Die Bücher Ruth und Esther der Bibel. Interpretation und Vergleich


Proyecto/Trabajo fin de carrera, 2005

91 Páginas, Calificación: 1,5


Extracto


Inhalt

I Einleitung

DAS BUCH RUTH
A Einleitung in das Buch Ruth
1. Eckdaten zum Buch
a) Gattung
b) VerfasserIn
c) Einheit und Datierung
2. Stellung im Kanon
3. Rechtlicher und sozialer Hintergrund
3.1 Leviratsehe (Jibum)
3.2 Der Löser (Goel)
3.3 Das Armenrecht
3.4 Die rechtliche und soziale Lage von Witwen
3.5 Fremde und Mischehen
4. Das Volk Israel und die Moabiter
B Kommentierung
1. Kapitel 1 Ruth und Noomi kehren nach Bethlehem zurück (1, 1 - 22)
1.1 Exposition (1, 1 - 5)
1.2 Auf dem Weg von Moab nach Bethlehem (1, 6 - 19a)
1.3 Ankunft in Bethlehem (1, 19b - 22)
2. Kapitel 2 Ruths Dienst (2, 1 - 23)
2.1 Das eröffnende Gespräch zwischen Ruth und Noomi (2, 1 - 3)
2.2 Ruth begegnet Boas (2, 4 - 17)
2.3 Das deutende Gespräch zwischen Ruth und Noomi (2, 18 - 23)
3. Kapitel 3 Die nächtliche Begegnung zwischen Ruth und Boas (3, 1 - 18)
3.1 Noomi hat einen Plan (3, 1 - 6)
3.2 Ruth geht nachts zu Boas auf die Tenne (3, 7 - 15)
3.3 Deutendes Gespräch zwischen Noomi und Ruth (3, 16 - 18)
4. Kapitel 4 Die „Lösung“ (4, 1 - 22)
4.1 Die Verhandlung im Tor (4, 1 - 12)
4.2 Die Heirat und die Geburt von Obed (4, 13 - 17)
4.3 Der Stammbaum von Perez bis David (4, 18 - 22)
C Mögliche Intentionen des Buches
1. Theologische Perspektive
2. Feministische Perspektive

DAS BUCH ESTHER
A Einleitung in das Buch Esther
1. Eckdaten zum Buch
a) Gattung
b) Historizität, Datierung und Einheit
2. Stellung im Kanon
3. Das Purimfest
4. Das Volk Israel und die Perser
B Kommentierung
1. Vorgeschichte (1, 1 - 2, 23)
1.1 Das Festgelage und die Verstoßung der Königin Vashti (1, 1 - 22)
1.2 Die Erhebung Esthers zur Königin (2, 1 - 20)
1.3 Mordechai rettet dem König das Leben (2, 21 - 23)
2. Hauptteil (3, 1 - 9, 19)
2.1 Der Beginn des Konflikts zwischen Haman und Mordechai (3, 1 - 15)
2.2 Esther erfährt von dem Anschlag Hamans (4, 1 - 17)
2.3 Das erste Gastmahl Esthers (5, 1 - 8)
2.4 Die zweite Auseinandersetzung zwischen Haman und Mordechai (5, 9 - 14)
2.5 Mordechais Belohnung (6, 1 - 13)
2.6 Das zweite Gastmahl Esthers (6, 14 - 8, 2)
2.7 Das Geschick der Juden wendet sich (8, 3 - 17)
2.8 Triumph der Juden (9, 1 - 19)
3. Ergebnis (9, 20 - 10, 3)
3.1 Die Einsetzung des Purimfestes (9, 20 - 32)
3.2 Schlussbetrachtung (10, 1 - 3)
C Mögliche Intentionen des Buches
1. Theologische Perspektive und Relevanz
2. Frauenperspektive
IV Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Erklärung

I Einleitung

„Wie und für wen sollen Ruth und Esther denn vorbildlich sein?“ fragte mich zu Beginn ein Freund, als ich ihm von meinem Thema „Ruth und Esther – zwei „vorbildliche“ Frauengestalten“ erzählte. Ähnlich wie er denken wohl viele Christen, da beide Texte scheinbar einzig die Juden betreffen, auf den ersten Blick wenig mit der Lebenswirklichkeit von Christen heute zu tun haben und in beiden Geschichten Gott nicht aktiv handelt, bei Esther sogar mit keiner Silbe erwähnt wird.

Das Buch Ruth und das Estherbuch, welche beide zu den fünf Megilloth zählen, sind die beiden einzigen Bücher der Bibel, welche einen Frauennamen tragen. In diesen Geschichten wird auf unterschiedliche Art und Weise von Frauen berichtet, die sich durch ihre Kompromisslosigkeit auszeichnen und auch in einer scheinbar hoffnungslosen Lage nicht aufgeben.

Mir war daran gelegen, mich im Rahmen der Examensarbeit mit biblischen Texten auseinanderzusetzen. Ich habe mich für das Thema entschieden, da ich es als interessant ansah, herauszufinden, was der Grund für die Aufnahme dieser beiden Bücher in den Kanon war und welche Aussagen für Juden und für Christen sich hinter den beiden Büchern verbergen. Zum einen ist es sehr ungewöhnlich gewesen, Bücher, die einen Frauennamen tragen, in den Kanon des Alten Testaments aufzunehmen; die Frau war zur Zeit des Alten Israels stets dem Mann untergeordnet und verfügte nur über wenig Rechte. Zum anderen spielt bei Ruth eine Nicht-Israelitin die Hauptrolle und außerdem ist Gott in beiden Büchern nicht direkt aktiv und wird bei Esther sogar kein einziges Mal erwähnt.

Aus von mir geführten Gesprächen mit anderen und aufgrund der nur geringen Menge an Literatur lässt sich schließen, dass das Estherbuch nur sehr wenig bekannt ist, im Gegensatz zum Ruthbuch, das nicht nur durch den so oft zitierten Vers Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. [...] (V 16) vielen geläufig ist. Nachdem ich in der Vorbereitung zu dieser Arbeit die Bibeltexte intensiv und aufmerksam gelesen habe, ist mir bewusst geworden, dass mir viele Einzelheiten aus dem Ruth-, sowie aus dem Estherbuch nicht bekannt waren. Ich denke, dass mir während der Ausarbeitung noch weitere Details, die ich bisher überlesen hatte, auffallen werden. Persönlich empfand ich die Geschichte von Ruth schon immer als eine „tolle, spannende Geschichte“ mit einigen theologischen Aspekten, hatte aber jedoch zum Estherbuch aufgrund des für mich fehlenden theologischen Gehalts keinen nennenswerten Bezug. Ich bin gespannt, ob sich meine Einstellungen durch die Arbeit mit diesen Büchern bestätigen oder ob ich einen anderen Zugang zu ihnen finden werde.

Durch Ruths anfängliche Nicht-Zugehörigkeit zum Volk Gottes und das teilweise als unmoralisch abgestempelte Verhalten Esthers, wird es eine interessante Aufgabe sein, den Vorbildcharakter dieser beiden Frauen herauszustellen.

Ich werde mich in dieser Ausarbeitung zunächst mit dem Ruthbuch und dann mit dem Buch Esther auseinandersetzen, bevor ich im Fazit die Frauen vergleiche und deren Vorbildcharakter für Juden und Christen herausstellen werde. Zu Beginn werde ich kurz in das jeweilige Buch einführen und Hintergrundinformationen darstellen. Da ich die Bibel jedoch als die wichtigste Informationsquelle ansehe, wird mein Schwerpunkt auf der Kommentierung des jeweiligen Buches, welche auf dem Bibeltext nach der Lutherübersetzung von 1984 basiert, liegen. Dabei werde ich weniger auf stilistische Merkmale, als auf den Inhalt eingehen. Aufgrund meiner eben erläuterten Interessen soll mein Hauptaugenmerk dabei auf theologischen und feministischen Aspekten liegen, die ich zudem noch in einem zusätzlichen Punkt nach der Kommentierung beleuchten werde. Weniger werde ich dabei historische Zusammenhänge, den Aspekt der Einheitlichkeit und Parallelen des jeweiligen Buches zu anderen Geschichten des Alten Testaments berücksichtigen.

