Konkordanzdemokratie in Österreich: Entwicklung und Wandel


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

28 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Zum Begriff „Konkordanzdemokratie“
1. Bedeutung des Kompromisses
2. Theoretische Voraussetzungen
3. Typische Strukturprinzipien

III. Historische Entwicklung in Österreich
1. Die Erste Republik
2. Die Zweite Republik
a) Die ersten Jahre
b) Durchsetzung des Proporzgedankens
c) Das Ende der Großen Koalition
d) Neue Strategien
e) Wandel der Parteienlandschaft

IV. Merkmale der österreichischen Konkordanzdemokratie
1. Ausgangspunkte
2. Kernelemente
3. Wandel der Politikstruktur
I. Generationenwechsel
II. Auflösung dominanter Lagermentalitäten
III. Veränderung der Parteienlandschaft
IV. Regierung als eigenständiger Akteur
V. Erosion des Korporatismus
VI. Neue Wirtschaftspolitik
VII. Veränderte Außenpolitik
4. Zusammenfassung

V. Die Zukunft des österreichischen Konkordanzmodells
1. Notwendige Reformen
2. Aktuelle Tendenzen
3. Das Ende der Konkordanzdemokratie?

VI. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„In Österreich herrscht Windstille“[1] - so die Zustandsbeschreibung der österreichischen Demokratie des bekannten österreichischen Politikwissenschaftlers Anton Pelinka im Jahr 1985. Pelinka kritisierte die politische Unbeweglichkeit und den Reformstillstand auf der „Insel der Seligen“, wie Österreich häufig bezeichnet wird, und machte dafür besonders das Politikmodell der Konkordanzdemokratie verantwortlich, wie es in Österreich Anwendung fand. Tatsächlich hatten nach dem Gewitter des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs die politischen Eliten der Großparteien nach dem Gegenteil von dem gesucht, wozu die Erste Republik, die letztlich den Bürgerkrieg vom Damm gebrochen hatte, geworden war. Die Lösung hieß: Konsens statt Konkurrenz. Der Wettbewerb der Parteien um Wählerstimmen sollte relativiert werden und ein Netzwerk von Institutionen sollte gewährleisten, dass jenseits der Regierungsform und den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen eine Balance der Macht garantiert war. Die Zweite Republik war seitdem geprägt von dem Gedanken, dass in wesentlichen politischen Fragen stets ein Konsens gesucht werden müsse und die Suche nach dem politischen Kompromiss den einzig akzeptablen Weg darstellt.

Was fast 50 Jahre für große Stabilität im politischen System Österreichs gesorgt hat, erlebt in den letzten Jahren eine umfangreiche Infragestellung. Die Zeit der „Windstille“ scheint zu Ende zu gehen. Der Konsens und die ausgewogene Machtverteilung der Parteien, diese vormaligen Werte an sich, werden heute in der Öffentlichkeit mitunter als „Packelei“, „Mauschelei“ oder „Postenschacher“[2] tituliert, der konsensstiftende Kitt einer geschichtlichen Negativerfahrung Erste Republik ist endgültig am Ende seiner Funktionalität angelangt.[3] So zeichnet sich seit Mitte der 1980er Jahre, besonders augenfällig aber seit Beginn der ÖVP/FPÖ-Regierung im Jahr 2000, ein Wandel in der Konkordanztradition Österreichs ab, dessen Weiterentwicklung noch nie so stark betrieben wurde und dessen Ende zwar nicht die Ablöse des Konkordanzprinzips in Österreich, aber durchaus eine Stärkung der konkurrenzdemokratischen Elemente bedeuten kann.

Die vorliegende Arbeit soll einen Überblick über die Entwicklung der österreichischen Konkordanzdemokratie geben und Merkmale sowie die angesprochenen Veränderungen näher beleuchten, um die Dimension des diskutierten Wandels der Politiklandschaft in Österreich fassbar zu machen. Dafür erscheint es jedoch praktikabel, im Anfang den Begriff „Konkordanzdemokratie“ im Allgemeinen zu beschreiben, um eine Einordnung in das politische System in Österreich zu ermöglichen. Wegen des eingeschränkten Umfangs dieser Arbeit kann die Diskussion des Für und Wider der Konkordanzdemokratie nur im Ansatz erfolgen. Nicht Bestandteil dieser Arbeit sind institutionelle österreichische Spezifika wie der Regierungsproporz in den einzelnen Bundesländern oder die für die „consociational democracy“[4] in Österreich typische Sozialpartnerschaft.

