Der sowjetische Revolutionsfilm. Die Ideologie des Bolschewismus als formalistische Montagetheorie


Trabajo Escrito, 2017

16 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


INHALT

1. EINLEITUNG

2. ENTSTEHUNG DES REVOLUTIONSFILMS

3. WAHRHEIT UND VISION

4. BEWEGUNG UND KOLLISION

5. ZUSCHAUER UND EMOTION

6. FAZIT

7. LITERATURVERZEICHNIS

8. FILMVERZEICHNIS

9. INTERNETQUELLEN

1. EINLEITUNG

Was bedeutet ein Schnitt im Film? Ein Augenblinzeln? Eine Zeitreise? Eine Raum- krümmung? Oder der Schlag zweier Feuersteine, aus dem ein neuer Funken entsteht?

Die Theorien der russischen Formalisten, insbesondere in Bezug auf die Filmmontage, gelten als eine der ersten, aber auch als eine der einflussreichsten Filmtheorien weltweit. In den hauptsächlich in den 20er Jahren verfassten Texten liegen die Quellen von Meisterwerken wie Dziga Vertovs „Der Mann mit der Filmkamera“1, Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“2 oder Vsevolod Pudovkins „Mutter“3. Die Vielzahl an Schriften sind zur ewigen Inspirationsquelle für spätere Filmemacher und zum Diskussionsthema unter Cineasten geworden.

Im Folgenden möchte ich die grundlegenden Theorien der wichtigsten Vertreter des russischen Formalismus vorstellen und der Frage nachgehen, inwiefern die formalis- tischen Montagetheorien die Ideologie des Bolschewismus unterstützten.

2. ENTSTEHUNG DES REVOLUTIONSFILMS

Jede neue Phase der Filmgeschichte hat ihre Initialzündung. Dabei lässt sich diese meistens mehr oder weniger genau datieren, etwa aufgrund eines oder mehrerer Filme, die eine neue Art der Gestaltung aufzeigen. Bei der Geschichte des russischen Revolutionsfilms lässt sich die Geburtsstunde aber punktgenau auf den 27. August 1919 datieren. An diesem Tag erließ Lenin das „Film-Dekret“, das die „Zusammenarbeit der Filmindustrie und der Fotounternehmen mit dem Kommissariat für Unterrichtswesen und Volksaufklärung“ regelte. Das Potenzial des Films als mächtige Propagandamaschine wurde erkannt. Lenin sagte dazu im Jahre 1922: „Der Film ist für uns die wichtigste aller Künste“4. Stalin bekräftigte dies zwei Jahre später mit den Worten „Der Film ist das stärkste Agitationsmittel für die Masse. Unsere Aufgabe besteht darin, es wirksam in die Hände zu nehmen“5. Der Staat hatte nun die komplette Macht über die Filmindustrie und durfte die Produktion und den Handel mit dem Film und dessen Materialien bestimmen oder Erzeugnisse beschlagnahmen (vgl. LAWRENJEW 1960: 18). Die Absichten der kommunistischen Machthaber waren völlig klar, doch für die Filmemacher, die zuvor aufgrund des Bürgerkriegs Schwierigkeiten hatten, ihre Kunst überhaupt weiterzuführen, war die Verstaatlichung eine Rettung, da sie zu den am meisten geförderten Künstlern der Sowjetunion wurden (vgl. LAWRENJEW 1960: 7).

Immer wenn Kunst zu einem politischen Instrument wird, gerät die Wahrheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Propaganda versteht Wahrheit nicht einfach als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern als Werkzeug, um Massen zu bewegen. Es ist also nicht verwunderlich, dass Lenin zunächst vor allem die Produktion von Wochenschauen und kleinen Dokumentarfilmen vorantrieb. Sein Ziel war es, die kommunistischen Ideen in die „sowjetische Wirklichkeit“ einzubetten - der „Sozialistische Realismus“ war geboren. Dafür wurden junge Filmemacher quer durch das Land geschickt, um Ereignisse aus dem Alltag des Volkslebens, aber auch von den Bürgerkriegsfronten zu dokumentieren. Die Masse des Volkes rückte in den Vordergrund der Filme, die damit den revolutionären Gedanken widerspiegelten und den Kampf gegen das bürgerliche Regime mit vollendeten. Für die neue Generation der Filmemacher bedeutete die Erfahrung dieser dokumentarischen Wochenschaufilme ein ganz neues Fundament, da der russische Film zuvor von aufwändigen Kostümhistorienfilmen geprägt war (vgl. LAWRENJEW 1960: 9).