Das Buch Ruth

A Einleitung in das Buch Ruth

Das Buch Ruth ist ein kleines, vier Kapitel umfassendes, biblisches Erzählwerk, welches von der solidarischen Liebe Ruths zu ihrer Schwiegermutter erzählt. Die Moabiterin Ruth verspricht in einer existenzbedrohenden Situation ihrer Schwiegermutter ewige Treue und rettet diese sogar aus ihrer Armut. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht also der Überlebenskampf zweier Frauen, die in gegenseitiger Solidarität, aus eigener Initiative und im Vertrauen auf Gott einen Weg aus der Armut suchen und schließlich finden. Es werden zudem auch unterschiedliche theologische, soziale und rechtliche Aspekte in diesem Buch aufgegriffen und teilweise miteinander verknüpft.

Um das Ruthbuch besser verstehen zu können und auf mögliche Intentionen dessen sensibel zu machen, bedarf es einer Klärung der Frage nach dem Verfasser, nach der Abfassungszeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Situation der Zeit. Nach dem Versuch, diese Fragen weitestgehend zu klären, soll eine Kommentierung dazu dienen, das erlangte Wissen zu bündeln und es auf das Buch anzuwenden. Anschließend werde ich zwei mögliche Perspektiven des Buches näher beleuchten und ausarbeiten. Sprachliche Besonderheiten und stilistische Mittel, die dem Ruthbuch zugrunde liegen, werden dabei aufgrund des Rahmens dieser Arbeit nicht berücksichtigt.

1. Eckdaten zum Buch

a) Gattung

Gewöhnlich wird das Buch Ruth als „Novelle“ bezeichnet, welches meist eine erfundene, durch Dialoge gekennzeichnete Erzählung meint, bei der vor allem Personen oder Situationen im Vordergrund stehen. Dies soll jedoch nicht heißen, dass in solch einer Erzählung keine tatsächlich historischen Ereignisse wiedergegeben werden.[1] Die Erzählung als hier gewähltes Stilmittel dient dem chronistischen Interesse, wobei die Dialoge das Thema darstellen und die Hauptpersonen charakterisieren.[2] Campbell sieht den Begriff der Novelle allerdings als zu weit gefasst und meint, dass die Ruthgeschichte eine historische Kurzgeschichte sei. Er sieht in der Ruthgeschichte das Ziel „den radikalen Effekt der neuen und großen Verpflichtung darzustellen, die auf dem neuen Volk lag, das einmal kein Volk war. Diese Geschichten dienten nicht bloß der Unterhaltung, sondern der Stärkung und auch der Anleitung im Sinne der neuen Glaubensverpflichtung. Die literarische Form war neu, das Volk war neu, der Zweck war neu.“[3]

Das Buch Ruth wird gattungsgemäß jedoch auch nicht selten der Idylle zugeordnet, welches den Zustand eines schlichten, friedlichen Lebens in der Natur und das Auftreten weniger, meist vorbildlicher Charaktere beschreibt.[4] Angesichts der Existenzängste und Sorgen der Frauen im Buch Ruth erscheint es jedoch oberflächlich und unangemessen, hier von einer Idylle zu sprechen.

Nach Bush lässt sich das Buch Ruth nicht genau einer Gattung zuordnen; es enthalte lediglich diverse gattungsspezifische Merkmale. Ein wichtiges Merkmal sind hierbei zum Beispiel die zahlreichen Dialoge, welche nach Alter in der alttestamentlichen Erzählliteratur für die Wichtigkeit eines Ereignisses stehen.[5]

b) VerfasserIn

Über die Frage nach dem Verfasser des Ruthbuches sind die Forscher sich genauso uneinig wie über die exakte Gattungsbestimmung. Es werden Argumente für einen bestimmten Verfasser genannt, die entweder widerlegt oder nicht bewiesen werden können.

Nach der jüdischen Tradition des Talmud wird Samuel als Autor angesehen. Geht man jedoch davon aus, dass die Genealogie nicht später eingefügt wurde, ist die Annahme, Samuel sei der Verfasser, recht zweifelhaft, da Samuel nicht mehr lebte, als David König über Israel wurde.[6]

Die Forscher sind sich allerdings einig darüber, dass der Autor/die Autorin aus einem gebildeten Kreis kommt. Zu dieser Annahme führen das im Buch widergespiegelte Wissen über die israelische Rechtspraxis, die Kenntnis über die davidsche Tradition und die allgemeine künstlerische Aufbereitung dieses Buches. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass der Verfasser nicht aus priesterlichen Kreisen stammt, da im Buch Ruth keinerlei Verweise auf eine priesterliche Tradition zu finden sind und für die Priester die Eingliederung einer Moabiterin undenkbar gewesen wäre.[7]

Ungeklärt ist auch, ob das Buch von einem Mann oder einer Frau verfasst wurde. Im Folgenden werde ich einige Beispiele nennen, die für eine Verfasserin sprechen:[8]

- zwei Frauen bestimmen aktiv fast das gesamte Buch
- das Verhältnis der Frauen untereinander à Die Bindung an die Schwiegermutter zeigt, dass die Frauen sich nicht über einen (Ehe-)Mann definieren, sondern über Frauen[9]
- die Rede vom Mutter-Haus (1, 8) anstelle des zu der Zeit üblichen Begriffs Vater-Haus
- die Frauen überschreiten die ihnen zugeteilten Rollen, indem sie zum Beispiel die Rolle des Familienoberhauptes und die der Versorgerin übernehmen
- Bethlehem wird von einer Gruppe von Frauen repräsentiert und der Ausdruck der öffentlichen Meinung geschieht durch Frauen (1, 19; 1, 4)
- Unterdrückungserfahrungen von Frauen werden aufgegriffen (2, 9; 2, 22)
- Männer definieren sich über Frauen (4, 12)

„Wenn es keine Frau war, die das Ruthbuch verfasst hat, dann war es ein Mann, der sensibel genug war, um sich mit Frauen und deren spezifischen Lebenssituationen auseinander zu setzen, ihre Probleme wahrzunehmen und gegen die Benachteiligung von Frauen in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft anzuschreiben.“[10]

Wünch ist jedoch der Auffassung, dass es in einer von den Männern dominierten Gesellschaft, wie sie damals herrschte, sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, dass ein von einer Frau verfasstes Buch so unangefochten in den Kanon aufgenommen worden wäre, wie es bei dem Ruthbuch der Fall war.[11]

Fest steht, dass der Autor nicht genannt wird und sich nur spekulieren aber nicht definitiv sagen lässt, wer das Buch verfasst hat und es schließlich auch wichtiger ist, dass die oben genannten Argumente und Auffälligkeiten im Kanon der Bibel erhalten geblieben sind.

c) Einheit und Datierung

Es werden nur selten Zweifel an der Einheit des Ruthbuches geäußert. Viele Forscher gehen lediglich davon aus, dass die Genealogie am Ende des Buches (Ruth 4, 18-22) etwa im zweiten Jahrhundert vor Christus hinzugefügt wurde. Sie könne nicht zum ursprünglichen Bestand der Erzählung gehören, da eine Datierung zum Schluss höchst ungewöhnlich sei, sie eine hohe literarische Abhängigkeit zu 1. Chr. 2 aufweise und in Ruth 4, 13 und 4, 18-22 solch unterschiedliche Worte für den gleichen Inhalt gewählt werden, dass sie nicht vom gleichen Autoren stammen können (siehe Punkt 3.1).[12] Spricht man die Genealogie aber dem ursprünglichen Verfasser zu, was nach Wünch nicht eindeutig widerlegt werden kann, bekommt man deutliche Hinweise für die Datierung dieses Buches, wie sich im Folgenden zeigen wird.[13]

Um das Ruthbuch und die mit ihm verbundenen inhaltlichen Aspekte und Probleme zu verstehen, ist es wichtig, die Datierung zu kennen, um daraufhin den gesellschaftlichen Kontext erhellen zu können. Beachtet man nicht das Alter und die Hintergründe dieser Geschichte, würde Ruth aufgrund der ihr am Ende zugeordneten Rolle so wohl nicht als Bespiel für die Freiheit von Frauen gelten.