II. Zum Begriff „Konkordanzdemokratie“

1. Bedeutung des Kompromisses

Vor mehr als 30 Jahren wurde die Theorie der „Konkordanzdemokratie“, „Proporzdemokratie“, des „Korporatismus“[5] oder der „consociational democracy“ zum ersten Mal genauer untersucht. Dieses Politikmodell kann verstanden werden als eine Art Regelsystem, das vor allem zu unterscheiden ist vom Westminster-Parlamentarismus, der besonders auf die Zuweisung von Macht mit Hilfe des Mehrheitsprinzips abhebt. Nach dem Prinzip „votes in exchange for politics“[6] wird der Prozess der Machtzuweisung über den Markt der Wählerstimmen gesteuert. Im konkordanzdemokratischen Regelsystem ist die Bedeutung des Wählerstimmenmarktes deutlich zurückgedrängt, an seine Stelle treten umfangreiche Verhandlungsprozesse zwischen den beteiligten Gruppen.[7] Dadurch wird auch der Einfluss von Minderheiten in den Entscheidungsprozess gewahrt. Zwar gilt das Mehrheitsprinzip nach wie vor als fundamentale Entscheidungsregel, zu einer „Majorisierung“ von Minderheitsgruppen kommt es jedoch nicht oder die Wahrscheinlichkeit dessen wird verringert durch Konsensregeln, die zum Beispiel bei bedeutsamen oder kontroversiell diskutierten Fragen eine einmütige Beschlussfassung vorschreiben. Zudem können institutionelle Beschränkungen wie das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit oder proportionale Besetzung wichtiger Posten, in Österreich augenfällig durch den in den Bundesländern angewandten Regierungsproporz, die Übergewichtung von Minderheiten vorbeugen.[8] Grundsätzlich falsch wäre jedoch die Annahme, Konkordanzdemokratien würden vorwiegend Einmütigkeit anstreben. Vorrangig von Bedeutung ist der Interessenausgleich, um für alle Beteiligten eine zumutbare Kompromisslösung zu finden. Am deutlichsten kam das in der Praxis des „Junktims“ zum Ausdruck, die charakteristisch für die österreichische ÖVP/SPÖ-Koalitionen der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war.[9]

2. Theoretische Voraussetzungen

Nach Arend Lijphart bedeutet „consociational democracy“ die Regierung eines Elitekartells, das dazu angelegt ist, Demokratien mit fragmentierter politischer Struktur zu stabilisieren.[10] Demnach entstehen Konkordanzdemokratien in Gesellschaften, die in „Subkulturen“ aufgesplittert sind, wie zum Beispiel Konfessionen, ideologische Lager oder kulturell geschlossene Sprachgruppen, und aufgrund dessen von Immobilismus und Instabilität bedroht sein können, weil die Mehrheitsbildung schwer fällt. Für Lijphart müssen vier Voraussetzungen gegeben sein, damit „consociationalism“ erfolgreich sein kann:

- Die Eliten müssen in der Lage sein, die mitunter divergierenden Interessen und Ansprüche der einzelnen Subkulturen zu bündeln.
- Die Eliten müssen die Möglichkeit haben, „cleavages“, das heißt gesellschaftliche Bruchstellen entlang von Konfessionen, Sprachgruppen und dergleichen, zu überwinden und mit Eliten anderer Subkulturen zu einer gemeinsamen Anstrengung zusammenfinden.
- Die einzelnen Eliten müssen bemüht sein um die Aufrechterhaltung des Systems und der Verbesserung von Kohäsion und Stabilität.
- Alle diese Voraussetzungen basieren auf der Annahme, dass die Eliten die Gefahr, die von einer gesellschaftlichen Fragmentierung ausgeht, verstehen und akzeptieren.[11]

