Diese Arbeit konzentriert sich auf die gegenwärtigen Integrationsoptionen und -tendenzen der Europäischen Union.
Etwa neun Jahre nach dem Lissabon-Prozess ermisst sich die suprastaatliche Leistungsfähigkeit der EU offenkundig zunächst an ihrer Fähigkeit, nationale und supranationale Herausforderungen auf den internationalen und transnationalen Bühnen suprastaatlich oder zumindest intergouvernemental lösen zu können.
So ist es etwa in der Langfristperspektive als wesentlich anzusehen, dass EU-Institutionen von der Rechtmäßigkeit der "europäischen Governance" zu überzeugen imstande sind, um sich das Vertrauen und die Folgebereitschaft von Bürgern sowie der nationalen Regierungsvertreter ebenso im politischen Prozess zu sichern.
Unter diesen Umständen bleibt weiterhin fraglich, ob die europäische Integration sinn- und zweckgemäß fortgeführt werden kann oder früher oder später aufgegeben werden muss. Letzteres kann demnach nur vermieden werden, wenn sich die EU zukünftig vermehrt auf intergouvernementale Projekte konzentriert und ihre Mitgliedsländer dahingehend unterstützt, dass ein Großteil europäischer Völker hiervon profitieren kann.
Artikel Grin – Suprastaatliche Performanz der Europäischen Union
Thiemo Schiele*
Souveräne Staatlichkeit aufgeben? Ein Beitrag zur Debatte über die suprastaatliche Performanz der Europäischen Union.
Zusammenfassung: Fast neun Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon lassen sich in der Europäischen Union noch immer keine wesentlichen Qualitätsverbesserungen aufseiten einer endogenen Effizienz, Transparenz und Legitimität feststellen. Stattdessen kann aktuell der Eindruck entstehen, die EU sei aufgrund deutlicher Performanzprobleme in mehreren gesellschaftlichen Bereichen und insofern auch fehlender Output-Legitimität weder dazu in der Lage die Folgebereitschaft ihrer Mitgliedsstaaten noch bei der Mehrheit der EU-Bürger sicherzustellen. Dieses Phänomen mangelnder politischer Akzeptanz wird derweil nicht allein am Beispiel des Brexit deutlich, sondern kann gleichermaßen für Bemühungen in mehreren Mitgliedsländern gelten, angesichts einer Vielzahl an sozialen Konfliktherden die nationalstaatliche Souveränität zurückzuerlangen und etwa in Politik und Wirtschaft eigene Lösungswege einzuschlagen. Dem geschlossenen Auftreten der EU auf den globalen Bühnen wird demnach entgegengewirkt, jedoch zwingt die somit im europäischen Mehrebenensystem entstandene Gemengelage EU-Institutionen und -Akteure verlorengegangenes Vertrauen bei nationalen Administrationen und aufseiten der Bürger zurückzugewinnen. Hierfür erscheint es allerdings im Weiteren essentiell, dass Interessen aller Mitgliedsländer und analog ihrer Wahlvölker im fortschreitenden Prozess der europäischen Integration zukünftig hinreichende Berücksichtigung finden.
Schlüsselwörter: Europäische Union (EU), Legitimität, Souveränität, (Über)Staatlichkeit, Prosperität.
Give up the sovereign states now? An Article to the discussion on the current performance of the European Union.
Summary: Nearly nine years after the Treaty of Lisbon come into effect, there are still no significant quality improvements in the European Union on the basis of endogenous efficiency, transparency and legitimacy. Instead, the current impression can be that the EU is neither able to ensure the readiness of its member states nor the majority of EU citizens due to significant performance problems in several areas of society and thus lack of output legitimacy. In the meantime, this phenomenon of lack of political acceptance is not only evident from the example of Brexit, but can equally apply to efforts in several member states to regain national sovereignty in the face of a multitude of social hotspots and to find their own solutions in politics and economy. The closed appearance of the EU on the global stage is therefore counteracted, but the resulting mixed situation in the European multi-level system forces EU institutions and actors to regain lost confidence in national administrations and on the part of the citizens. For this, however, it also seems essential that the interests of all member countries and analogous to their electoral populations are taken into due consideration in the ongoing process of European integration in the future.
Keywords: European Union (EU), Legitimacy, Sovereignity, (Supra) Stateness, Prosperity.
