Veranderungstendenzen der Arbeitswelt (Kapitel 2.3.1), neoliberale Politik (Kapitel 2.3.2) und Veranderung von Geschlechter- und Familienverhaltnissen (Kapitel 2.3.3). Fur diese unterschiedlichen Ansatze von Erklarungen fur die Ursachen von Prekarisierung sei noch wichtig zu erwahnen, dass es sich hierbei um komplexe Wirkungszusammenhange handelt, die keine monokausale Erklarung bieten, sondern vielmehr einen kompletten Wirkkomplex darstellen (vgl. Galuske 2002: 141 f.).

2.3.1 Die Veranderungstendenzen der Arbeitswelt

Zu den festen Parametern der modernen Arbeitsgesellschaft zahit die standige Veranderung. Digitalisierung der Arbeitswelt und technoiogischer Wandei, Giobaiisierung der Wirtschaft mit der Internationaiisierung der Markte sowie soziaistruktureiie Veranderung der Angebotsseite des Arbeitsmarkte und Tertiarisierung der Wirtschaft steiien Veranderungstendenzen dar, die Auswirkungen auf die Arbeitsweit und die Beschaftigungsverhaitnisse haben (vgi. Schmid 2010). Besonders die Ausweitung der atypischen Beschaftigung und in diesem Zusammenhang die zunehmende Prekarisierung steiien u.a. Foigen der Veranderungstendenzen der Arbeitsweit dar (vgi. Schuize-Buschoff, Seifert 2017: 9 f.).

In diesem Abschnitt werden im Einzeinen die Makroargumente wie die Tertiarisierung der Wirtschaft, die Giobaiisierung und die Veranderung der Angebotsseite des Arbeitsmarktes ais mitverantwortiiche, treibende Krafte hinter der zunehmenden Prekarisierung herausgearbeitet.

Tertiarisierung der Wirtschaft - Der Strukturwandel

Die deutsche Voikswirtschaft verzeichnet seit Jahrzehnten einschneidende Strukturveranderungen, sodass sich ihr Erscheinungsbiid bis hin zum heutigen Zeitpunkt deutiich verandert hat (vgi. Statistisches Bundesamt 2009). Eine entscheidende Strukturveranderung beschreibt u.a. die Tertiarisierung der Wirtschaft, die sich ais der Wandei von einer Industriegeseiischaft hin zur Dienstieistungsgeseiischaft definieren iasst (vgi. Kuhi 2014). Waren 1990 iedigiich 56,8 % der Beschaftigten in Deutschiand im Dienstieistungssektor tatig, betragt der Anteii 20 Jahre spater bereits 73,5 % (2010) (vgi. Gaiuske 2002: 167; vgi. Bosch, Weinkopf 2011: 439). Dabei fiei der Anteii des sekundaren Sektors von 36,6 % (1990) auf aktueii 24,2 % (2016) (vgi. Statistisches Bundesamt 2017e) (s. Tabeiie 3).

Anteiie in Prozent*

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: Beschaftigte in Deutschland nach Sektoren (1950-2016)(eigene Darsteiiung, vgi. Statistisches Bundesamt 2017e)

Die Grunde fur den Bedeutungszuwachs des Dienstieistungssektors und die spiegeibiidiiche Abnahme des Industrieiiensektors iiegen sowohi in der Angebots- ais auch in der Nachfrageseite der Wirtschaft. Ais Erkiarungsansatze werden vorwiegend foigende Argumente angefuhrt:

1. sektorale Produktivitatsunterschiede: Mithilfe technologischer Innovationen vollzog sich im sekundaren Sektor (= verarbeitendes Gewerbe) eine hohe Produktivitatssteigerung, die die Freisetzung von Arbeitskraften zur Folge hatte (vgl. Hartmann 2013: 171f.).
2. Nachfragewandel: Mit steigendem Realeinkommen und Wohlstand entsteht der Wunsch nach Dienstleistungen wie z.B. Reisen, Kinderbetreuung oder auch Reinigung (vgl. Hardege 2008: 12).
3. Herausbildung eines gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozesses: Die steigende Komplexitat der Produkte hat die Expansion der produktionsbegleitenden Dienstleistungen wie z.B. Wartungs- und Reparaturarbeiten zur Folge (vgl. Hartmann 2013: 173f.).
4. Outsourcing: Die Auslagerung der Unternehmen mit einfachen Dienstleistungen wie z.B. Reinigung oder Kantine, die aus Kostengrunden erfolgen, fuhrt mit zum steigenden Beschaftigungsanteil im tertiaren Sektor (vgl. Kuhl 2014).