Die Kooperation der Eliten bestimmt maßgeblich den Erfolg des Konkordanzmodells. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit wird besonders durch externe Bedrohungen oder durch das Gefühl von Schwäche und Verletzbarkeit eines Landes befördert[12], als auch durch eine Machtbalance unter den Subkulturen und das Fehlen einer dominanten Fraktion, was zur Mäßigung von Konflikten beiträgt[13], sowie ein effektiver und anpassungsfähiger Entscheidungsapparat.

3. Typische Strukturprinzipien

Nach Ansicht der Forschung kann es in Ländern, die diese Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen erfüllen, zur Ausformung von Konkordanzdemokratie kommen. Tatsächlich konnte in Gesellschaften wie Österreich, Schweiz, Belgien oder Niederlande trotz tiefgreifender gesellschaftlicher Spaltungen mit Hilfe konkordanter Lösungen ein hohes Maß an Stabilität erreicht werden. Lijphart listet vier Strukturprinzipien auf, die dafür maßgeblich verantwortlich sind:

- Die Bildung von Koalitionsregierungen, die aus mehr bzw. größeren Parteien bestehen, als für eine 50 Prozent-Mehrheit im Parlament notwendig wäre.
- Ein gegenseitiges Vetorecht, das alle Parteien vor Mehrheitsentscheidungen gegen ihre vitalen Interessen schützt.
- Das Prinzip der Proportionalität, wonach jede Partei bei der Besetzung von Positionen im öffentlichen Sektor und bei der Vergabe staatlicher Subventionen Ansprüche entsprechend ihrer Stimmenstärke bei den letzten Wahlen anmelden kann.
- Die weitgehende Autonomie der gesellschaftlichen Segmente[14], das heißt Parteien haben Entscheidungsfreiheit in „inneren“ Angelegenheiten ihrer Segmente.[15]

Solche Konkordanzdemokratien weisen vor allem die Stärke auf, dass die politische und soziale Integration sowie der Schutz der Minderheiten zur obersten Politikmaxime erklärt wird, und dass die Folge von Konsens und Kompromiss eine erhöhte Legitimation als auch Akzeptanz des politischen Systems sind, was wiederum dessen Stabilität fördert. Die Notwendigkeit eines konsenshaften Ausgleichs bringt jedoch auch hohe Transaktionskosten mit sich, was mitunter zu einer Tendenz des Aufschubs schwieriger Probleme führt. Die Vetomacht der einzelnen Parteien kann zu wechselseitigen Blockaden führen und notwendige Innovationen behindern, was die Annahme bestärkt, Konkordanzdemokratien würden am besten in Zeiten des Wohlstands funktionieren.[16]

III. Historische Entwicklung in Österreich

1. Die Erste Republik

Wie schon weiter oben kurz ausgeführt, ging man besonders im Österreich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von der Annahme aus, dass im politischen Prozess weniger die Mehrheitsregel als die Konkordanzregel gelte, dass also die Anwendung einer knappen Mehrheit unpraktikabel sei und in wesentlichen politischen Fragen stets ein Konsens wenigstens zwischen den großen Parteien gesucht werden müsse. Zu dieser Einsicht kam man jedoch nicht von heute auf morgen, vielmehr war eine historische Entwicklung und Erfahrung notwendig, um Österreich zur Praxis der Konkordanzdemokratie zu führen, wie sie vor allem nach 1945 charakteristisch wurde. Die Erste Republik von 1918 bis 1933 war geprägt vom vergeblichen Versuch, einen Konsens vor allem zwischen dem sozialdemokratischen und dem bürgerlichen Lager herbeizuführen, die starke ideologische Bindungen innerhalb der Bevölkerung aufwiesen. Der republikanische Parlamentarismus wurde zwar im Sinne des Mehrheitsprinzips interpretiert, beide Lager betrachteten das Parlament aber als eine Art technisches Mittel in dem man entweder, wie es für die bürgerliche Fraktion von Bedeutung war, mittels Mehrheit seine ideologische Position verteidigen oder, wie es auf der anderen Seite für die Sozialdemokraten stimmte, in dem man mit 51 Prozent der Stimmen die Gesellschaft zum Sozialismus transformieren wollte. Diese Prädispositionen führten 1933 dazu, dass das rechte Lager das Parlament ausschaltete, um dadurch ihre vermeintlich letzte knappe Mehrheit zu nützen und Österreich vor der Machtübernahme der Linken zu schützen. Der darauf folgende Bürgerkrieg prägte sich trotz seiner Kürze und beschränkten Ausdehnung im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung ein. Wie das Ende des Grundkonsenses das Ende der Ersten Republik markierte, so bedeutete das Bemühen darum den Beginn der Zweiten Republik.[17]

