Musikalitätstheorien und Konzepte der musikalischen Begabungsförderung in Deutschland


Thèse de Bachelor, 2018

42 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Musikalische Begabung: Begriffs- und Gegenstandsbestimmung
2.1. Musikalische Begabung
2.2. Messbarkeit von Musikalitat
2.2.1. Musikalitatstests- allgemeine Grundlagen
2.2.2. Seashore Measures of Musical Talents
2.2.3. Goldsmith Musical Sophistication Index (Gold- MSI)

3. Musikalitat- vererbt oder erlernbar?
3.1. Konzepte der Entwicklung musikalischer Fahigkeiten
3.1.1. Neurobiologische Ansatze
3.1.2. Hirnphysiologische Korrelate der musikalischen Begabung
3.1.3. Gegenstand und Aufgabe der Entwicklungspsychologie
3.2. Anlage- Umwelt- Debatte
3.2.1. Vererbungsthesen
3.2.2. Umwelt und Sozialisation

4. Konzepte zur Begabtenforderung in Deutschland
4.1. Begabtenforderung an Musikschulen
4.2. Wettbewerbe als Forderungsmodell- Jugend musiziert
4.3. Begabtenforderung an Musikhochschulen

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

„Wir sollten uns bemuhen, die Moll- Wirklichkeiten der Begabtenforderung in Deutschland nach Durzu modulieren."- Hans Gunther Bastian Diese AuBerung von Bastian auf einer internationalen Expertenkonferenz zum Thema „Musikalische Hochbegabung: Findung und Forderung" im Jahr 1990 steht sinnbildlich fur die Situation der Begabtenforderung vor 28 Jahren. Moll, im franzosischen mode mineur, also unbedeutender, untergeordneter, unwichtiger Modus, im englischen minor, was so viel wie nebensachlich oder unwichtig be- deutet, stellte zu dieser Zeit den Stand der musikalischen Begabtenforderung in Deutschland dar.1 Wahrend die Deutsche Sporthilfe bereits seit 1967 Fordermittel zur Verfugung stellte sowie deutsche Nachwuchssportler durch zahlreiche wei- tere MaBnahmen unterstutze, um sie in den internationalen Spitzensport zu fuh- ren, so war die Wirklichkeit der musikalischen Begabtenforderung eher jene, die man haufig dem Charakter eines Musikstuckes in Moll zuschreibt, namlich trau- rig. Begabtenforderung in der Musik wurde als Ausgabe und nicht als Investition gesehen. Es fehlte der Weitblick, dass fur musikalische Erfolge die Basis, also die grundlegende Forderung von kleinen Kindern, erforderlich ist. Doch gluckli- cherweise bildet Moll in der Musik ein Begriffspaar mit Dur, sie bilden ein gemein- sames System und teilen sich eine Bedeutungsgeschichte. Ein Stuck in Moll kann mit ein wenig Einsatz und Geschick nach Dur gefuhrt werden. Der mode majeur steht fur etwas Wichtiges, sehr GroBes, die englische Bezeichnung major fur be- deutend und gibt einen Ausblick auf die Moglichkeiten und Chancen, die eine gute musikalische Begabtenforderung bieten. Musik kann GroBes und Bedeuten- des schaffen, wenn man musikalisch begabte Kinder und Jugendliche zu heraus- ragenden musikalischen Personlichkeiten erzieht. Doch was bedeutet Musikalitat und musikalische Begabung und welche Moglichkeiten haben wir, diese Kinder und Jugendlichen zu erkennen? Mit diesen Fragen und der Oberlegung, ob wir in Deutschland eine Dur- Realitat erreicht haben und unsere Konzepte der musi­kalischen Begabungsforderung ausreichend und durchdacht sind, soll sich die vorliegende Arbeit beschaftigen.