Diese Strukturverschiebung und der damit verbundene Bedeutungszuwachs des tertiaren Sektors haben weitreichende Folgen fur die Qualitat und Struktur der Beschaftigungsverhaltnisse (vgl. Bosch, Weinkopf 2011: 439). Eine Verfestigung von geringen Lohnen und eine Ausdehnung der atypischen Beschaftigung sind besonders im Dienstleistungssektor zu beobachten (vgl. ebenda). In einigen Bereichen des tertiaren Sektors gehort die prekare Beschaftigung zum Regelfall und manche Dienstleistungstheorien sprechen sogar von einer Erosion des Normalarbeitsverhaltnisses (vgl. ebenda). Grunde fur die Anfalligkeit des Dienstleistungssektors fur Beschaftigungsverhaltnisse mit prekarem Potenzial liegen besonders in der Beschaffenheit der Branche3 (vgl. Hartmann 2013: 171 f.). Ihre geringen Moglichkeiten zur Rationalisierung und Produktivitatssteigerung fuhren zu einer gebremsten Lohnentwicklung (vgl. ebenda). William Baumol (1922-2017) beschreibt dieses Strukturproblem moderner Industriegesellschaften als „Kostenkrankheit" (vgl. Bosch, Weinkopf 2011: 439). Nach Baumol stagniert die Produktivitat in der Dienstleistungsbranche weitestgehend, wohingegen der sekundare Sektor eine Produktivitatssteigerung verzeichnet (vgl. Rimbert 2013). Um keinen Qualitatsverlust zu erleiden und trotz unterschiedlicher Produktivitatsniveaus orientieren sich die Einkommen im tertiaren Sektor an der Einkommensentwicklung in dem verarbeitenden Gewerbe (vgl. Hartmann 2013: 171 f.). Die gestiegenen Kosten in der Dienstleistungsbranche, die weniger durch Produktivitatssteigerung ausgeglichen werden konnen, werden zunachst auf den Verbraucher abgewalzt bzw. durch KostensenkungsmaRnahmen mithilfe der Nutzung atypischer Beschaftigung zu kompensieren versucht (vgl. Bosch, Weinkopf 2011: 439 f.; vgl. Hartmann 2013: 171 f.). Diese beschriebenen Rationalisierungsbarrieren finden sich jedoch nicht in jedem Bereich der Dienstleistungsbranche gleichermaRen wieder (vgl. Hartmann 173 f.). Neue Informations- und Kommunikationstechnologien fuhren auch im tertiaren Sektor zu Rationalisierungspotenzialen (vgl. ebenda). Allerdings fuhrt diese Entwicklung weniger zur Senkung der Nutzung prekarer Arbeitsverhaltnisse, sondern resultiert vielmehr in einer Umwandlung zur Selbstbedienungsgesellschaft (vgl. ebenda).

Globalisierung

„Globalisierung ist sicher das am meisten gebrauchte - missbrauchte - und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverstandlichste, nebuloseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-) Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre."

Beck (1997)

Um Globalisierung als eine der treibenden Krafte fur die Expansion der Prekarisierung verorten zu konnen, ist es wichtig, den Terminus zu definieren. Globalisierung hat ab den 1990er Jahren massiv an Bedeutung gewonnen und, wie das Zitat von Ulrich Beck zeigt, seither auch Missverstandnis hinsichtlich seiner Bedeutung geschurt, sodass eine Begriffsbestimmung an dieser Stelle sinnvoll scheint (vgl. Pries 2013: 240-242).