Es ist dabei darauf zu achten, dass auf unterschiedliche Datierungsannahmen auch unterschiedliche Interpretationsansätze folgen.

Die Datierungsansätze reichen von der frühen Herrschaftszeit unter David bis in die Zeit Esras und Nehemias, die in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor Christi lebten.

Das offensichtlichste Argument für eine frühe Datierung ist in Ruth 1, 1 zu finden, wo es heißt: Zu der Zeit, als die Richter richteten, [..]. Demnach spielt die Ruthgeschichte während der Richterzeit, man kann jedoch nicht daraus schließen, wann sie verfasst wurde. Zudem gehen einige Exegeten davon aus, dass auch dieser Vers sekundär ist, da unter anderem in der Geschichte die Richter keine Rolle spielen und zudem kein einziges Mal das Wort „richten“ vorkommt. Ist er es jedoch nicht, deutet Steinhoff darauf hin, dass Ruth keine erfundene Geschichte ist, da dem Autoren die historische Einordnung nur wichtig sein kann, wenn sie auch wirklich historisch ist.[14]

Geht man davon aus, dass die Genealogie in 4, 17ff nicht sekundär ist, wird die Ruthgeschichte als eine Vorgeschichte des Königs David verstanden und somit die Abfassungszeit in die Zeit um 1000 v.Chr. eingeordnet.[15] Wäre das Ruthbuch zu einem späteren Zeitpunkt verfasst worden, stellt sich die Frage, warum die Genealogie nicht vollständiger ist und schon mit David aufhört. Des Weiteren spricht für eine frühere Datierung das Argument, dass man schwerlich dem großen König David eine ausländische Großmutter angedichtet hätte, zumal nach der Zeit Davids ein jahrhundertelanger Konflikt mit den Moabitern bestand und das nachexilische Volk Israel im Gegenteil zum vorexilischen Israel allgemein den Fremden gegenüber nicht offen war und sogar ein Aufnahmeverbot für Moabiter ausgesprochen wurde.[16] Unter der Regierung Esras und Nehemias wurde sogar versucht, bestehende Mischehen aufzulösen und neue zu verhindern (siehe Punkt 3.5).[17]

Diese Aspekte können jedoch auch so ausgelegt werden, dass das Buch in der nachexilischen Zeit zur Provokation und Erinnerung an den früheren Umgang mit Fremden gedacht war. Zudem ignoriert das Ruthbuch auch keinesfalls das Aufnahmeverbot von Moabitern oder den Aspekt der Leviratsehe, sondern entzieht diesen Vorschriften durch eine Gegengeschichte ihre Begründung.[18] Weitere Argumente für eine Abfassungszeit während oder kurz nach dem Exil sind auch der Bedeutungsgehalt der Namen, welcher verstärkt in der nachexilischen Literatur zu finden ist. Zudem wäre es in der vorexilischen Zeit undenkbar gewesen, eine Geschichte derart aus der Frauenperspektive zu erzählen. Der zentrale Gedanke der Lösetheologie von Levitikus 25, sowie der Rückkehrproblematik lassen auch jeweils auf eine Abfassungszeit kurz nach dem Exil spekulieren, in der diese Themen hochaktuell waren. Die Betonung der „Familie bzw. des Clans […] ist als Reaktion auf den Zusammenbruch der staatlichen Strukturen plausibel“[19] und deutet somit auch auf eine nachexilische Abfassungszeit hin.

Zuletzt lässt sich eine Ähnlichkeit zu anderen Büchern des AT nicht leugnen und spricht auch für eine späte Datierung. So ist die universelle „Güte Jahwes“ verwandt mit der im Jonabuch und eine Ausländerin als anregendes Beispiel für Israel erinnert an Hiob.

Die aufgeführten Argumente und das Faktum, dass das Buch selbst keine eindeutigen Hinweise auf eine Datierung bietet, lassen keine definitive Datierung zu. Eine nachexilische Abfassung zur Zeit der Herrschaft der Perser, welche in die Richterzeit (ca. 1100 v.Chr.) zurückversetzen möchte, scheint jedoch wohl am wahrscheinlichsten.[20]

2. Stellung im Kanon

Das Buch Ruth gehört unbestritten zum Kanon des Alten Testaments, wobei man es aber in unterschiedlichen Kanonteilen wieder findet.

In der hebräischen Bibel, welche in die Teile Tora (Weisung), Nebiim (Propheten) und Chetubim (Schriften) gegliedert ist, gehört das Ruthbuch zum Letzteren. Nach der älteren hebräischen Tradition wird das Ruthbuch als erste der „Schriften“ vor den Psalmen eingeordnet, wonach das Ruthbuch „als Genealogie jener Männer verstanden wird, denen die darauf folgenden Bücher zugeschrieben werden“[21] und somit unter anderem den Psalmensänger David einführt. Der breitere jüngere Strom der hebräischen Tradition ordnete das Buch jedoch in die Gruppe der fünf Megilloth ein, die als zusammengehörige Gruppe der Schriften gesehen werden, die jeweils an einem der jüdischen Hauptfeste als Lesung gelten. So gehört das Hohelied zum Passahfest, Prediger zum Laubhüttenfest, Klagelieder zum Gedenktag an die Tempelzerstörung und Esther zum Purimfest. Das Ruthbuch wird dem Wochenfest/Erntefest (shawout) zugeschrieben, da sich die im Ruthbuch zugetragenen Ereignisse vorwiegend während der Gersten- und Weizenernte abspielten, und wird noch heute zu diesem Fest vorgelesen.[22] Jedoch wird auch hier das Ruthbuch an unterschiedlichen Stellen angesiedelt. Nach der ursprünglichen Anordnung, welche sich auch heute in den meisten jüdischen Bibeln wieder findet, steht das Ruthbuch an zweiter Stelle.[23] Hier folgt die Anordnung der Rollen nach der chronologischen Ordnung der einzelnen Feste, wobei das liturgische Jahr der Juden mit dem Passahfest beginnt. In mittelalterlichen Handschriften werden die fünf Megilloth jedoch vom Buch Ruth angeführt. Dies lässt darauf schließen, dass hier eine chronologische Anordnung nach der Entstehungszeit vorgenommen wurde. Zum einen ist das Buch Ruth vom Inhalt her die älteste Festrolle, da sie die Vorgeschichte Davids erzählt und zum anderen von seinem vermuteten Verfasser, für den man Samuel hielt. Daneben spricht für diese Anordnung auch die Parallele zum Ruthbuch vorangehenden Sprüchebuch, das mit dem Lob einer „tüchtigen Frau“ (Spr. 31, 10 - 31) endet und Ruth solch eine Frau verkörpert und auch in Ruth 3, 11 so von Boas genannt wird.[24]