2. Musikalische Begabung: Begriffs- und Gegenstands- bestimmung

2.1. Musikalische Begabung

Die Frage nach einer Definition von musikalischer Begabung ist nicht einfach zu beantworten, da es keine allgemein gultigen Kriterien fur musikalische Menschen gibt. Auffallig ist, dass die Begriffe Musikalitat, musikalische Begabung sowie Ta­lent haufig synonym gebraucht werden. Betrachtet man den Begriff musikalische Begabung, so beinhaltet dieser zwei unterschiedliche Aspekte. Erstens ist die „Musikalitat als Merkmal der menschlichen Spezies"2 zu sehen, die sich zweitens in unterschiedlich starker Auspragung bei Individuen zeigt. Gembris gibt folgende Arbeitsdefinition von musikalischer Begabung: Musikalische Begabung ist das jedem Menschen in unterschiedlichem MaBe angebo- rene, durch die Umwelt beeinflusste und durch Ubung zu entwickelnde Potential, Musik emotional zu erleben, geistig zu verstehen und durch Singen, Spielen und Komponie- ren, Improvisieren schaffen zu konnen. Musikalische Begabung zeigt sich in universel- len und kulturspezifischen musikalischen Fahigkeiten (z.B. Horfahigkeiten, Singen, Aus- drucksfahigkeit auf einem Instrument etc.) und in co- musikalischen Eigenschaften (z.B. Bedurfnis nach Musik, intrinsischer Motivation, Gestaltungswillen)."3

Anhand dieser Definition von Gembris lasst sich zeigen, wie diffus, unklar und vielschichtig der Begriff der musikalischen Begabung ist. Musikalische Begabung ist etwas Angeborenes, das durch die Umwelt gefordert oder gehemmt werden kann und sich nicht von alleine, sondern nur durch kontinuierliches Oben entwi- ckelt. Der Begriff umfasst nicht nur das reine Musizieren, sondern ebenfalls das Horen sowie die theoretischen Aspekte von Musik. In den verschiedenen Musik- kulturen, der westlichen, asiatischen, afrikanischen usw. und deren Subkulturen, entstehen domanenspezifische Anforderungen an musikalische Leistung und so- mit an herausragende musikalische Fahigkeiten. Wahrend man in unserer Mu- sikkultur dem klassischen Instrumentalspiel eine groBe Rolle einraumt, nehmen viele Menschen im Iran beispielsweise Kompositionsunterricht. AuBerdem for- dern auch die musikalischen Stile und Genres, wie Klassik, Jazz, Pop usw., un­terschiedliche Fahigkeiten, wie z.B. prazises Spielen nach Noten im Gegensatz zur Improvisation.

Der Begriff Musikalitat ist somit dem stetigen Wandel des Musikbegriffes, asthe- tischen Wertvorstellungen und der kulturellen Kontexte, in denen er gesehen werden soll, unterworfen. Neben der Komplexitat des Begriffes Musikalitat gibt es auch fur den Begabungsbegriff keine einheitliche Definition. Der Begabungs- begriff ist wie der Begriff der Musikalitat abhangig von „Wertvorstellungen, Welt- anschauungen, gesellschaftlichen Interessen [sowie] wissenschaftlichen Para- digmen."4 5 Es ist daher wichtig zu sehen, dass es kein einheitliches und verbind- liches Konzept musikalischer Begabung gibt und mehrere unterschiedliche Be- gabungsbegriffe in der Musik koexistieren. Auf einem Kongress 1985 erklarten Musikpadagogen, dass sich musikalische Begabung in folgenden Punkten zeigt:

„1. FruherZeitpunkt, an dem ein Kind musikalisch initiativ wird;
2. Rasches, vergleichsweise problemloses musikalisches Lernen;
3. Die Betatigung am Instrument bereitet viel SpaB, so daB das Kind im Wesentlichen intrinsisch motiviert ist;
4. Beim Uben und Spielen zeigt das Kind groBe Konzentration und Ausdauer;
5. In der Musik kann der Begabte etwas von seiner Person zum Ausdruck bringen.“5

In der Musikpadagogik ist es wichtig zu sehen, dass niemand als unbegabt gilt, Kinder jedoch eine individuelle musikalische Entwicklung durchlaufen und unter­schiedliche Lerntempi besitzen. Hervorzuheben ist hierbei, dass man davon aus- geht, dass musikalisch begabte Kinder fruhzeitig musikalisch aktiv werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie bereits im Kleinkindalter ein Instrument erler- nen oder von ihren Eltern zu musikalischen Aktivitaten gedrangt werden, sondern freiwillig und durch eigene Initiative, z.B. Singen oder sich zu Musik bewegen, das Bedurfnis nach Musik zeigen. Was Gembris in seiner Definition als co- mu­sikalische Eigenschaften bezeichnet, z.B. SpaB an der Musik, eigene Motivation sowie der Gestaltungswille, spielt auch aus musikpadagogischer Sicht eine wich- tige Rolle. Anders als bei Gembris versucht die Musikpadagogik nicht festzule- gen, in welchen musikalischen Fahigkeiten sich Musikalitat auBern kann, son­dern legt den Fokus auf den Entwicklungsprozess. Neben der Entwicklungspsy- chologie geben Disziplinen wie Neurowissenschaft und Expertisenforschung wichtige Impulse zur Erforschung der Entwicklung musikalischer Begabung.6