Eine gangige Definition der wissenschaftlichen Literatur biete Anthony Giddens, der Globalisierung wie folgt beschreibt:

„Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgange gepragt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt." (Giddens 1995: 85)

Allgemein gesprochen meint Globalisierung den Prozess der landerubergreifenden Verflechtungsbeziehungen, der in verschiedenen Dimensionen greift und auch starken Einfluss auf den deutschen Arbeitsmarkt hat (vgl. Pries 2013: 240-245; vgl. Hardege 2008: 14). Der wachsende internationale Konkurrenzdruck und das gestiegene globale Arbeitsangebot fuhren zu erweiterten Moglichkeiten der Nutzung des weltweiten Arbeitskraftepotenzials durch z.B. Verlagerung der Produktionsstatte in ein kostengunstiges Ausland oder auch durch die Immigration von Arbeitskraften. Fur die Unternehmen bedeutet dies, interne und externe Flexibilisierungsstrategien entwickeln zu mussen (vgl. Hardege 2008: 14-16; vgl. Hirsch-Kreinsen 2008: 44 f.). Dabei versteht man unter externer Flexibilitat eine uber den Markt vollzogene Flexibilisierungsstrategie, die sich auf AnpassungsmaRnahmen auRerhalb des Betriebes bezieht, wie beispielsweise Arbeitskrafte uber Leiharbeitsfirmen zu rekrutieren und so nur zeitweise zu beschaftigten (vgl. Keller, Seifert 2007: 29 f.). Interne Flexibility hingegen beschreibt die Anpassungsmoglichkeiten innerhalb eines bereits bestehenden Beschaftigungsverhaltnisses durch z.B. den Gebrauch von Uberstunden (vgl. ebenda). Produktivitats- und Outputsteigerungen, aber auch Lohnspreizung und Prekarisierung sind u.a. Folgen der Globalisierung (vgl. Hardege 2008: 14-16). Unternehmen leiden unter einem enormen Kostendruck aufgrund des durch die Globalisierung entstehenden internationalen Wettbewerbs und versuchen ihre Einsparungsmoglichkeiten auszuschopfen, um am Markt bestehen zu konnen (vgl. Keller, Seifert 2007: 29 f.). Eine kostensenkende Kombination von Flexibilisierungsstrategien mindert den Stellenwert des Normalarbeitsverhaltnisses und treibt die atypische und prekare Beschaftigung voran (vgl. ebenda).

Veranderung der Angebotsseite des Arbeitsmarktes

Die Veranderung der Angebotsseite des Arbeitsmarktes, besonders die gestiegene Erwerbsbeteiligung der Frauen, stellt eine weitere wichtige Veranderungstendenz des Arbeitsmarktes in Bezug auf die Prekarisierungsdebatte dar.

Seit den 1980er Jahren erlebt Deutschland eine kontinuierliche Expansion der Frauenerwerbsbeteiligung (vgl. Sacher 2005: 479). Waren 1980 lediglich 48,3 % der Frauen berufstatig, stieg die Erwerbstatigenquote der Frauen bis 2016 auf 70,6 % an (vgl. Sacher 2005: 482; Statistisches Bundesamt 2017 f). Bei den Mannern ist eine gegenlaufige Entwicklung zu beobachten (vgl. ebenda). Hier sank die Erwerbstatigenquote von 82,5 % (1980) auf 78 % (2016), sodass sich eine Tendenz zur Annaherung beider Geschlechter beobachten lasst (s. Abbildung 4) (vgl. ebenda).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Erwerbstatigenquoten von Frauen und Mannern in Deutschland (1980-2016), in % (eigene Darstellung; vgl. Statistische Bundesamt 2017f; vgl. Sacher 2005: 482).

Grunde fur die Angleichung der Teilhabe am Erwerbsleben der Geschlechter liegen besonders im sozialen Wandel, der die Erosion des mannlichen Familienernahrer-Modells und die Pluralisierung der Lebensformen beschreibt, aber auch in der Bildungsexpansion4 und der okonomischen Notwendigkeit aufgrund des demografischen Wandels5 (vgl. Klammer u.a. 2012: 22-25). Eine weiterfuhrende Betrachtung des sozialen Wandels erfolgt in Abschnitt 2.3.3 die Veranderung von Geschlechter- und Familienverhaltnissen, sodass an dieser Stelle auf eine nahere Darstellung der Zusammenhange verzichtet wird.