3. WAHRHEIT UND VISION

Durch die politischen Gegebenheiten und den dokumentarisch-filmischen Ausdruck ergab sich ein Spiel mit der Wahrheit. Entscheidend für den sowjetischen Film der 20er Jahre ist, dass die Filmemacher „nicht nur die Realität festhalten, sondern sie auch verändern wollten“ (MONACO 2013: 478, Erstausgabe 1977). Dadurch ergibt sich eine Diskussion der Begriffe „Expressionismus“ und „Formalismus“, die beide dem Realismus entgegen- stehen.

Den Expressionismus im Film kennt man vor allem aus den 1920er Jahren in Deutschland, geprägt von Regisseuren wie Lang, Wiene oder Murnau. Filme wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“6 (Wiene, 1920) oder „Metropolis“7 (Lang, 1927) sind dabei von einer expressiven Kraft gekennzeichnet, die klar nach außen hin gerichtet ist und sich visuell vor allem im Kostümbild, Bühnenbau und Schauspielstil niederschlägt.

Der Formalismus hingegen arbeitet rationaler und analytischer. Er ist auf einer wissenschaftlichen Ebene an dem Zusammenspiel von Form und Funktion in der Kunst interessiert (vgl. MONACO 2013: 478, Erstausgabe 1977). Die Formalisten konstruieren ihre eigene Filmwelt erst durch „Abweichung von und Veränderung der realen Welt […], etwa durch Montage und Bildgestaltung“ (ELSAESSER/HAGENER 2013: 26). Ist das Fenster ein Symbol für das realistische Kino, etwa wie bei den Gebrüdern Lumière, wenn der ankommende Zug in „L'arrivée d'un train à La Ciotat“8 (1896) nur einen Ausschnitt aus der Realität darstellt und auch neben der Kamera weiter existiert, ist der umgebende Rahmen eine Metapher für die Organisation des Filmmaterials, zum Beispiel in Form der Mis en scène oder der Montage (vgl. ELSAESSER/HAGENER 2013: 26f.). Es war der Rahmen, der das Interesse der russischen Formalisten weckte.

Die russischen Filmemacher, allen voran Vertov, Eisenstein und Pudovkin, fingen an filmtheoretische Texte zu verfassen, die ein sich ständig über Jahre oder im Fall von Eisenstein sogar Jahrzehnte veränderndes formalistisches Gedankengebäude erschufen. Für sie war klar, dass sich praktizierende Avantgarde und theoretische Arbeit nicht ausschließen, sondern sogar einander bedingen (vgl. ELSAESSER/HAGENER 2013: 34).

Dziga Vertov gehörte dabei zu den Pionieren, als er seine theoretischen Arbeiten mit seiner Praxis als Wochenschaufilmer verband. Im Jahre 1919, dem Jahr des Film-Dekrets Lenins, gründete Vertov die Filmgruppe „Kinoki“ (übersetzt: „Filmnarren“), die sich drei Jahre später mit dem Manifest „Wir. Variante eines Manifestes“ kritisch mit der herkömmlichen Inszenierung von Filmen auseinandersetzt und eine Neuformulierung der Filmsprache fordert (vgl. LAWRENJEW 1960: 9).

