Roland Schimmelpfennigs "Alice im Wunderland". Postdramatisches Theater oder Wiedererkennung durch eine eigene Handschrift?


Term Paper (Advanced seminar), 2018

22 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Überblick: Postdramatik und Roland Schimmelpfennigs Theatertexte
2.1. Merkmale des postdramatischen Theaters
2.2. Wiederkehrende Elemente in Roland Schimmelpfennigs Theatertexten

3. Textanalyse von Roland Schimmelpfennigs „Alice im Wunderland“
3.1. Im Kontext von postdramatischen Merkmalen
3.2. Im Kontext seines dramatischen ffiuvres

4. Schlussbetrachtung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Ticktackticktack. Uhren. Sekundenzeiger. Weckerklingeln. Ein weißes Kaninchen in Jackett und Weste, panisch in Eile, 'wie immer, und in der Westentasche hat es eine Uhr:

Das weiße Kaninchen rennt vorbei, holt tatsächlich eine Uhr aus seiner Westentasche, blicktdarauf und renntweiter: Panik, Entsetzen, Hektik[1]

(Roland Schimmelpfennig)

„Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer stillzusit­zen und nichts zu tun; denn sie hatte wohl ein- oder zweimal ein Blick in das Buch geworfen, in dem ihre Schwester las, aber nirgends waren darin Bilder oder Unterhaltungen abgedruckt - „und was für einen Zweck haben schließ­lich Bücher“, sagte sich Alice, „in denen überhaupt keine Bilder und Unter­haltungen Vorkommen?“[2]

(Lewis Caroll in der Übersetzung von Christian Enzensberger; Illustration von John Tenniel)

Der Gegenwartsdramatiker Roland Schimmelpfennig wird von Tom Mustroph als „der Vielseitige“ charakterisiert.[3] Vielseitig, da neben atmosphärischen auch wie selbstver­ständlich magische Elemente auftauchen. Zudem handle es sich bei seinen Theatertex­ten nach Christine Laudahn nicht mehr um klassische Dramen. Darin liegen auch die Herausforderung für Literaturwissenschaftler: Roland Schimmelpfennigs Theatertexte lassen sich aufgrund ihrer Vielseitigkeit und ihrer individuellen Textgestaltung nur schwer mit den „normierten Dramenbegriffen erfassen“.[4] Aufgrund des ihm zugeschrie­ben Erfolges vom Verlag als „meistgespielter deutscher Gegenwartsdramatiker“ strebt die Forschung einerseits nach der Einordnung seiner Texte in die historische Dramen­entwicklung und andererseits wird sein ffiuvre auf individuelle Merkmale hin unter­sucht, um ihn im gegenwärtigen Diskurs verorten zu können.

Im Fokus steht insbesondere die Debatte, ob sich Schimmelpfennigs Werke als drama­tisch oder als postdramatisch charakterisieren lassen. Laudahn sieht beispielsweise durchaus postdramatische Elemente in seinen Theatertexten, die jedoch auf einem dra­matischen Bauprinzip beruhen würden.[5] Danijela Kapusta wiederum arbeitet drei Grup­pen heraus, bei denen sie eine Entwicklung von postdramatischen Stücken hin zu freien Texten feststellt.[6] Diese Untersuchungen der Forschung, wie sich Schimmelpfennig im Vergleich zu der allgemeinen Dramenlandschaft verhält, ließe sich erweitern.

Allerdings fällt auf, dass es weder Versuche gibt, all seine Texte zu berücksichtigen, noch wird zwischen deren Art unterschieden: unterschieden insofern, als dass Schim­melpfennig einerseits Theatertexte ohne Vorlage schreibt und andererseits Dramenfas­sungen von erzählten Geschichten vorlegt. Da er überwiegend selbstständig Theater­stücke entwirft, ist es besonders auffällig, wenn ein Roman als direkte Vorlage dient: 2003 uraufgeführt, präsentierte Schimmelpfennig ein Stück, das gekennzeichnet durch den Titel, seine textliche Vorlage im gleichnamigen und weltbekannten Roman Alice im Wunderland (1865) von Lewis Carroll, alias Charles Dogson, fand. Das Mädchen Alice gerät hier in eine ihr fremden Welt und geht aufEntdeckungs- und Selbstfindungsreise. Ann-Kristin Meivers bezeichnet Schimmelpfennigs Alice im Wunderland sehr entschie­den als ein „postdramatisches Theaterstück“.[7] Dabei untersucht sie jedoch vorwiegend das Motiv der Metamorphose im Spannungsfeld von Text und Inszenierung am Theater und im Film, als die Zuschreibung „postdramatisch“ adäquat zu hinterfragen oder argu­mentativ begründet darzulegen. Dies ist zu prüfen, da der hier vorgestellte kurze For­schungsüberblick deutlich ergeben hat, dass sich so eine Zuschreibung bei Schimmel­pfennig durchaus als kontrovers heraussteilen kann.