Besonders hervorzuheben ist die Zunahme der Frauenerwerbsbeteiligung in atypischen Beschaftigungsverhaltnissen wie Teilzeit oder Minijobs, sodass den Frauen auch zum heutigen Zeitpunkt primar die Rolle der Zuverdienerin zugeschrieben wird (vgl. Klammer u.a. 2012: 22-25). Ein wichtiger Grund fur die Entscheidung, eine Teilzeittatigkeit auszuuben, stellt fur die Frauen die Familienpflicht dar (vgl. Statistisches Bundesamt 2017g). 2016 gaben 28,5 % der teilzeitbeschaftigten Frauen die Betreuung von Kindern oder pflegebedurftigen Personen als Grund fur ihre Teilzeit an und 18,6 % sonstige familiare oder personliche Verantwortungsbereiche (vgl. ebenda). Allerdings belauft sich die Zahl der unfreiwillig Teilzeitbeschaftigten auch 2016 noch auf 11,2 % und liegt damit noch deutlich uber der Zahl von 1991 (5,4 %) (vgl. ebenda). Fur die Prekarisierung bedeutet dies demzufolge, dass die erhohte Frauenerwerbsbeteiligung freiwillig, aber auch unfreiwillig bevorzugt in atypische Beschaftigungsformen mit prekarem Potenzial mundet.

2.3.2 Die neoliberale Politik

Die rasanten okonomischen und gesellschaftlichen Veranderungen in den 1980er und 1990er Jahren in Deutschland bewirkten die wirtschaftspolitische Umkehrung von der keynesianischen Sichtweise hin zur neoliberalen Lehre und waren gekennzeichnet von Deregulierung und Privatisierung (vgl. Wirtschaftslexikon 2015; vgl. Galuske 2002: 144).

Dabei versteht man unter Deregulierung die Reduktion staatlicher Eingriffe in das Marktgeschehen mit dem Ziel, Entscheidungsspielraume herzustellen, die das wirtschaftliche Wachstum fordern und den Wettbewerb verstarken (vgl. Bundeszentrale fur politische Bildung 2016). Da Deregulierung die Marktabhangigkeit der Akteure gefordert, hat sie u.a. zur Folge, dass die Beschaftigungsverhaltnisse in ihrem Prekaritatspotenzial steigen und Arbeitslose zwingen, weniger geschutzte Arbeitsverhaltnisse einzugehen (vgl. Galuske 2002: 194-196).

Privatisierung als zweiter zentraler Bestandteil neoliberaler Politik meint die Umwandlung von staatlichen in privaten Besitz, umso Wettbewerb zu begunstigen und durch Auflosung von Monopolen Unternehmen den Markteintritt zu erleichtern (vgl. Bundeszentrale fur politische Bildung 2016; vgl. Galuske 2002: 144). Aufterdem schafft sie Konkurrenz durch private, gewinnorientierte Mitbewerber, die Effizienzsteigerung und Okonomisierungsdruck auslosen (vgl. Galuske 2002: 144).

Eine Auswirkung der neoliberalen Sichtweise stellt fur Deutschland der in der Mitte der 1990er Jahre begonnene Um- und Abbau des Sozialstaates dar, der eine Reihe von Anderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen vor allem im Arbeitsrecht und bei den Lohnkosten zur Folge hatte (vgl. Backer u.a. 2000: 40). Das nicht langer tragbare hohe Leistungsniveau der sozialen Sicherung sowie die notwendige Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfahigkeit Deutschlands waren vorwiegend die Schlusselargumente fur die Deregulierung (vgl. Wirtschaftslexikon 2015; vgl. Backer u.a. 2000: 40). Es galt die uberhohten Sozialstandards zu verringern, umso die Anreize fur die Ubernahme von Arbeit zu verbessern und die Arbeitslosigkeit zu senken (vgl. Backer u.a. 2000: 40).

Die gesetzlichen Anderungen zur Forderung atypischer Beschaftigung

Im folgenden Abschnitt werden die gesetzlichen Anderungen zur Forderung von atypischer Beschaftigung dargestellt und deren Strategien im Sinne der neoliberalen Politik herausgearbeitet. Dabei wird sich auf die fur die Prekarisierungsdebatte relevanten Aspekte beschrankt und chronologisch vorgegangen (s. Abbildung 4).