Die im Judentum entstandene griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, welche auch unserer heutigen Lutherübersetzung zugrunde liegt, gibt dem Rutbuch einen anderen Kontext im Kanon. In diesem Kanon stellte man die Geschichtsbücher hinter die fünf Bücher Mose und ließ darauf die poetischen Schriften und die Propheten folgen. Das Buch Ruth gehört nach dieser Tradition zu den Geschichtsbüchern und steht hinter dem Buch der Richter und vor den Samuelbüchern.[25] Das Ruthbuch bildet hier sozusagen den Übergang zwischen der Richterzeit (Ruth 1, 1 Zu der Zeit, als die Richter richteten [...]) und der Zeit des großen König David (Ruth 4, 17 [..] Noomi ist ein Sohn geboren; und sie nannten ihn Obed. Der ist der Vater Isais, welcher Davids Vater ist.). Zudem fügt das Buch Ruth sich gut an das Richterbuch an, da in beiden Büchern Bethlehem der Hauptschauplatz ist. In Richter 19-21 gilt Bethlehem noch als „lokaler Ausgangspunkt des Schlechten“[26], in 1. Sam 16 wird der große König David in diesem Dorf geboren. Durch das zwischengeschaltete Buch Ruth erhält Bethlehem wieder ein besseres Ansehen und gilt als Stadt der Güte und als Geburtsort verheißungsvoller Kinder. Mit dieser Stellung im Kanon bekommt das Ruthbuch einen hohen historischen Charakter, indem es von der Richterzeit weg- und zur Königszeit hinführt[27] und erscheint mit ihrem vorbereitenden Charakter weniger eigenständig als im hebräischen Kanon.[28]

3. Rechtlicher und sozialer Hintergrund

Im Buch Ruth sind viele unterschiedliche Rechtsregelungen und Solidaritätsverpflichtungen vorzufinden und auch teilweise miteinander verankert. Im Folgenden sollen die wichtigsten hervorgehoben und isoliert erläutert werden. Als Basis soll jeweils ein Textausschnitt aus der Tora dienen.

Da man die genaue Datierung des Ruthbuches nicht kennt, kann man auch nicht sicher sagen, welche Gebote zur Abfassungszeit galten und inwieweit dem Verfasser des Buches die Tora mit ihren Geboten vorlag. Somit kann nur ein Versuch gestartet werden, die im Buch Ruth vorkommenden Gebote mit denen der Tora zu vergleichen.

3.1 Leviratsehe (Jibum)

Nach Deuteronomium 25, 5 – 10 gilt:

„5 Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne, so soll seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer andern Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen und sie zur Frau nehmen und mit ihr die Schwagerehe schließen. b 6 Und der erste Sohn, den sie gebiert, soll gelten als der Sohn seines verstorbenen Bruders, damit dessen Name nicht ausgetilgt werde aus Israel. 7 Gefällt es aber dem Mann nicht, seine Schwägerin zu nehmen, so soll sie, seine Schwägerin, hingehen ins Tor vor die Ältesten und sagen: Mein Schwager weigert sich, seinem Bruder seinen Namen zu erhalten in Israel, und will mich nicht ehelichen. 8 Dann sollen ihn die Ältesten der Stadt zu sich rufen und mit ihm reden. Wenn er aber darauf besteht und spricht: Es gefällt mir nicht, sie zu nehmen -, 9 so soll seine Schwägerin zu ihm treten vor den Ältesten und ihm den Schuh vom Fuß ziehen und ihm ins Gesicht speien und soll antworten und sprechen: So soll man tun einem jeden Mann, der seines Bruders Haus nicht bauen will! 10 Und sein Name soll in Israel heißen „des Barfüßers Haus.“

Die in Deut. 25, 5ff beschriebene Wiederverehelichung der Bruderwitwe mit dem Schwager, wird als gesetzliche Pflichtehe angeordnet, die dafür sorgen soll, dass das Land möglichst im Familienbesitz bleibt, die Witwe versorgt wird und der Name der Familie weiter besteht.[29] Der Erstgeborene dieser Ehe gilt aus diesem Grund als Sohn des Verstorbenen (Deut 25,6, Ruth 4, 10). Das Wissen über die Leviratsehe spiegelt sich im Ruthbuch an unterschiedlichen Stellen wieder. So sagt zum Bespiel Boas in Ruth 3, 13 „Wenn er dich lösen will, gut, dann soll er dich lösen, wenn es ihm gefällt...“ und auch der Gang zum Tor und die Ältesten als Zeugen in Ruth 4, 1ff stimmen mit dem Gesetz zur Leviratsehe überein.[30]

Der bereits in Genesis 38 beschriebene Vorfall mit Tamar zeigt, dass die Leviratsehe (vom Lat. levir = Schwager; Schwagerehe) bereits in sehr alter Zeit in Israel bekannt war. Diese Pflichtehe wurde jedoch im Laufe der Zeit verändert und erweitert. So waren noch zur Zeit Moses nur die Brüder des Verstorbenen verpflichtet, die Witwe ihres Bruders zu heiraten. Aus dem Buch Ruth kann man herauslesen (Ruth 4, 10), dass auch der nächste Blutsverwandte dazu verpflichtet zu einer Leviratsehe verpflichtet war.[31] Dies lässt sich damit erklären, dass diese Pflichtehe sich auf die vorherrschenden Umstände bezog. Nach altem Recht hätte nämlich aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse die Ehe an Ruths Schwiegermutter Noomi vollzogen werden müssen, doch stand die Einlösung eines Erbgutes durch Boas, als den nächsten Verwandten, und die damit verbundene Verehelichung mit der Schwiegertochter der Witwe des Elimelechs im Vordergrund.

Des Weiteren sieht das Deuteronomium die Voraussetzung für eine Leviratsehe darin, dass die Witwe mit ihrem Gatten ohne einen männlichen Nachfolger geblieben ist. In späteren Jahrhunderten wird von einer vollständigen Kinderlosigkeit als Voraussetzung für die Leviratsehe ausgegangen, indem das Wort „ben“ nicht mehr mit Sohn, sondern mit Kind übersetzt wird.

In Deut 25, 1-9 wird weiter beschrieben, dass die Frau des Verstorbenen den Schuh des Bruders nimmt, der die Pflichtehe nicht mit ihr eingehen möchte und ihm als Zeichen der Missachtung ins Gesicht spuckt. In Ruth 4, 7+8 wird jedoch nur das Ausziehen des Schuhs erwähnt.[32]

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es dem Rechtstext nach der Witwe mit der Weigerung ihres Schwagers freigestellt wird, welchen Mann sie nun heiratet. Im Ruthbuch wird sie allerdings von „Löser zu Löser weitergegeben“,[33] womit auch eine dem Gesetzestext nicht entsprechende Verbindung zwischen dem Gebot der Leviratsehe und dem des Löserechts auftritt.

Die Ehe zwischen Ruth und Boas ist somit zwar keine dem Gesetzestext exakt entsprechende Leviratsehe, enthält jedoch aufgrund der vielen Übereinstimmungen eine auffällige Nähe zum Gebot der Leviratsehe.

3.2 Der Löser (Goel)

Nach Levitikus 25, 25-28 gilt:

„25 Wenn dein Bruder verarmt und etwas von seiner Habe verkauft, so soll sein nächster Verwandter kommen und einlösen, was sein Bruder verkauft hat. a 26 Wenn aber jemand keinen Löser hat und selbst soviel aufbringen kann, um es einzulösen, 27 so soll er die Jahre abrechnen, seitdem er's verkauft hat, und was noch übrig ist, dem Käufer zurückzahlen und so wieder zu seiner Habe kommen. 28 Kann er aber nicht soviel aufbringen, um es ihm zurückzuzahlen, so soll, was er verkauft hat, in der Hand des Käufers bleiben bis zum Erlaßjahr. Dann soll es frei werden und er wieder zu seiner Habe kommen.“

Wenn man zu damaliger Zeit sein Land verkauft hat, gab es drei Wege, es zurückzuerhalten. Man konnte es zurückkaufen, falls man das nötige Geld dazu hatte oder man wartete das sogenannte Erlassjahr/Jobeljahr ab, in dem nach Lev 25, 8+9 jegliches verkauftes Land an den ursprünglichen Besitzer zurückging. War dieses Jobeljahr, alle 49 Jahre stattfindend, noch zu weit weg, konnte man auch einen Löser heranziehen. Unklar ist jedoch, ob die Löserinstitution, welche dauerhafte Armut und Schuldsklaverei verhindern und die Solidarität zwischen Verwandten aufrechterhalten sollte,[34] ein verbindliches Gesetz war oder ob es, wie die Leviratsehe, eine Solidaritätsverpflichtung darstellte.