Das Manifest beginnt mit der Feststellung, dass das gegenwärtige russisch-deutsche Filmdrama „Humbug“ sei und sich nach der Vergangenheit sehne. Auch der amerikanische Abenteuerfilm sei „ohne Fundament“ und vermisse eine analytische Haltung der Bewegung. Die Zukunft des Filmemachens sollte durch den Tod von theatral- isierten Kinoformen schnellstmöglich erfolgen. Die Entwicklung, dass verschiedene Künste wie Musik, Literatur und Theater sich vermischen und im Film wieder zueinander finden, sei abzulehnen, da sie allesamt „schlechtere Farben“ wären, die sich zusammen nur zu Dreck mischen könnten. Man müsse das eigentliche Material des Kinos finden: die Bewegung. Dabei gebe es keinen Grund, das Medium mit psychologischen Inhalten zu füllen, da dies die Verbindung von Mensch und Maschine nur erschwere. Der Mensch selbst sei sogar aufgrund seiner Unfähigkeit sich frei von seinen Bewegungen leiten zu lassen, zu vernachlässigen. Im Gegensatz dazu sollte die Maschine in den Mittelpunkt gerückt werden. Wenn die Seele der Maschine enthüllt sei, sei ein neuer Mensch erzogen. Die Neuschöpfung, „der neue Mensch“, verbinde sich mit der Maschine und werde erst damit ein „dankbares Objekt für die Filmaufnahme“. Das Manifest schließt mit der Herausstellung der Wichtigkeit der Bewegung und der geometrischen Bildgestaltung als den entscheidenden filmischen Konzepten. Die Montage verknüpfe diese beiden Konzepte - die Organisation des Materials führe zu einem „rhythmische[n] künstlerische[n] Ganze[n]“ (vgl. VERTOV 1922: 19-23).

Auffällig ist, dass das Manifest die Rolle der Maschine in der menschlichen Lebensrealität positiv sieht und gesellschaftliche Hoffnungen mit ihr verbindet, während im deutschen Expressionismus die Maschine, ja Technologie insgesamt endzeitliche Spannungen evoziert. In „Metropolis“ (Lang, 1927) etwa, einem Film, der auf der marxistischen Sicht des Kapitalismus basiert, wird die Maschine als Werkzeug der Unterjochung der Arbeiter angesehen und steht damit im krassen Gegensatz zu Vertovs Vision von der positiv besetzen Verbindung von Mensch und Maschine im Kommunismus.

1922, im Erscheinungsjahr des Manifests, fing Dziga Vertov an, seine berühmten Wochenschauen „Kino-Pravda“ (übersetzt: Kino-Wahrheit) zu produzieren. Dabei arbeitete er teilweise mit Eisensteins späterem Kameramann Eduard Tissé zusammen (vgl. LAWRENJEW 1960: 9f.). In 23 Ausgaben thematisierte Vertov den Aufbau der Sowjetunion. Teilweise leistete er sich allerdings auch kritische Beiträge, wie gleich in der ersten Ausgabe zu Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung im Land (vgl. „Kino- pravda no. 1“, VERTOV, UdSSR, 1922).

Während seiner Arbeit an den Wochenschauen kristallisierte sich für Vertov seine Theorie des Dokumentarischen heraus, nach der Wahrheiten gezeigt werden sollten, die für das bloße Auge nicht sichtbar sind. Inszeniert werden sollte aber gleichzeitig auch nicht (vgl. SCHLICHTER 2011). Festgehalten sind seine Theorien dazu in dem 1924 herausgebrachten Kurzessay „Kinoglaz“ (übersetzt: „Filmauge“).