1 Eurokratische Realitätsfiktion seit Lissabon
Mit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hatten letztendlich alle damaligen 27 Mitgliedsstaaten einer völkerrechtlich relevanten Reform der Europäischen Union zugestimmt, welche erst ab dem 1. Dezember 2009 inkrafttrat. Seither erhalten die übernationalen Rechtsetzungsorgane (namentlich das Europäische Parlament und der Europäische Rat) zusätzlichen Einfluss und damit erweiterte Machtbefugnisse, um verstärkt in das nationalstaatliche Handeln der einzelnen Mitgliedsländer intervenieren zu können. Ungeachtet der Rechtsfolgen einer gleichzeitigen Einführung Europäischer Bürgerinitiativen (EBI) als direktdemokratisches Element, ist zudem die Rolle der Europäischen Kommission aufgewertet worden, wonach ihr Gremium im suprastaatlich konstitutionalisierten Gesetzgebungsverfahren agendasetzende und zudem -kontrollierende Funktionen übernimmt. Derweil lassen sich empirisch kaum Hinweise darauf finden, dementsprechend die mit dem Vertrag verbundenen (institutionellen) Anpassungen überhaupt zu signifikanten Qualitätsverbesserungen aufseiten der suprastaatlichen Effizienz, Transparenz sowie Legitimität der EU geführt haben. Nicht zuletzt ermöglichten schließlich dahinweisende Verheißungen verantwortlicher Politiker (in den Mainstream-Medien) bei den Bürgern[1] genügende Zustimmungswerte in den wiederholten Referenden in Frankreich (2008), den Niederlanden (2008) sowie Irland (2009).[2] Einer vergleichsweise „komplikationsärmeren“ Zustimmung in allen anderen Mitgliedsländern kam es insofern eher entgegen, dass dort in Angelegenheiten völkerrechtlicher Abkommen Volksabstimmungen nicht obligatorisch vorzunehmen sind.[3] Die EU bleibt also ein weitestgehend fremdlegitimiertes Staatengebilde, das ohne genuine Volkssouveränität auskommen soll.[4]
In der Forschungstradition Lipsets, Eastons und Scharpfs wird die Legitimation politischer Strukturen durch das Volk ebenso als Qualitätsmerkmal demokratischen Regierens angesehen wie dabei angewandte Verfahren zur Partizipation von Bürgern, deren Identifikation mit dem System und seinen politischen Akteuren. Das bereits vielseits mit Recht bemängelte ‚demokratische Defizit‘[5] der EU scheint sich allerdings im Widerspruch hierzu in den vergangenen Jahren wesentlich verschärft zu haben. Demgemäß driften Reformanspruch und Verwaltungsrealität weiterhin allmählich diametral auseinander, weil Schwächen des Systems kaum mehr ausgeglichen werden können, ohne dabei wesentliche Teile der ursprünglichen Verträge zu ignorieren.[6] Dieses Missverhältnis zwischen der Konstitution und dem politisch-administrativen Handeln der EU erzeugt auf den supranationalen und globalen Bühnen neue Herausforderungen, denen auf nationaler und intergouvernementaler Ebene oft mehr Lösungsmöglichkeiten zugeschrieben werden. Solche „politischen Dauerbaustellen“ eignen sich besonders dazu, das jüngst intendierte (politische und wirtschaftliche) „Zusammenwachsen Europas“ zum „EU- Superstaat“ etwa aufgrund mangelhafter Kompromiss- und Konsensfähigkeit zu erschweren oder gar endgültig zu verhindern. Insoweit bleibt weiterhin unklar, ob die europäische Integration in der Langfristperspektive überhaupt sinnvoll fortgesetzt werden kann oder dort indes Desintegrationstendenzen und Mitgliederschwund überhandnehmen. Für Ersteres erscheint es vonseiten der supranationalen Ebene aber notwendig, geeignetere Anreize zur Kooperation mit und zwischen den Mitgliedsstaaten zu schaffen, damit die Akzeptanz der EU und ihr Handeln bei nationalen Regierungsvertretern sowie den Wahlvölkern gesteigert werden kann. Eine hochgradig bürgernahe EU eignet sich offenkündig noch am besten die Folgen eines Übergangs zur „Postdemokratie“[7] abzumildern, die schon jetzt mit einer Schwächung politischer Institutionen, der Machtzunahme bei Wirtschaftslobbyisten, Privatisierungen und/oder Sozialabbau einhergehen. Insbesondere derartige Fehlentwicklungen westlicher Demokratien führen schließlich mit der Zeit bei vielen Herrschaftsunterworfenen zu Politikverdrossenheit und mangelhafter Bürgerbeteiligung.