Aus diesem Grund sollen in der vorliegenden Arbeit zunächst postdramatische Kenn­zeichen zusammengetragen werden, um anschließend Schimmelpfennigs Alice im Wun­derland auf die Verwendung solcher Elementen zu untersuchen. In Erweiterung dieser Fragestellung sollen allgemeine und wiederkehrende Charakteristika von Schimmel­pfennigs Theatertexten erarbeitet werden, um Alice im Wunderland auch im Kontext seines ffiuvres zu betrachten. Der Text bietet die besondere Chance, Merkmale und Prinzipien von Schimmelpfennig zu identifizieren, da Abänderungen der Vorlage direkt nachvollziehbar und auf ihre Intention und Wirkung hin untersuchbar sind:

Denn bereits der hier zitierte Textanfang von Schimmelpfennig nutzt das Vorwissen der Leser, sodass nicht mit dem Setting von Alice im Garten wie bei Caroll, sondern mit dem charakteristischen Bild des personifizierten und verspäteten Häsens begonnen wird, der als Illustration den Originaltext einleitet. So identifizierte Strukturen werden im nächsten Schritt an seine anderen Theatertexte herangetragen, um im Vergleich von Alice im Wunderland mit den Texten ohne Vorlage Interessens- und Themenkomplexe von Schimmelpfennig herauszustellen, die sein Profil erkennbar werden lassen sollen.

2. Überblick: Postdramatik und Roland Schimmelpfennigs Theatertexte

In diesem Kapitel werden sowohl die Kennzeichen des postdramatischen Theaters nach Hans-Thies Lehmann vorgestellt als auch die wiederkehrenden Elemente von Schim­melpfennigs Theatertexten exemplarisch zusammengetragen.[8] Beide Überblicksdarstel­lungen bilden dann die Analysepunkte für Schimmelpfennigs Alice im Wunderland.

2.1. Merkmale des postdramatischen Theaters

„Das «postdramatische Theater» ist die erfolgreichste Marke derjüngeren Theatergeschich­te. Seit zehn Jahren spukt der Begriff, den das gleichnamige Buch von Hans-Thies Leh­mann in die Welt gesetzt hat, durch die Köpfe und Debatten.“[9]

Der Begriff „postdramatisches Theater“ ist besonders durch Lehmann definiert, obwohl Matina Haase darauf verweist, dass bereits 1987 Andrzej Wirth diesen für neu aufkom­mende Theaterformen verwendet hat.[10] Diese neuen Theaterformen seien im Zusam­menhang mit Bewegungen der freien Kunst zu sehen, in der seit den 60er Jahren Perfor­mances auftauchen und der Ausstieg aus dem zweidimensionalen Bild thematisiert wird.[11] Als Auslöser wird die Medialisierung und deren Folgen für einen Gesellschafts­wandel gesehen.[12] Der Terminus „Postdramatik“ versucht diejenigen Theaterformen zu beschreiben, die sich vom dramatischen Theater unterscheiden; wobei es sich nicht um die lineare Ablösung des dramatischen Theaters handelt, sondern vielmehr versucht wird, den Umschwung der 70er bis 90er Jahre deskriptiv zu charakterisieren. Zu unter­scheiden sei dabei zwischen Postdramatischem im Theatertext oder in der Inszenie­rungsweise.[13] Da Meivers bereits die Inszenierungen des nachfolgend behandelten Stücks Alice im Wunderland von Schimmelpfennig analysiert hat, sollen hier nur die Charakteristika von postdramatischen Theatertexten zusammengetragen werden:

Das häufig genannte Merkmal vom postdramatischen Theater ist die Abkehr von einer linearen Handlung. Lehmann setzt in diese Leerstelle die Thematisierung von Zustän­den, die keine lineare Handlung, sondern eine offene Struktur ergeben.[14] Diese können nach Engelhart durch „assoziative Montagen“ oder durch „rhythmische Muster“ mitein­ander verbunden sein.[15] Durch diese Fragmente werden eindeutige Höhepunkte vermie­den, was Lehmann als das Prinzip der Isotonie beschreibt. Daran anknüpfend werden durch die collagenartige und non-hierarchische Reihung Traumstrukturen themati­siert. Hier spielt zum einen die Parataxe eine Rolle, indem einzelne Strukturen nicht eindeutig miteinander in Beziehung gesetzt werden und zum anderen werden die Thea­termittel enthierarchisiert und somit vielmehr als ein Wahrnehmungsangebot, als eine direkte Adressatenlenkung verstanden. In diesem Zusammenhang steht auch der Aspekt der Simultanität, die einerseits für die Enthierarchisiserung sorgt und andererseits auch die ausschnitthafte Wahrnehmung des Betrachters reflexiv thematisiert.[16] Diese hier in­direkt vorhandene Reflexivität spielt auch eine eigenständige Rolle im postdramati­schen Theater, das sich selbst und seine eingesetzten Mittel hinterfragt.[17] Viele der bereits genannten Strategien testen die Grenzen des Theaters aus. Es wird so­wohl mit einer Überfülle oder Überforderung als auch mit einem Mangel an Zeichen und mit Störungen, mit der Stimme als Instrument oder mit einer Fokussierung auf die Schauspieler als Körper anstatt auf deren Handlung gearbeitet.[18] Des Weiteren wird die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit oder die Gegenwärtigkeit der Aufführung zum Thema gemacht („liveness“).[19] Hierbei spielt besonders die Zeit eine Rolle: Die Zeit als Phänomen einer geteilten Erfahrung. Das kann methodisch über die Duration, die Zeitdehnung oder auch durch die Repitition, die Wiederholung verdeutlicht werden. Hier können sowohl ganze Textpassagen, als auch einzelne Themen mehrfach auftau­chen.[20] Lehmann hebt hervor, dass die Funktion der Repition in postdramatischen Thea­terstücken verändert auftaucht: Im dramatischen Theater diente sie der Strukturierung des Textes, doch im postdramatischen Theater kann sie sogar zur „Dekonstruktion der Bedeutung“ führen. Zudem geht es vielmehr um die Thematisierung der Wiederho­lung an sich, als um den Inhalt des Wiederholten.[21]