Der selbstbewusste Text beschreibt, wie Vertovs Methoden der „Kinopravda“-Reihe das russische Kino beeinflusst hätten und wie sie sogar als ein Wendepunkt in die Geschichte eingehen würden. Nun sollte die Arbeit vertieft werden und die „Erkundung des Lebens bis zu einem möglichen Maximum“ (VERTOV 1924: 40) gesteigert werden. Dafür fasst Vertov in seinem Text noch einmal den Ansatz der Formalisten zusammen und beschreibt, wie sie trocken die Fakten aufnähmen, sie dann organisierten, um sie in das Bewusstsein der Arbeiter zu bringen. Die Aufgabe des Kinoglaz sei der Kampf gegen die „bürgerliche Kinematographie“. Dafür stellt Vertov ein Reglement auf, nach dem die Kinoki arbeiten sollten. Die Kamera sollte von einem Beobachtungsposten filmen und geduldig auf den aufzunehmenden Moment warten. Dabei sei es wichtig, künstlerische und naturalistische Aspekte abzulehnen und sich auf die Aufnahme von Bewegung zu konzentrieren. Ein wichtiger Hinweis für alle Aufnahmen lautet, dass die Kamera unsichtbar sein solle (vgl. VERTOV 1924: 39-41).

Interessanterweise stellt der bekannteste und einflussreichste Film Vertovs diesen Hinweis auf den Kopf. „Der Mann mit der Kamera“ (1929) ist ein dokumentarischer Film, der sich zum Genre der Stadtsinfonien zählen lässt. Stadtsinfonien sind in den 20er Jahren populär gewordene dokumentarische Werke, die sich mit dem Stadtleben befassen; meistens sind die Sequenzen so montiert, dass sie einen ganzen Tag der Stadt abbilden.

Eine bekannte andere Stadtsinfonie ist beispielsweise „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“ (Ruttmann, 1927). Stadtsinfonien haben meistens keine konkrete Handlung und keinen Protagonisten. Daher erklärte schon der deutsche Walter Ruttmann die Montagearbeit als die wichtigste schöpferische Arbeit an einem Film. Drehbücher werden nicht umgesetzt; der Rhythmus wird vom Schnitt diktiert (vgl. PRÜMM 2011: 61f.).

„Der Mann mit der Filmkamera“ wurde in verschiedenen Städten gefilmt und soll das Leben des Volkes in einer typischen russischen Stadt an einem Tag abbilden. Die besondere formalistische Qualität in dem Film liegt an dem innerfilmischen Umgang mit extrafilmischen Begebenheiten des Mediums Film. Ein besonderes Motiv des Films ist das Spiel mit der Diegese. Der Film beginnt in einem Kinosaal, während wir, die Zuschauer, zu sehen sind, die erwartungsvoll Platz nehmen und sich den Film im Folgenden angucken werden. Weiterhin wird nicht nur der Film selbst gezeigt, sondern auch, wie er entstanden ist. Im Stil eines Making-Of sehen wir den titelgebenden Kameramann, der für waghalsige Einstellungen Gebäude hochklettert und die von Vertov geforderte Kinoglazsicht von oben einnimmt und Realitäten abfilmt. Teilweise wird die Kamera hier, wie in einer Schwebe über der Stadt mithilfe einer Doppelbelichtung gezeigt. Die Autonomie der Kamera ist erreicht.

Die Vision eines mechanischen Auges zeigt sich dann besonders in der Schlusssequenz, in der sich die Kamera autonom ohne Kameramann bewegt und zum Schluss animalisch- maschinell zurück in den Kamerakasten einklappt. Die Metapher „Kinoglaz“ als mechanisches Auge, das die klare Wahrheit einfängt und allsehend ist, wird durch den Film immer wieder in Form einer Doppelbelichtung (Auge-Kamera) gezeigt. Auch andere Augensymboliken werden von Vertov verwendet. So wird am Anfang etwa der Lichtspalt gezeigt, durch den der Film projiziert wird. Das Öffnen von Jalousien und Fenstern zu Beginn des Films, ist wie ein Augenöffnen beim Aufwachen. Dies wird sehr deutlich in einer Szene, in der ein Augenblinzeln mit dem Öffnen und Schließen einer Jalousie gegengeschnitten wird.

Vertovs Geschick mit einer wahrheitsstiftenden und teilweise experimentellen Montage lässt sich auch an anderen Beispielen finden. Dabei legt der Regisseur darauf wert, die Bedeutung des Verhaltens der Menschen durch die Bewegung von Maschinen zu erklären. Dies passt zu Vertovs Vision, „durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen“ (VERTOV 1923: 33) zu schaffen. So zeigt der Film bei Minute 9:18 eine assoziative Montage des Aufwachens, indem die Bewegung eines vorbeirauschenden Zuges von einem aufstehenden Menschen aufgenommen wird.