Der Löser war ein naher Verwandter, der sich selbst in guter finanzieller Lage befand und einem in Not geratenen Verwandten aus seiner schwierigen Lage löste. Die Grundlage für diese Institution war der Gedanke, dass alles Gottes Eigentum war und nicht bleibend in fremde Hände geraten durfte.[35] Somit blieb auch ein verkauftes Land unter der Vollmacht des ursprünglichen Besitzers und er konnte es zum Beispiel durch das Heranziehen eines Lösers jederzeit zurückkaufen (lassen). Es ist jedoch nicht eindeutig, ob das vom Löser zurückgekaufte Land gleich dem ursprünglichen Besitzer gehörte oder erst mit dem Verstreichen des Jobeljahres an den ursprünglichen Besitzer überging.[36] Wünch geht jedoch davon aus, dass der Löser das verkaufte Land nur auf Wunsch des ursprünglichen Besitzers zurückkaufen konnte, welches auch in Lev 25, 25 [...] dann soll sein nächster Verwandter zu ihm kommen untermauert wird. Somit kaufte der Löser das Land von seinem Verwandten, obwohl er das Geld dem jetzigen Besitzer gab und der Verwandte das Land erhielt.

Verbindet man das Ruthbuch mit Lev 25, muss man davon ausgehen, dass Elimelech vor seiner Auswanderung das Land verkauft hat, Noomi nun ein Rückkaufsrecht besitzt und Boas als Löser eintritt. Somit verkauft Noomi das Land, welches schon gar nicht mehr ihr gehörte, an den nächsten Löser.[37] Nachdem der eigentliche Löser das Land lösen wollte, nimmt er dies zurück, als ihm mitgeteilt wird, dass dies auch eine gleichzeitige Heirat mit Ruth einschließt und er dadurch einen wirtschaftlichen Ruin befürchtet (Ruth 4, 5).

Der Verfasser des Ruthbuches muss sowohl die Leviratsehe als auch die Löseinstitution einschließlich ihrer zugrundeliegenden Gesetzestexte gekannt haben und verbindet diese auf eine im Alten Testament einmalige Weise. Diese Verbindung wird in Ruth 3, 9 hergestellt, indem Ruth Boas bittet, sie zu heiraten, da er der Löser ist.[38] Zakovitch sieht in der Lösung der Frau eine logische Erweiterung des Gebotes zur Leviratsehe. Die Lösung der Ländereien und die Lösung Ruths hätten auch jeweils alleine für eine gesicherte Lebensgrundlage der beiden Witwen gesorgt. Die Doppelungen der Lösungen lässt darauf schließen, dass der Verfasser viele Gebote nennen und damit zeigen wollte, dass jedes gleichermaßen befolgt werden muss.[39] „Die beiden Rechtsregelungen haben in der Bibel außerhalb des Ruthbuches nur so viel miteinander zu tun, als daß [ss] es beide Male um den unveräußerlichen Anspruch auf den patrilinear weitergegebenen Erbbesitz im Lande geht, der durch die verwandtschaftliche Solidarität gewährleistet werden soll.“[40]

Da lösen auch helfen, retten, herausreißen bedeuten kann, kann dies auch das erlösende Heilshandeln Jahwes umschreiben, welches er seinem Volk zum Beispiel bei der Rettung aus Ägypten zukommen lassen hat. Lösen kann neben der verwandtschaftlichen Solidarität also auch auf die konkrete Erlösung durch Jahwe hinweisen.[41] Aus dem Grunde wird auch der Messias Er-Löser genannt, weil er die Menschen aus dem Sumpf der Sünde retten will und rettet.

3.3 Das Armenrecht

Nach Levitikus 19, 9-10 gilt:

„Wenn ihr die Ernte eures Landes schneidet, sollst du dein Feld nicht vollständig bis in die Ecken abernten und nach der Ernte nicht Nachlese halten...den Armen und Fremden überlasst sie; ich bin der Herr, euer Gott.“

Genauso wie heute gab es zur damaligen Zeit verarmte Bevölkerungsschichten, die auf Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen waren. Da es zu der Zeit aber noch keine staatlichen Unterstützungen gab, waren die von Jahwe vorgeschrieben Rechte und Gebote aus Lev 19 und auch Deut 24 überlebenswichtig für verarmte Waise und Witwen. Gerade die Witwen ohne erwachsene Kinder waren oft der Willkür der männlichen Oberhäupter ausgeliefert und wussten sich oft nicht zu verteidigen.[42] Neben diesen beiden Gruppen galt das Armenrecht auch für Fremde, was die Israeliten an ihre Gefangenschaft in Ägypten erinnern sollte: „ Denn auch ihr seid Fremdlinge gewesen in Ägypten. “ (Dtn 10, 19). Das Armenrecht sollte den sozial Schwachen eine materielle Mindestversorgung gewährleisten. Nach Ex 23, 10+11 sollte jedes dritte Jahr ein Zehntel der Ernte den Armen zukommen, nach Dtn 16, 9-15 diese zu den Erntefesten eingeladen werden und der vorliegende Textausschnitt aus Lev 19 schreibt den Feldbesitzern vor, keine Nachlese durchzuführen, damit die Ärmsten der Armen diese zur Selbstversorgung durchführen können.[43] Im zweiten Kapitel des Ruthbuches nehmen die beiden Witwen dieses Armenrecht in Anspruch.

Man musste jedoch bei Nichteinhalten dieser Vorschriften mit keiner Bestrafung rechnen, woraufhin diese Vorschriften von den Feldbesitzern oft nicht eingehalten wurden. Auch Ruth ist sich dessen bewusst und sieht die Nachlese nicht als Selbstverständlichkeit an, indem sie in 2, 2 sagt: „ Laß mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen, bei einem , vor dessen Augen ich Gnade finde. [44] Boas gilt hier als Gegenbeispiel zu der Ausbeutung sozial schwächer gestellter Menschen[45] und lässt Ruth nicht nur auf dem Feld nachlesen, sondern gibt ihr sogar noch zusätzlichen Proviant mit. Die Erlaubnis, auch zwischen den erntenden Angestellten lesen zu dürfen, entspricht sicher nicht der Normalität und verdeutlicht wie auch schon in Punkt 3.2 die Güte und Gnade Boas’.

3.4 Die rechtliche und soziale Lage von Witwen

Zur Lage der Witwe im damaligen Israel gibt es keine biblische Quelle, welche ein vollständiges Bild entwerfen und somit als Basistext dienen könnte. Somit kann die rechtliche und soziale Situation der Witwe nur aus unterschiedlichen Bibelstellen herausgefiltert werden, um ein Gesamtbild entwerfen zu können.

Die Witwe ('almanah), im Ruthbuch „ Frau des Verstorbenen “ genannt wird (Ruth 4, 5), gehörte neben den Waisen und Fremden zu den gefährdetsten Bevölkerungsgruppen der Gesellschaft des alten Israels.[46] Der Grund dafür liegt in der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur, in der zum Beispiel das Erbe und der Grundbesitz an die männlichen Familienmitglieder weitergegeben wurde.[47] Im Ruthbuch wird das Erbe Noomi zugeschrieben, da auch die Söhne verstorben sind und somit keine männlichen Erben vorhanden sind, das Erbe aber in Familienbesitz bleiben soll. Die Witwen trugen Witwenkleider (Gen 38,14+19; Jdt 10,3), besaßen oft nicht mehr als ein Kleid, ein einfaches Haus, ein Rind, einen kleinen Acker, lebten mit ihren Kindern am Rande des Todes (1 Kön 17, 12; Hiob 24, 3-21) und waren tagtäglich auf die Gnade der Feldbesitzer angewiesen, das Armenrecht in Anspruch nehmen zu dürfen (siehe Punkt 3.3). Allein die Wiederverheiratung konnte die Witwe vor völliger Verarmung retten (Ruth 1, 9f). War dies nicht möglich, weil die Witwe sich zum Beispiel wie Noomi in keinem heiratsfähigen Alter mehr befand, kehrte sie in das Vaterhaus (bei Ruth „ Mutterhaus “) zurück (Gen 38, 11; Lev 22, 13)[48], was ein arbeitsreiches und keinesfalls sorgenfreies Leben für die Witwe bedeutete. Umso bemerkenswerter ist der Entschluss Ruths, sich in ihrer Heimat keinen neuen Ehemann zu suchen und somit ihren Lebensunterhalt zu sichern, sondern ihre Schwiegermutter in ein für sie fremdes Land zu begleiten. Diese Solidarität der beiden Witwen kann auch als Basis für die positive Wendung in ihrer beider Leben gesehen werden.