2 Gegenwartsbezogene Politik im Schatten wachsender Herausforderungen
Mit Blick auf die zurzeit dringlichsten Herausforderungen der Staatengemeinschaft (Demokratie- und Legitimitäts-, Euro-, Finanz- und Verschuldungskrisen, drohende Handelskriege, zunehmende Schwierigkeiten in der Bekämpfung illegaler[8] Migration sowie des transnationalen Terrorismus) büßt sie an Problemlösungs-Kompetenz ein. Letzteres kann jedoch schwerlich ohne negative Auswirkungen für ihre suprastaatliche Output-Legitimität [9] und gleichwohl wichtigste Legitimitätsgrundlage bleiben. Dahingehende Emergenzen einer Schwächung der Staatlichkeit und somit nachteilige Effekte auf die nationale Regierbarkeit der EU-Länder werden hinlängst durch eine Reihe theoretischer sowie empirischer Studien bestätigt.[10]
Bei Lichte betrachtet konnte die weitgehend inkrementalistische (also auf Versuch und Irrtum aufbauende) EU-Governance[11] der letzten eineinhalb Dekaden nur leidlich dazu beitragen, Ursachen weiter oben adressierter Problematiken effizient zu beseitigen. Angesichts jener Ineffizienz der suprastaatlichen Institutionen sind Austrittsbestrebungen wie der Brexit oder katalonische Unabhängigkeitsinitiativen nicht als Ursachen, sondern Wirkungen teils exogener, teils endogener sozialer und wirtschaftlicher Divergenzen zu identifizieren. Dies kann gleichsam für neuerliche Bemühungen der Visegrád-Staaten, Österreichs, Italiens, Dänemarks sowie Schwedens – etwa hinsichtlich illegaler Migration – gelten, welche auf den Rückzug auf nationalstaatliche Souveränität abzielen. An den diesbezüglichen Verhältnissen wird zunehmend deutlich, dass suprastaatlich bis zuletzt weniger die internationalen Beziehungen der EU-Mitgliedsländer (und einiger Beitrittskandidaten) zueinander vertieft worden sind als vielmehr die Gräben zwischen ihnen. Dementsprechend lässt auch eine nicht unerhebliche Menge der europäischen Länder kaum mehr den Rückschluss auf die freiwillige Folgebereitschaft bezüglich gemeinsamer Vereinbarungen zu. Ähnliches kann für die Legitimitätsüberzeugungen der den „Abweichler-Staaten“ subsumierbaren Wahlvölker mit Blick auf diverse gesellschaftliche Sphären angenommen werden.[12] Und aufseiten des politischen Inputs der EU finden sich in der Tat seit 15 Jahren zunehmend zentrifugale Entwicklungen. Diese lassen sich beispielsweise anhand der nationalen sowie supranationalen Partizipationswerte und Wahlergebnisse der letzten eineinhalb Dekaden nachvollziehen und umfassend analysieren (s. Abbildung 1/Abbildung 2):
Abbildung 1: Wahlbeteiligung bei Europawahlen seit 1979
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Europäisches Parlament 2014.
[...]
* Thiemo Schiele ist freier Politikwissenschaftler und Absolvent des ehemaligen Bachelorstudiengangs „B.A. Politik- und Verwaltungswissenschaft“ sowie auch des Konsekutivstudiengangs M.A. Governance“ an der Fernuniversität in Hagen (Westfalen).
[1] Unter „Bürgern“ werden hier sowohl männliche als auch weibliche Individuen zusammengefasst. Im Weiteren wird zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit von einer „gendergerechten Sprache“ abgesehen.
[2] Vgl. Maurer/Ondarza 2012: 7; 8; 13; 23; 35; 38; 40; 46; 117; 150.
[3] Vgl . Leibfried 2010: 45-46.
[4] Vgl. Abbas/Förster/Richter 2015: 7-12; Grimm 2015: 17-18.
[5] Scharp f 2009: 250; 254; 255 vgl. Strohmeier 2007: 24; 25; Voßkuhle 2012: 5-6.
[6] Vgl. u. a. Enderlein 2010: 10; Ohr 2012: 26; 27 Geppert 2013: 11-13.
[7] Vgl. Crouch 2004; Bäthge/Holtkamp 2012: 5ff.
[8] Im Sinne sämtlicher Länderverfassungen der EU-Mitglieder handelt es sich um illegale Migration, wobei selbst der Europäische Gerichtshof (EUGH) hierin in seinem Urteil vom Juli 2017 keine Ausnahmen zuzulassen bereit gewesen ist.
[9] Vgl. Braun/Schmitt 2009: 63; kursiv im Original; Franzen 2016: 40; 41; 42).
[10] Vgl. Schäfer 2009: 166; 167; 168; Scheller 2012: 10-13; Kriesi 2013: 627; 224; Bressanelli et al. 2003: 1115; 1116; Frelak et. al. 2015: 38-46; Knelangen 2012: 36.
[11] In Anlehnung an Benz et. al. 2009: 17, kann Governance hier vereinfacht als „Regieren“ verstanden werden. Es umfasst also sämtliche staatlichen und nicht-staatlichen Regelungsformen gesellschaftlicher Sachverhalte innerhalb einer bestimmten Gebietskörperschaft.
[12] Vgl. Weiss 2015: 11-16; Lang 2015: 17-21.
- Arbeit zitieren
- Thiemo Schiele (Autor:in), 2018, Souveräne Staatlichkeit aufgeben? Die suprastaatliche Performanz der Europäischen Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/496286
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