Mit dem „Gesetz uber arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschaftigungsforderung" von 1985 unterstutzte der deutsche Gesetzgeber erstmals den Ausbau atypischer Beschaftigung und schuf gesetzliche Anreize, indem z.B. die Befristung ohne Sachgrund gestattet wurde (vgl. Mayer-Ahuja 2003: 47 f.; vgl. Ludwig- Mayerhofer, Stephan 2014: 384). Auch die Verlangerung der Uberlassungsdauer fur Leiharbeit (laut aktuellem Stand) auf 12 Monate erhohte die gesetzlichen Spielraume fur eine externe Flexibilitat von Unternehmen und begunstigte die Umwandlung von einem Normalarbeitsverhaltnis in eine atypische Beschaftigung (vgl. Mayer-Ahuja 2003: 48-50).

Durch das Gleichbehandlungsgebot von Voll- und Teilzeitbeschaftigten (1985) entstand eine rechtliche Aufwertung der atypischen Beschaftigung Teilzeitarbeit, wodurch job-sharing und kapazitatsorientierte variable Arbeitszeit legitimiert wurden. So sollten im Sinne der neoklassischen Angebotspolitik Unternehmen durch den Gesetzgeber zur Schaffung von Arbeitsplatzen angeregt werden (vgl. Mayer-Ahuja 2003: 48-50). Mit der Lockerung des Kundigungsschutzes durch das Wachstums- und Beschaftigungsforderungsgesetz von 1996 und mit der Erweiterung der „Normalarbeitszeiten" in der Novellierung des Arbeitszeitgesetzes von 1994 beabsichtigte man die interne Flexibilisierung durch die Stammbelegschaft zu verbessern, um Unternehmen so die Moglichkeit zu geben, sich besser an Auftragsschwankungen anzupassen (vgl. ebenda).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Auswahl von Gesetzen zur Forderung von "atypischer" Beschaftigung (Mayer-Ahuja 2003: 48; vgl. Verein fur soziales Leben e.V. 2011).

Besonders groRes Interesse im Zuge der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik und der Prekarisierungsdebatte stellen die vier Gesetze fur moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt (Hartz- Gesetze) dar, die von 2003 bis 2005 in Kraft getreten sind (vgl. Backer u.a. 2008a: 540-542). Ziel dieser umfangreichen Reformierung war es, die Arbeitslosendauer zu verringern und folglich die Arbeitslosigkeit zu senken (vgl. KiRler, Greifenstein 2004: 9). Durch einen schnelleren Ausgleich von Arbeitsangebot und -nachfrage sowie durch die Erhohung der Bereitschaft, Zugestandnisse einzugehen, sollte eine Reduktion der Dauer der Arbeitslosenphasen erreicht werden (vgl. Backer u.a. 2008a: 540-542). Dabei folgten die neuen Reglungen dem Motto „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit" und verstarkten atypische und prekare Beschaftigung besonders durch die Erhohung der Konzessionsbereitschaft aufgrund von Leistungskurzungen der Arbeitslosenunterstutzung im Rahmen von Hartz IV (vgl. Bundeszentrale fur politische Bildung 2005; vgl. Rebien, Kettner 2011: 218 f.). Der Druck zur Annahme von unterwertigen Tatigkeiten wurde erhoht und auch die Bereitschaft, Zugestandnisse bei der Entlohnung einzugehen, wurde dadurch verstarkt (vgl. Mayer-Ahuja 2003: 48­50; vgl. Rebien, Kettner 2011: 218 f.).