[...]


[1] Pelinka, Windstille, 1985, S. 154.

[2] Vgl. Fallend, Regierungsproporz in der Krise, 1997, S. 23.

[3] Pelinka, Die geänderte Funktionalität von Vergangenheit und Vergangenheitspolitik, 2001, S. 42.

[4] Lijphart, The Politics of Accomodation: Pluralism and Democracy in the Netherlands, 1968.

[5] Dieser Begriff bezeichnet vor allem eine Beziehung zwischen Staat und Verbänden und be­schreibt wegen dieser verengten Sichtweise das Modell weniger umfassend und konkret als die anderen vorgestellten Begriffe.

[6] Almond, Comparative Politics, 1966, S. 55.

[7] Fallend spricht von einer Bändigung der „in ‚Lagern’ organisierten Gruppen“ in Österreich; vgl. Fallend, Regierungsproporz in der Krise, 1997, S. 24.

[8] Vgl. Lehmbruch, Das konkordanzdemokratische Modell, 1991, S. 15-16.

[9] Lehmbruch, Das konkordanzdemokratische Modell, 1991, S. 17.

[10] Lijphart, Consociational Democracy, 1969, S. 216.

[11] Lijphart, Consociational Democracy, 1969, S. 216.

[12] Für Adriano Pappalardo ist diese Argumentation nicht schlüssig. So würde zwar die Zusam­men­­arbeit der Großen Koalition in Österreich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der Annahme Lijpharts entsprechen; eine „internal solidarity“ wurde hingegen nicht während der Krisenzeit der Ersten Republik befördert; vgl. Pappalardo, The Conditions for Conso­ciational Democracy, 1981, S. 376-377.

[13] Kritiker wenden hier ein, dass die Mäßigung der Konflikte nicht die Folge sondern vielmehr die Voraussetzung für konkordanz­demokratische Arrangements sei. So sei die Koalitions­bildung in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg eher ein Indiz für ein schon erfolgtes Abflachen des Konfliktniveaus gewesen; vgl. Pappalardo, The Conditions for Conso­ciational Democracy, 1981, S. 367-375.

[14] Vgl. dazu die Kritik von Pappalardo, The Conditions for Consociational Democracy, 1981, S. 382-384.

[15] Vgl. Lijphart, Democracy in Plural Societies, 1977, S. 21-44. Diese Merkmale zusammen bilden einen Idealtypus. Empirisch sind sie aber niemals voll zutreffend.

[16] Vgl. Abromeit, Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, 1993, S. 177-183.

[17] Vgl. Gerlich, Zu den Grenzen der Mehrheitsdemokratie in Österreich, 1986, S. 181-184.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Konkordanzdemokratie in Österreich: Entwicklung und Wandel
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Kleinere europäische Demokratien im Vergleich
Note
1,8
Autor
Jahr
2003
Seiten
28
Katalognummer
V49663
ISBN (eBook)
9783638460491
ISBN (Buch)
9783638659758
Dateigröße
643 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konkordanzdemokratie, Entwicklung, Wandel, Kleinere, Demokratien, Vergleich
Arbeit zitieren
Stefan Meingast (Autor:in), 2003, Konkordanzdemokratie in Österreich: Entwicklung und Wandel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49663

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