Sogar die Montage selbst ist Thema des Films. So sehen wir bei ca. einem Drittel Laufzeit des Films eine Sequenz in einem Schnittraum, wo einzelne Filmstreifen mit Aufnahmen von Reaktionen von Kindern auf etwas für uns Zuschauer Unsichtbares zu sehen sind. Nun wird gezeigt, wie die Editorin des Films, Elizaveta Svilova, Ehefrau von Dziga Vertov, die Reaktionen montiert. Uns als Zuschauer scheint der Zusammenhang zunächst unklar, bis kurz vor Schluss eine Sequenz mit einem Zauberkünstler, der Tricks aufführt, die Reaktionen aufnimmt. Auch als Filmlaie versteht man nun die konstruktivistische Macht der Montage. Zwei Realitäten für sich, die zeitlich und räumlich voneinander getrennt waren - die Reaktion der Kinder und der Zauberkünstler - wurden so nebeneinander montiert, dass es eine zwar sinnhafte Szene ist, die aber so nie stattgefunden hat. Vertov ist hier seiner eigenen formalistischen Vision von 1923 entgegengekommen: „Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein Baumeister. Indem ich die Aufnahmen […] untereinander verbunden habe, […] ist es mir gelungen […] eine Kino-Phrase zu konstruieren“ (VERTOV 1923: 32f.).

4. BEWEGUNG UND KOLLISION

Jede Revolution lebt davon, dass eine kritische Masse der Bevölkerung vom Pathos einer Ideologie angesteckt wird, um sich in Bewegung zu setzen und die Politik zu verändern. Wie erläutert, erkannte Vertov die Bewegung auch als Essenz des Kinos. Damit war er unter den russischen Formalisten nicht alleine. Sergej Eisenstein entwickelte seine Theorien der Montage aus einer umfassenden Lehre der Biomechanik heraus (vgl. LENZ 2008: 28f.).

Daher ist es nicht verwunderlich, dass für Eisenstein der menschliche Körper bei der Komposition und der Montage im Mittelpunkt steht (vgl. LENZ 2008: 23). Um einen Inhalt überzeugend im Film darzulegen, ist es wichtig, „das Innere […] vollständig in äußerer Bewegung aus[zu]drücken“ (LENZ 2008: 31). Dadurch ergibt sich laut Eisenstein ein ewiger Konflikt zwischen dem Bewegungsimpuls und der Trägheit des Körpers (vgl. LENZ 2008: 32). Um die Trägheit zu überwinden, ist es wichtig, dass die Ausdrucksgesten aus einer Gesamtbewegung herrühren, da sonst das Ergebnis grimassenhaft wird (vgl. LENZ 2008: 30). Die Bewegung steht also nie alleine da, sondern ist in einem großen Ganzen zu verstehen, in dem Impulse und wechselseitige Bewegungen sich einander bedingen. Daraus folgt, dass innere Absichten sich nicht einfach formen, sondern sich aus den Abhängigkeiten der Trägheitsverhältnisse ergeben, die biomechanisch bedingt sind. Für die Montage bedeutet dies, dass die zeitliche Anordnung von Einstellungen nicht willkürlich ist, sondern dem Rhythmus der Körperorganik folgt. Die Zeit wird von der Montage also nicht mehr metrisch-rhythmisch organisiert, sondern nach dem Bewegungsfluss und hat damit keine Dauer mehr (vgl. LENZ 2008: 32-35). Ein besonderes Augenmerk legt Eisenstein in der Praxis auf den Schwebezustand, den sogenannten „raccourci“, bei dem die Bremsenergie aus der vorherigen Bewegung entnommen wird und sich dann sprungartig in eine neue Bewegung entlädt (vgl. LENZ 2008: 33). Dies vergleicht Eisenstein mit dem chemischen Prozess des Wechsels zwischen Aggregatzuständen. Die plötzliche Entladung der Bewegung hat einen besonders starken Effekt auf den Zuschauer und schafft einen pathetischen Sprung (vgl. LENZ 2008: 43).