Ein schwerwiegender Nachteil für kinderlose Witwen lag zudem darin, dass sie auch bei der Durchsetzung ihres Rechts benachteiligt waren. Denn wie es auch in Ruth 4 widergespiegelt wird, wurde die Gerichtsbarkeit ausschließlich von Männern wahrgenommen.[49]

Die vielen indirekten Schutzbestimmungen der Tora (Ex 20,12; Dtn 5,16; Lev 19,3) lassen zudem darauf schließen, dass die Witwenschaft bittere Armut bedeutete, da in diesen Bestimmungen die Söhne und Schwiegertöchter explizit dazu aufgefordert werden, die hilflos gewordenen Eltern zu pflegen und sie nicht zu verstoßen.[50]

3.5 Fremde und Mischehen

Nach Deuteronomium 23, 3-5 gilt:

3 Es soll auch kein Mischling in die Gemeinde des HERRN kommen; auch seine Nachkommenschaft bis ins zehnte Glied soll nicht in die Gemeinde des HERRN kommen.

4 Die Ammoniter und Moabiter sollen nicht in die Gemeinde des HERRN kommen, auch nicht ihre Nachkommen bis ins zehnte Glied; sie sollen nie hineinkommen, 5 weil sie euch nicht entgegenkamen mit Brot und Wasser auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt [...].

Im Alten Israel bestand ein Unterschied zwischen „Fremden“ und „Ausländern“. Ein Fremdling kann auch dem Volk Israel angehören und ist ein Schutzbürger im Ausland oder auch an einem fremden Ort im eigenen Land, wo er weder Grundbesitz noch Stimmrechte bei Rechtsangelegenheiten besitzt. Genauso wie die Witwen und Waisen stehen Fremde unter einem Schutzrecht (Dtn 24, 19), welches ihnen eine materielle Mindestversorgung und den Schutz vor Unterdrückung gewährleisten sollte.[51] Der Terminus „AusländerIn“ beinhaltet, dass „sich Israel nicht mit ihnen verwandt weiß“ und sie „fremder als die „Fremden“ sind.“[52] Elimelech lebt nach Ruth 1, 1 in Moab als Fremder, wohingegen Ruth als eine Ausländerin bezeichnet wird und somit nicht unter dem Schutz steht, wie die so genannten „Fremden“.

Wie im oben zitierten „Moabiterparagraph“[53] eindeutig beschrieben wird, durften keine Moabiter „in die Gemeinde des Herrn“ aufgenommen werden, da diese den Israeliten einst die Aufnahme und Versorgung verweigert hatten (siehe Punkt 4). Setzt man die Datierung dann noch in der Zeit an, in der auch die Bücher Esra und Nehemia verfasst wurden (siehe Punkt 1.1.1), galt auch ein Gebot, welches einem Juden untersagte, die so genannte Mischehe mit einer Moabiterin einzugehen (Esr 9-10; Neh 13). In Num 25, 1-5 wird beschrieben, wie moabitische Frauen israelische Männer verführen und zu kultischen Feiern anstiften. Auffällig ist in diesem Kontext jedoch, dass die Bezeichnung „Moabiterin“ im ganzen Ruthbuch vorkommt, nur im „Verführungskapitel“ (Ruth 3) nicht einmal genannt wird. Eine direkte Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet im Ruthbuch zwar nicht statt, jedoch lässt sich erahnen, wie der Verfasser diesem gegenüberstand. Er spricht mit lobenden Worten von der Moabiterin Ruth, die ihr Volk verlässt, sich dem Volk Israel anschließt und Gott vertraut.[54] Zudem kehrt der Verfasser den Kontext aus Dtn 23, 4, wo dem Volk Israel von den Moabitern die Versorgung verweigert wurde, ins Gegenteil: Der Judäer Elimelech wird mit seiner Familie während einer Hungersnot in Moab aufgenommen und die Moabiterin Ruth versorgt sogar noch in Bethlehem ihre judäische Schwiegermutter.

Somit wird die Begründung für das Aufnahmeverbot von Moabitern entkräftet und ruft zu einem Umdenken auf.[55]

Man kann darauf schließen, dass der Verfasser das Ruthbuch dazu nutzen wollte, den Menschen zu zeigen, dass es einer differenzierten Beurteilung von Aufnahmekriterien für fremde Frauen und die Heirat mit ihnen bedarf. „Ruth ist da, um denen, die nicht zu lesen verstehen, in Erinnerung zu rufen, dass die göttliche Offenbarung oft eine Abweichung erfordert, die Aufnahme einer radikalen Andersartigkeit, die Anerkennung von etwas Fremden, das man auf den ersten Blick geneigt wäre, als das Verworfenste zu betrachten. Das ist keineswegs eine Ermutigung zur Abweichung [...], sondern eine Aufforderung, die Fruchtbarkeit des anderen zu erwägen.“[56]

4. Das Volk Israel und die Moabiter

Um genauer nachvollziehen zu können, was es bedeutet, wenn eine Moabiterin in Israel einwandert und dort sogar heiratet, soll in diesem Punkt das Verhältnis zwischen Israeliten und Moabitern kurz beleuchtet werden.

Nachdem Jahwe das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft in das verheißene Land Kanaan geführt hatte, herrschte dort während der Richterzeit eine politische Aufteilung von israelischen Stämmen und kanaanäischen Stadtstaaten, die oft zu politischen und geistlichen Unruhen führte.[57] Die Moabiter bewohnten seit dem späten 14. Jahrhundert das Hochland östlich des Toten Meeres, heutiges Jordanien, und waren somit nun Nachbarn Israels (Anhang Abb. 1).

Zwischen diesen beiden Völkern bestand ein besonderes Verhältnis, da Moab auf der einen Seite Israel beim Einzug in Kanaan die Versorgung verweigerte (Num 22) und Jahwe seinem Volk gebot, zehn Generationen keinen Moabiter in das Volk Israel aufzunehmen und auf der anderen Seite Moab aber auch als Brudervolk Israels galt (Deut 2, 9), da Moab, der älteste Sohn Lots, aus einem Inzestverhältnis Lots mit seiner Tochter hervorgegangen ist (Gen 19, 37+38).

Auch David hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu den Moabitern. So floh er vor Saul in das Land der Moabiter und brachte dort seine Eltern in Sicherheit (1. Sam 22, 3f), kämpfte aber später als König gegen die Moabiter und machte sie Israel gegenüber tributpflichtig.[58]

Betrachtet man dieses gespannte Verhältnis zwischen den Israeliten und den Moabitern, entpuppt sich der Entschluss Ruths, mit ihrer Schwiegermutter nach Israel zu ziehen, als noch mutiger und solidarischer, als es schon zuvor den Anschein hatte.

B Kommentierung

Im folgenden Abschnitt sollen die vier Kapitel des Ruthbuches kommentiert werden. Die Kapitel werden nacheinander behandelt, wobei ein kurzer Überblick als Einleitung zu jedem Kapitel dient. Aufgrund des Rahmens dieser Ausarbeitung wird nur selten auf die äußere Struktur und stilistische Mittel eingegangen. Vielmehr sollen inhaltliche Details herausgearbeitet werden, die meiner Meinung nach zum Verständnis des Buches und der Intention beitragen.