Der Reformfahrplan, der angelehnt war an die Vorschlage der Hartz-Kommission unter dem Vorsitz von Peter Hartz, sah eine Bandbreite an verschiedenen MaRnahmen vor, die im Folgenden in Bezug auf ihre Wirkung auf die Erhohung von Prekaritat betrachtet werden sollen (vgl. Seifert 2005). Hartz I und Hartz II, die mit Jahresbeginn 2003 in Kraft getreten sind, zielten vorwiegend auf die Forderung atypischer und selbststandiger Beschaftigung ab, indem die Gesetze MaRnahmen wie die Einfuhrung von Personal-Service-Agenturen (PSA) zur Erleichterung der Vermittlung von Leiharbeit, die Erweiterung der Beschaftigungsarten Minijob6 und Midijob sowie die Einfuhrung der Ich-AG7 beinhalteten (vgl. ebenda). Die Neureglungen zu Minijobs, die die Geringfugigkeitsgrenze anhoben und die Beschrankung der maximalen Arbeitszeit von 15 Std/Woche aufhoben, hatten die Ausweitung flexibler Beschaftigung und somit auch prekarer Beschaftigung zur Folge (vgl. Ludwig- Mayerhofer, Stephan 2014: 384 f.; vgl. KiRler, Greifenstein 2004: 10 f.). Besonders die atypischen Beschaftigungen Minijobs und Leiharbeit zeigen ein hohes MaR an Unsicherheit auf (vgl. Seifert 2005). Zum einen die Minijobs aufgrund ihrer geringen Beitrage zur Sozialversicherung und zum anderen die Leiharbeit aufgrund ihrer hohen Beschaftigungsunsicherheit (vgl. ebenda). Dieses prekare Potenzial lasst sich besonders im Wirtschaftszweig Handel beobachten, wo Unternehmen die bewusst vom Gesetzgeber geschaffenen Moglichkeiten nutzen und ein Substitutionseffekt eintritt (vgl. ebenda) (s. Kapitel 2.2).

Hartz III umfasst u.a. den Umbau der Bundesanstalt fur Arbeit in die Bundesagentur fur Arbeit mit dem Ziel, ein modernes Dienstleistungsunternehmen zu bilden, das eine optimale Vermittlung Arbeitssuchender sicherstellen wurde (vgl. Seifert 2005; vgl. KiRler, Greifenstein 2004: 11). Mit Hartz IV, das das bekannteste Gesetz der Reform darstellt, fuhrte man Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen und verkurzte die Bezugsdauer des „neuen" Arbeitslosengeldes I auf den Zeitraum von einem Jahr (vgl. Seifert 2005). Diese Anderungen durch die Hartz-Gesetze III und IV folgten dem Leitsatz „Fordern und Fordern" und sollten die Eigenverantwortung der Arbeitssuchenden auslosen und mit Sanktionen bei regelabweichendem Verhalten verbinden (vgl. Butterwegge 2006: 187). Der Ausdruck des „Forderns" findet sich besonders in Hartz IV, das nicht nur die Bezugsdauer des „neuen" Arbeitslosengelds I verkurzt, sondern auch Sperrzeiten und Sanktionen erhoht (vgl. Backer u.a. 2008a: 541). Das Fordern bezieht sich vorzugsweise auf MaRnahmen, die Arbeitssuchenden Unterstutzung bei der Integration in den Arbeitsmarkt bieten sollen, wie beispielsweise der Umbau der Bundesagentur fur Arbeit (vgl. ebenda).

Kritisch zu betrachten sei das Konzept dieser aktivierenden Arbeitsmarktpolitik besonders in Bezug auf die Individualisierung der Problematik der Arbeitslosigkeit, die hier vorrangig als Problem ungenugender Arbeitsmotivation dargestellt wird (vgl. Seifert 2005). AuRer Betracht gelassen werden u.a. die begrenzte Handlungsautonomie der Betroffenen sowie Folgen in Bezug auf die soziale Sicherung (vgl. ebenda).

2.3.3 Die Veranderung von Geschlechter- und Familienverhaltnissen

Die vorwiegenden Ursachen von Prekaritat liegen in den Veranderungstendenzen der Arbeitswelt durch die Tertiarisierung der Wirtschaft, der Globalisierung und der Veranderung der Angebotsseite des Arbeitsmarktes, dem Flexibilisierungsstreben der Unternehmen sowie den Rahmenbedingungen, die der Staat durch die Verfolgung der neoliberalen Politik geschaffen hat. Doch einen weiteren relevanten Aspekt fur die zunehmende Prekarisierung stellt die Veranderung von Geschlechter- und Familienverhaltnissen dar.