2.2. Messbarkeit von Musikalitat

2.2.1. Musikalitatstests- allgemeine Grundlagen

1805 verfasste Michaelis seine Abhandlung „Ueber die Prufung musikalischer Fahigkeiten", welche als fruhes Beispiel fur das padagogisch motivierte Interesse gelten kann, die Art und den Grad musikalischer Fahigkeiten zu messen. Seither wurden uber die Jahrzehnte diagnostische Verfahren entwickelt, welche sich hin- sichtlich der zu testenden Altersgruppen und der Anwendungsziele unterschei- den. Ihr Aufbau ist inspiriert durch die theoretischen Modelle der Intelligenzfor- schung. Bei der multifaktoriellen Theorie wird „Musikalitat als Zusammenspiel verschiedener, weitgehend unabhangiger Faktoren bzw. spezifischer Einzelfa- higkeiten wie Tonhohenunterscheidungsvermogen, Lautstarkewahrnehmung, Tondauer- Oder Klangfarbenwahrnehmung"7 betrachtet. In Tests, denen diese Theorie zu Grund liegt, werden die einzelnen Dimensionen getrennt berechnet und einzeln aufgefuhrt, sodass sich die Starken und Schwachen direkt ablesen lassen. Im Gegensatz hierzu stellt das „Generalfaktor- Modell Musikalitat als eine ganzheitlich geschlossene Fahigkeit [dar], die sich letztlich nicht voneinander iso- lierte Teilfahigkeiten auseinanderdividieren laBt."8 In Tests, die auf Grundlage dieser Theorie aufgebaut sind, werden verschiedene musikalische Fahigkeiten, z.B. rhythmische, melodische oder harmonische, als unterschiedliche Merkmale von Musikalitat begriffen und ein Gesamtwert aus verschiedenen Subtests be­rechnet. AuBerdem lassen sich musikbezogene Testverfahren in verschiedene Arten von Test unterteilen. Zunachst die Begabungs- und Musikalitatstests, wel­che unabhangig von Lernerfahrung das angeborene Potential an musikalischen Fahigkeiten (aptitude) messen. „Musikalische Begabungstests sollen die Auf- gabe erfullen, subjektive Urteile uber Grad und Auspragung musikalischer Fahig­keiten durch ein theoretisch begrundetes und auf einheitlichen Kriterien beruhen- des Beurteilungsverfahren zu ersetzen bzw. zu erganzen."9 Die zweite Art, die musikalischen Leistungstest, prufen Fahigkeiten, die durch Unterricht und Trai­ning erlernt wurden (achievement).

Dies ist jedoch kritisch zu sehen, da die aktuellen Testverfahren auf zu erbrin- gender Leistung beruhen und genau genommen immer Fertigkeiten messen, die zumeist erlernt und trainiert werden konnen. Deshalb wird in der heutigen Zeit meist der neutrale Oberbegriff Musiktest gewahlt. Des Weiteren erfassen Unter- suchungen die vokale und instrumentale Leistung (perfomance) sowie musikali- sche Einstellungen, Urteile und Vorlieben (attitude, preference). Neben der For- schung als wichtiges Anwendungsgebiet der Musikalitats- und Leistungstests konnen diese auch wichtige padagogische Funktionen erfullen, z.B. um die Aus- wirkungen und Effektivitat von FordermaBnahmen zu uberprufen. Zudem werden Musikalitatstest zur Prognose kunftiger musikalischer Entwicklung und Leistung genutzt, um beispielsweise besonders begabte Schuler zu finden und zu fordern. Zu beachten ist jedoch, dass zeitgenossische Musiktests nie alle musikalischen Fahigkeiten und co- musikalische Eigenschaften von Musikalitat beurteilen und uberprufen konnen. Haufig werden nur rezeptive Fahigkeiten, wie die Fahigkeit Lautstarken- und Tonhohenunterschiede oder Rhythmusveranderungen wahrzu- nehmen, gepruft. Die meisten Musikalitatstests sind erst ab einem Alter von acht Jahren anwendbar, d.h. eine klare Trennung zwischen angeborenen Dispositio- nen und erlernten Fahigkeiten ist nicht mehr zu erkennen. Das musikalische Po­tential ist hierbei immer durch das Lernen und die Umgebung beeinflusst.10 Bei der Konstruktion von Musikalitatstests werden dieselben Gutekriterien verlangt, wie es auch bei klassischen Testtheorien, z.B. bei Intelligenztests, der Fall ist. Objektivitat wird durch Konstanz in der Durchfuhrung und durch eindeutige Ver- fahrensweisen bei der Auswertung sowie der Interpretation der Testergebnisse erreicht. Das zweite Kriterium ist die Validitat als Kriterium der Gultigkeit der Er- gebnisse. Diese unterscheidet sich in die inhaltliche Validitat, bei der die Aufga- ben des Tests identische sein mussen, mit den Personlichkeitsmerkmalen, die durch den Test erfasst werden mussen, und die prognostische Validitat, welche durch eine Abschatzung des Potentials durch die Testergebnisse und den Ver- gleich mit einer erzielten Leistung in z.B. einer Abschlussprufung ermittelt wird. Als drittes Kriterium ist die Reliabilitat als MaB fur die Zuverlassigkeit der Tester­gebnisse zu sehen. Als einer der ersten standardisierten Musikalitatstests ist der Seashore measures of musical talents zu sehen.11