[...]


[1] Schimmelpfennig, Roland: Alice im Wunderland, in: Theater. Roland Schimmelpfennig. Eine Frau von früher, hrsg. v. Uwe B. Carstensen und Stefanie von Lieven, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2009, S. 511.

[2] Caroll, Lewis: Alice im Wunderland. Mit Illustrationen von John Tenniel. Übersetzung von Christian Enzensberger, 29. Auflage Insel Verlag, Berlin 2017, S. 11.

[3] Vgl. Mustroph, Tom: Der Vielseitige, in: Stück-Werk 3. Arbeitsbuch Theater der Zeit, Berlin 2001, hrsg. v. Christel Weiler undHaraldMüller, S. 133-137.

[4] Vgl. Laudahn, Christine: Zwischen Postdramatik und Dramatik. Roland Schimmelpfennigs Raument­würfe, Tübingen2012, S. 12-13.

[5] Vgl.Ebd., S.ll-12.

[6] Vgl. Kaupusta, Danijela: Personentransformation zur Konstruktion und Dekonstruktion der Person im deutschen Theater der Jahrtausendwende, München 2011, S. 80-81.

[7] Vgl. Meivers, Ann-Kristin: Lewis Carrolls Alices Abenteuer im Wunderland im Medienwechsel - Das Motiv der Metamorphose im literarischen Werk und im postdramatischen Theaterstück Alice im Wunderland von Roland Schimmelpfennig, Wien 2012.

[8] Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999.

[9] Malzacher, Florian: Ein Künstler, der nicht Englisch spricht, ist kein Künstler, in: Theater heute. Das süße Versprechen der Postdramatik. Seit 10 Jahren beherrscht das Schlagwort die Debatte - pro und contra, 2008, S. 6.

[10] Vgl. Haase, Martina: Postdramatisches Theater, in: Einführung in die Sprachwissenschaft, hrsg. v. Ines Bode, Türbingen 2013, S. 1 (online als pdf. verfügbar).

[11] Vgl. Engelhart, Andreas: Das Theater der Gegenwart, München 2013, S.61.

[12] Vgl. Haase 2013, S. 2.

[13] Vgl. Deutsch-Schreiner Evelyn: Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wien 2016, S. 316. Vgl. Haase 2013, S. 2., S. 6.

[14] Vgl. Lehmann 1999, S. 113. Vgl. Deutsch-Schreiner 2016, S. 317. Vgl. Engelhart 2013, S. 71.

[15] Vgl. Engelhart 2013, S. 71.

[16] Vgl. Lehmann 1999, S. 125, S. 142-143, S. 149-150.

[17] Vgl. Deutsch-Schreiner 2016, S. 317.

[18] Vgl. Lehmann 1999, S. 154-155.

[19] Vgl. Deutsch-Schreiner 2016, S. 317.

[20] Vgl. Lehmann 1999, S. 327-334. Anmerkung: Neben dem Thema der Zeit spielen auch die veränder­ten Raum- und Körperdarstellung in der Postdramatik eine Rolle. Da diese Themenjedoch in Bezug auf das Stück Alice im Wunderland von Roland Schimmelpfennig bereits durch Ann-Kristin Meivers und durch Christine Laudahn untersucht wurden, werden diese Aspekte nicht weiter vertiefend be­trachtet.

[21] Vgl. Ebd., S. 336-337.

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Details

Title
Roland Schimmelpfennigs "Alice im Wunderland". Postdramatisches Theater oder Wiedererkennung durch eine eigene Handschrift?
College
Christian-Albrechts-University of Kiel
Grade
1,0
Author
Year
2018
Pages
22
Catalog Number
V493907
ISBN (eBook)
9783668999657
ISBN (Book)
9783668999664
Language
German
Keywords
Roland Schimmelpfennig, Drama, Theater, Alice im Wunderland, Modernes Theater, Moderne Dramatik
Quote paper
K. Vell (Author), 2018, Roland Schimmelpfennigs "Alice im Wunderland". Postdramatisches Theater oder Wiedererkennung durch eine eigene Handschrift?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/493907

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