Bis Anfang der 1960er Jahre entsprach die Rolle der Frau uberwiegend der Hausfrau und Mutter, wogegen dem Mann die Rolle des Familienernahrers zugeschrieben wurde, der durch Erwerbsarbeit die Familie finanziell versorgte (vgl. Klammer u.a. 2012: 22 f.). Bis zum Umbruch der Geschlechterrollen gestaltete sich die Institution Familie nach diesen klaren gesellschaftlichen Normen und auch die sozialstaatliche Absicherung war an dieses Familienmodell angepasst (vgl. Backer u.a. 2008b: 252-254). Ab den 1970er Jahren setzte der soziale Wandel8 ein, der die Auflosung des Leitbildcharakters der Ehe und die zunehmende Diversifizierung der Lebensformen mit sich brachte (vgl. Schneider 2012). Das traditionelle Familienmodell begann sich einer Modifikation zu unterziehen und auch die Vorstellung der Rolle der Frau als lediglich Hausfrau und Mutter wandelte sich mit der zunehmenden Bildungs- und Erwerbsneigung der Frauen (vgl. Backer u.a. 2008b: 252­254). Die wandelnde Lebensorientierung der Frauen und die erweiterten Handlungsspielraume in ihren Erwerbsbiografien fuhrten zu neuen Herausforderungen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (vgl. ebenda).

[...]


1 Der Fordismus ist auf den Amerikaner Henry Ford zuruckzufuhren, der als Erschaffer der fliefcbandgestutzten Massenproduktion gilt und gleichzeitig die Grundidee des Massenkonsums als Methode der Eingliederung der Arbeiterschaft verbreitete. Die Zeit der Weimarer Republik bis in die 1970er Jahre wird daher als Fordismus betitelt (vgl. Galuske 2002, 65).

2 „Im Kern zielt die neoliberale Ideologie auf eine Verschiebung der Krafte- und Machtverhaltnisse von Markt, Staat und privaten Haushalten zugunsten des Marktes" (vgl. Galuske 2002: 144).

3 Insbesondere Uno-actu-Prinzip: Dieses Prinzip besagt, dass Produktion und Inanspruchnahme zur gleichen Zeit stattfinden und beschreibt die inhaltliche Abgrenzung zur Sachleistung (vgl. Wirtschaftslexikon24 2017).

4 Der Anteil der Frauen in akademischen Berufen ist seit 1990 um rund 10 Prozentpunkte gestiegen (2016: 44,5%), sodass eine verbesserte Positionierung am Arbeitsmarkt erfolgt (vgl. Statistisches Bundesamt 2017g).

5 Aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkraftemangels entsteht eine okonomische Notwendigkeit der Frauen sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sodass ihre Teilhabe verstarkt vom Staat gefordert wird (vgl. Klammer u.a. 2012: 22).

6 Minijob bezeichnet eine geringfugige Beschaftigung mit einer Verdienstgrenze von 450 Euro (seit 01.Januar 2013) bzw. einer zeitlichen Begrenzung von max. 70 Tagen im Jahr. Dabei ist ein Minijob fur den Arbeitnehmer steuer- und abgabenfrei und der Arbeitgeber zahlt Pauschalbetrage fur Kranken- und Rentenversicherung (vgl. Minijob-Zentrale 2017).

7 Die Ich-AG wurde am 01.August 2006 eingestellt (vgl. Institut fur Arbeitsmarkt und Berufsforschung 2007).

8 Der soziale Wandel beschreibt die nachhaltige Umgestaltungen der gesellschaftlichen Strukturen und beruhrt entweder die Gesamtgesellschaft oder lediglich Teilbereiche von ihr (vgl. Schimank 2012).

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Atypische Beschäftigungsverhältnisse in der Einzelhandels- und Textilindustrie am Beispiel von H&M
Hochschule
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
91
Katalognummer
V492166
ISBN (eBook)
9783668986138
ISBN (Buch)
9783668986145
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Personalmanagemet, Prekarisierung, Arbeitsmarkt, Beschäftigungswandel, Einzelhandel, Dienstleistungssektor
Arbeit zitieren
Catherina Gagsch (Autor:in), 2018, Atypische Beschäftigungsverhältnisse in der Einzelhandels- und Textilindustrie am Beispiel von H&M, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/492166

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