1. Kapitel 1 Ruth und Noomi kehren nach Bethlehem zurück (1, 1 - 22)

In dem vom zentralen Begriff „rückkehren“ geleiteten ersten Kapitel des Ruthbuches wird beschrieben, warum und wie Noomi und Ruth nach Bethlehem zurückkehren. Die ersten fünf Verse dienen als Vorgeschichte, woraufhin ein langer Dialogteil zwischen Noomi und ihren Schwiegertöchtern folgt. Der dritte und letzte Abschnitt dieses Kapitels erzählt von der Klage Noomis bei ihrer Ankunft in Bethlehem.[59] In diesem Kapitel ist Noomi die noch allein dominierende Hauptperson, doch auch Ruth („die Liebliche“; „Freundin“) tritt im Laufe der Handlung immer mehr in den Vordergrund. Jeder dieser Abschnitte beginnt mit einer kurzen Einleitung, in der Ort und Zeit des nun folgenden Geschehens kurz vorgestellt werden, die Einleitung in Vers 1-5 dient zugleich als Einleitung für das gesamte Buch.

Wünch sieht im ersten Kapitel einen strukturell gegliederten Aufbau, wonach die Erklärung der beiden Schwiegertöchter, mit Noomi gehen zu wollen, das zentrale Thema darstellt (Ruth 1, 10). Nach diesem Vers zeigt sich, wie Orpa auf den Ratschlag Noomis hört und Ruth einen Treueeid gibt. Vers 1 und Vers 22 schließen das Kapitel ein, indem mit einer Zeitangabe von dem Auszug aus Bethlehem und von der Rückkehr nach Bethlehem berichtet wird.[60] Nach Fischer kann dieses Kapitel folgendermaßen gegliedert werden:[61]

1, 1-5 Exposition für das Buch und für Kapitel 1: Die Auswanderung nach Moab

1, 6-19a: Auf dem Weg von Moab nach Bethlehem (Zentrale Szene am Weg)

1, 6-10: Nähere Exposition zu Kapitel 1: Der Dank zum Abschied

1, 11-14: Der halb geglückte Überzeugungsversuch

1, 15-19a: Das Versprechen Ruths und die Rückwanderung der beiden Frauen

1, 19b-22: Ankunft in Bethlehem und die Begegnung mit den Frauen

1.1 Exposition (1, 1 - 5)

Diese Einleitung zum Buch Ruth gibt dem Leser Informationen über die in der folgenden Erzählung vorkommenden Orte und Personen und stellt die Grundlage für die folgenden Ereignisse dar.

Es war die Zeit, als die Richter richteten (V 1) soll nach Wünch einer inhaltlichen Charakterisierung[62] und nicht einer genauen Zeitangabe dienen. Die zu Beginn beschriebene Hungersnot (V 1) spielt auch schon in vielen Berichten von Erzvätern eine Rolle (Gen 12, 10; Gen 26, 1; Gen 46). Der Grund für solch eine Hungersnot war fehlender Regen oder der Angriff von Feinden und wird oft als Gerichtshandeln Gottes an seinem Volk verstanden (Lev 19f).[63] Das Wort niederlassen (V 1) deutet daraufhin, dass Elimelech („mein Gott ist König“) vorhatte, wieder nach Bethlehem zurückzukehren, sobald die Hungersnot vorbei war.

Die Erwähnung der Stadt Bethlehem in Juda, dessen sprechender Name für „Haus des Brotes“ und somit im starken Gegensatz zur Realität steht, und Moab offenbart dem Leser, dass Elimelech selbst aus Bethlehem in Juda, dem späteren Geburtsort König Davids, stammte und sich nun im Exil in Moab befindet. Genauso wie Moab in einem zwiespältigen Verhältnis zum Volk Israel stand, steht es auch zu der Familie Elimelechs. Es gebietet ihm und seiner Familie Aufenthalt und rettet sie somit vor dem Verhungern, jedoch sterben auch alle männlichen Familienmitglieder in Moab, wodurch die drei Witwen in eine schwierige Lebenslage[64] geraten. Nachdem nämlich noch in Vers 2 die Familienmitglieder namentlich vorgestellt werden, wird in Vers 3 vom Tod Elimelechs berichtet. Daraufhin heiraten die Söhne Elimelechs die Moabiterinnen Orpa und Ruth, bevor in Vers 6 vom Tod der beiden Männer berichtet wird. Aufgrund der im mosaischen Gesetz verbotenen Heirat mit Moabiterinnen und der Auswanderung Elimelechs in das Land Moab, interpretieren einige Exegeten dieses tragische Schicksal als Gerichtshandeln Gottes.[65] Es sei jedoch noch einmal betont, dass weder für die oben beschriebene Hungersnot, noch für den Tod der drei Männer ein Grund angegeben ist und dies als ein Gerichtshandeln Gottes zu interpretieren keine textbezogene Basis hat. Auffällig ist, dass die Erzählung dieser Exposition ohne jeglichen Dialog stattfindet.

1.2 Auf dem Weg von Moab nach Bethlehem (1, 6 - 19a)

Genauso, wie Abraham in Gen 23 erst den Tod Sarahs beweint, sich dann aber aufmacht und von der Toten loslässt, bricht auch Noomi auf (1, 6), womit auch gleichzeitig das Leitwort des ersten Kapitels eingeführt wird: zurückkehren. Es ist jedoch nicht die desolate Situation, welche Noomi in ihre Heimat zurückkehren lässt, sondern die Nachricht, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. (V 6). Durch das von Jahwe geschenkte Brot ermöglicht er nicht nur seinem Volk, sondern auch ganz konkret Noomi neue Lebensmöglichkeiten.[66]

Geht man davon aus, dass die Hungersnot eine Strafe Jahwes war, wird hier vorausgesetzt, dass das Volk Israel Buße getan hatte und zu Jahwe zurückgekehrt ist. Somit konnten Noomi und Ruth nur nach Juda zurückkehren, weil Jahwe sich den Menschen wieder zugewandt hat.[67] Doch Noomi stand nicht alleine auf, sondern ihre Schwiegertöchter begleiteten sie. Erst als die drei Witwen auf dem Weg von Moab nach Juda sind, findet der erste Dialogblock statt, in dem Noomi versucht, ihre Schwiegertöchter zur Um-/ Heimkehr zu bewegen. Da der Dialog erst auf dem Weg nach Juda stattfindet, geht Frevel davon aus, dass die ErzählerIn dem „Leitwortcharakter von zurückkehren“[68] nachkommen möchte und nur so die Rückkehr nach Juda der Rückkehr nach Moab gegenübergestellt werden kann.[69]

In dem ersten von den nun folgenden drei Dialogen fordert Noomi ihre Schwiegertöchter zur Umkehr auf, um in ihrem Heimatland Moab noch einmal zu heiraten und glücklich zu werden. Noomi spricht hier von der Rückkehr „in ihr Mutterhaus“ und nicht wie üblich für das Alte Testament „Vaterhaus“. Zenger begründet dies damit, dass Noomi betonen möchte, selbst den beiden Frauen kein Mutterhaus bieten zu können. Zudem ziele es darauf ab, dass die Frauen einen wirklichen Neuanfang beginnen sollen, anstatt nach der juristischen Betrachtungsweise in das Haus ihrer Väter zurückzukehren und dort auch zu verweilen.[70]

Noomi wünscht Ruth und Orpa mit dem theologischen Begriff chäsäd (liebevolle Treue und Loyalität), welches auch das zentrale Thema des gesamten Buches ist. Jahwe möge ihnen die gleiche Gnade erweisen, wie sie sie ihren Söhnen erwiesen haben.[71]