Mit dem Verhältnis von Bewegung und Gegenbewegung legt Eisenstein also die Grundlage zu seiner Theorie der intellektuellen Montage, nach der die Konfrontation zweier Bilder ein drittes Gedankenbild ergeben (vgl. LENZ 2008: 37). Dies ist ein klar dialektisches Modell: Aus These und Antithese erfolgt die Synthese.

Diesen Zugang zur Montage erklärt Eisenstein in seinem Text „Dramaturgie der Film-Form - Der dialektische Zugang zur Film-Form“ von 1929. Ein zentrales Anliegen, das Eisenstein hier vertritt, ist die Grundlage der dialektischen Philosophie, die er als „Bestehen als ständiges Entstehen aus der Rückwirkung zweier konträrer Widersprüche“ (EISENSTEIN 1929: 278) auffasst.

Für Eisenstein ist Kunst immer auch Konflikt: in ihrer Mission, ihrem Wesen und ihrer Methodik. Die Methodik ist für Eisenstein wie für alle Formalisten klar als Bildgestaltung und Montage definiert. Dabei bezieht sich Eisenstein allerdings nicht auf eine Montage, die verbindende Beziehungen zwischen den Bildern sucht, sondern lässt Bilder miteinander kollidieren, sodass aus der Kollision ein Gedanke entsteht. Hierzu vergleicht Eisenstein das filmische System der Montage mit der japanischen Schrift, wo zwei für sich stehende Zeichen wie beispielsweise „Tür“ und „Ohr“ nach Kollision die Bedeutung „lauschen“ ergeben. Aus zwei konkreten Worten entsteht ein abstrakter Begriff. Dieses Modell untersucht Eisenstein im Film, indem er analysiert, woher der Bewegungseindruck beim Betrachten von mehreren Einzelbildern nacheinander rührt. Aus zwei unbeweglichen Frames einer Körperbewegung entsteht bei schnellem Abspielen des Films ein Bewegungseindruck. Dies geschieht laut Eisenstein nicht aufgrund einer Verschmelzung der Bilder, sondern aufgrund einer Überlagerung eines zusätzlich entstehenden Gedankens in Form der Bewegung zwischen den beiden unterschiedlichen Status der Einzelbilder.

[...]


1 Dziga Vertov: „Человек с киноаппаратом“, UdSSR, 1929

2 Sergej Eisenstein: „Броненосец Потёмкин“, UdSSR, 1925

3 Vsevolod Pudovkin: „Мать“, UdSSR, 1926

4 in: LAWRENJEW 1960: 18

5 in: LAWRENJEW 1960: 18

6 Robert Wiene: „Das Cabinet des Dr. Caligari“, Deutschland, 1920

7 Fritz Lang: „Metropolis“, Deutschland, 1927

8 Auguste Lumière und Louis Lumière: „L'arrivée d'un train à La Ciotat“, Frankreich, 1896

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Detalles

Título
Der sowjetische Revolutionsfilm. Die Ideologie des Bolschewismus als formalistische Montagetheorie
Universidad
Design Akademie Berlin
Calificación
1,3
Autor
Año
2017
Páginas
16
No. de catálogo
V496749
ISBN (Ebook)
9783346006899
ISBN (Libro)
9783346006905
Idioma
Alemán
Palabras clave
film, revolution, russland, sowjetunion, 1918, dziga vertov, eisenstein, pudovkin, udssr, bolschewismus, kuleshov, montage, schnitt, filmgeschichte, filmtheorie, filmwissenschaften, politik, osten
Citar trabajo
Frithjof Stückemann (Autor), 2017, Der sowjetische Revolutionsfilm. Die Ideologie des Bolschewismus als formalistische Montagetheorie, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/496749

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