Mit dem Segen, dass Jahwe den beiden Ruhe schenken möge, jede im Haus ihres Mannes (V 8), spricht Noomi schon jetzt das Leitwort menûchāh „Ruhe“ in Kapitel 3 an. Ruth und Orpa hätten wegen ihres noch jungen Alters bei einer Rückkehr nach Moab gute Chancen auf eine Wiederheirat gehabt. Der Kuss Noomis steht für die Verbundenheit mit ihren Schwiegertöchtern, soll aber auch ein Symbol des Abschieds darstellen. Doch die beiden Schwiegertöchter protestieren gemeinsam mit dem Nennen von „wir“ (V 10) und wollen mit Noomi zu ihrem Volk zurückkehren, was bedeutet, dass Orpa und Ruth sich über Noomi definieren und sich ihrem Volk anschließen wollen. In den Versen 11-14 versucht Noomi noch einmal, die beiden Frauen zu überzeugen, in ihre Heimat zurückzukehren, indem sie den ersten Redegang argumentativ fortführt. Jetzt geht sie jedoch nicht auf die Zukunft der beiden Schwiegertöchter ein, sondern legt in einer „rhetorisch exzellenten Komposition“[72] ihre eigene Situation dar. Dem dreigliedrigen Argumentationsstrang, welcher jeweils mit „meine Töchter“ angezeigt wird, liegt die Institution der Leviratsehe zugrunde[73], wonach Noomi in sich unter anderem aufgrund ihres hohen Alters keine Frau sieht, die den beiden Witwen noch einmal Söhne zur Eheschließung schenken kann. Hat Noomi in ihrer ersten Rede das heilvolle Handeln Jahwes noch in den Mittelpunkt gestellt, bekennt sie nun in Vers 13, dass Jahwe auch unheilvoll handeln kann.[74]

Anders als nach dem ersten Redeabschnitt, lässt sich Orpa überreden und küsst Noomi zum Abschied, nachdem sie den Abschied beweint hat. Orpa stellt jedoch keine Negativfigur dar, da ihr Verhalten eine logische Konsequenz auf das Gespräch und auf die schlechten Aussichten für Witwen ist.[75] Ruth hingegen hängt sich an ihre Schwiegermutter (V 14) und symbolisiert damit, was im dritten Redeabschnitt zum Vorschein kommt. Nachdem nun Noomi in ihrem dritten Überredungsversuch Ruth dazu aufgefordert hat, es doch ihrer Schwägerin gleich zu tun und in ihre Heimat zurückzukehren (V 15), übernimmt Ruth die Dominanz in diesem Dialog. Ruth beginnt ihre Rede mit einem Befehl, dass Noomi nicht weiter versuchen soll, sie zu überreden, woraufhin ein Eid folgt, der alle Ebenen des Daseins umfasst. Sie ist bereit, den Weg der Noomi zu gehen, in dem Land der Noomi zu leben, an den Gott der Noomi zu glauben und nicht von Noomi zu weichen bis der Tod sie scheide (V 16+17). Ruth definiert die Rückkehr nun nicht mehr in Bezug auf Moab, sondern auf Noomi und legt somit alles ab, was vorher zu ihrem Leben gehörte. Sie befindet sich in völliger Ungewissheit, was sie in Juda erwartet und ob sie jemals wieder heiraten kann. Trotzdem entscheidet sie sich, mit Noomi nach Juda zurückzukehren. Ruths unerschütterliche Liebe und Treue gegenüber ihrer Schwiegermutter hing untrennbar mit der Entscheidung für Jahwe zusammen, was auch bedeutet, dass Liebe und Treue zu Gott auch Liebe und Treue zu unseren Mitmenschen einschließen muss.[76]

Noomi respektiert nun Ruths Wunsch und sie machen sich auf den Weg nach Bethlehem. Es ist sogar zu vermuten, dass Noomi sogar froh über die Entscheidung Ruths war, da sie den langen beschwerlichen Weg nun nicht alleine beschreiten musste. Somit wird die Bemerkung in Vers 5, dass Noomi alleine zurückblieb, korrigiert, indem nun von den beiden (V 19) gesprochen wird.[77]

[...]


[1] vgl. Wünch 1992, 45

[2] vgl. Holland/Steinhoff 1995, 242

[3] Campbell 1975, 8 in Holland/Steinhoff 1995, 243

[4] Brockhaus 1996

[5] vgl. Alter 1981, 182 in Wünch 1998, 46

[6] vgl. Wünch 1998, 43f

[7] vgl. Hausmann 2005, S. 98f

[8] vgl. Frevel 1992, S. 24

[9] vgl. Hausmann 2005, S. 100

[10] Fischer 2001, 94

[11] vgl. Wünch 1998, 44

[12] vgl. Zenger 1992, 10f

[13] vgl. Wünch 2001, 37

[14] vgl. Holland/Steinhoff 1995, 245

[15] vgl. Frevel 1992, 32

[16] vgl. Holland/Steinhoff 1995, 242

[17] vgl. Frevel 1992, 33

[18] vgl. Fischer 2001, 90

[19] Zenger 1992, 27

[20] vgl. Fischer 2001, 91

[21] ebd., 100

[22] vgl. Wünch 1998, 59

[23] vgl. Zenger 1992, 9

[24] vgl. Zakovitch 1999, 31

[25] vgl. Wünch 1998, 60

[26] Frevel 1992, 11

[27] vgl. ebd., 11

[28] vgl. Hausmann 2005, 117

[29] vgl. Wünch 1998, 31

[30] Zakovitch 1999, S. 44

[31] vgl. Wünch 1998, 32

[32] vgl. Zakovitch 1999, 45

[33] ebd., 46

[34] vgl. Fischer 2001, 53

[35] vgl. Wünch 1998, 30

[36] vgl. ebd., 30

[37] vgl. ebd., 31

[38] vgl. Fischer 2001, 55

[39] vgl. Zakovitch 1999, 47

[40] Fischer 2001, 55

[41] vgl. Frevel 1992, 103f

[42] vgl. Fischer 2001, 164

[43] vgl. Frevel 1992, 68f

[44] vgl. Holland/Steinhoff 1995, 267

[45] Fischer 2001, 164

[46] Schottroff 1992, 59

[47] vgl. Fischer 2001, 56

[48] vgl. Schottroff 1992, 67

[49] Fischer 2001, 57

[50] vgl. ebd., 57

[51] vgl. ebd., 58

[52] ebd., 58

[53] Hausmann 2005, 91

[54] vgl. Zakovitch 1999, 47

[55] vgl. ebd., 62

[56] Kristeva 1990, 85

[57] vgl. Noth 1962, 73

[58] Wünch 1998, 25

[59] vgl. Fischer 2001, 118f

[60] vgl. Wünch 1998, 77f

[61] vgl. Fischer 2001, 116

[62] Genaueres vgl. Punkt 1.4

[63] Wünch 1998, 84

[64] Genaueres vgl. Punkt A 3.4 Die rechtliche und soziale Lage von Witwen

[65] vgl. Wünch 1998, 84

[66] vgl. Holland/Steinhoff 1995, 252

[67] vgl. Wünch 1998, 101

[68] Frevel 1992, 54

[69] vgl. Fischer 2001, 133

[70] vgl. Zenger 1992, 38

[71] vgl. Wünch 1998, 105

[72] Zenger 1992, 39

[73] Genaueres vgl. A 3.1 Leviratsehe

[74] vgl. Fischer 2001, 141

[75] vgl. ebd., 145

[76] vgl. Zenger 37f

[77] vgl. Wünch 1998, 124

Final del extracto de 91 páginas

Detalles

Título
Die Bücher Ruth und Esther der Bibel. Interpretation und Vergleich
Universidad
University of Hannover
Calificación
1,5
Autor
Año
2005
Páginas
91
No. de catálogo
V49454
ISBN (Ebook)
9783638459068
ISBN (Libro)
9783638726931
Tamaño de fichero
1226 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Bücher, Ruth, Esther, Bibel, Interpretation, Vergleich
Citar trabajo
Johanna Klugkist (Autor), 2005, Die Bücher Ruth und Esther der Bibel. Interpretation und Vergleich, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49454

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