2.2.2. Seashore Measures of Musical Talents

Der Seashore measure of musical talents oder Seashore- Test fur musikalische Begabung ist nach seinem Erfinder Carl Seashore benannt. Der Test erschien erstmals im Jahr 1919 und wurde 1939, 1956 und 1960 uberarbeitet. Der Test kann ab 10 Jahren angewendet werden und wird im Gegensatz zu anderen Mu- sikalitatstests auch bei Erwachsenen durchgefuhrt werden. Das Testverfahren dauert ca. 60 Minuten und ist in folgende sechs Subtests gegliedert.

1. ,,Tonhohe: Es werden Tonpaare unterschiedlicher Tonhohe vorgespielt, der Pro­band muss entscheiden, ob der zweite Ton hoher oder tiefer ist als der erste. Durch naher beieinanderliegende Tonhohen steigt der Schwierigkeitsgrad im Verlauf der Durchfuhrung (50 Items).
2. Lautstarke: Die Vorgehensweise ist analog zur Tonhohe (50 Items).
3. Rhythmus: Es werden Paare rhythmisierter Melodien aus 5-7 Tonen im 2/4. % und 4/4 Takt vorgespielt, der Proband muss entscheiden, ob sie gleich oder verschie- den sind. Das Tempo ist konstant bei Viertel = 90 M.M. Auch hier steigt der Schwie­rigkeitsgrad im Verlauf der Durchfuhrung (30 Items).
4. Tondauer: Die Vorgehensweise ist analog zur Tonhohe und zur Lautstarke (50 Items).
5. Klangfarbe: Hier werden den Sinustonen kunstliche Obertone hinzugefugt. Wieder werden Tonpaare vorgespielt, wobei beim jeweils zweiten Ton der dritte Oberton abgeschwacht und der vierte Oberton verstarkt wurde. Der Proband muss entschei­den, ob die Tonpaare gleich oder verschieden klingen. (50 Items).
6. Tongedachtnis: Es werden Melodiepaare aus 3-5 Tonen vorgespielt. Der Proband muss entscheiden, der wievielte Ton eines Paares gegenuber der ersten Darbie- tung verandert wurde (30 Items)."12

Der Subtest zur Klangfarbenunterscheidung wurde erst nachtraglich hinzugefugt und ersetzte den ursprunglichen Konsonanztest. Der Test fuBt auf der Annahme Billroths, dass der Grundlage von Musikalitat die Wahrnehmung von musikali- schen Parameter, wie Tonhohe und Rhythmus etc., zu Grunde liegt. Nach einer Anwendung des Seashore- Tests an mehr als 2000 Musikstudenten, bei welcher sich kaum Schwankungen zeigten, nahm Seashore dieses Ergebnis als Beweis, dass sein Test nur angeborene und keine erlernten Fahigkeiten misst.13 Die Test- aufgaben des Seashore- Tests verlangen ein hohes Differenzierungsvermogen. Die geringste Lautstarkendifferenz beim Lautstarkentest betragt gerade Mal 0,5 Dezibel. Zudem ist zu kritisieren, dass die Konzentrationsleistung im Laufe eines Tests abnimmt.

Bei Seashore steigt die Schwierigkeit innerhalb der einzelnen Subtests an und die Items werden nicht randomisiert angeboten, weshalb eine Abnahme in der Aufmerksamkeit und Konzentration nicht berucksichtigt ist.14 AuBerdem ist zu kri- tisieren, dass die Objektivitat also z.B. die Konstanz bei der Durchfuhrung nicht gewahrleistet ist, da die Instruktionen sehr ungenau sind. Zudem ist es proble- matisch, dass bei einer Durchfuhrung des Tests mit 100 Personen, alle im Raum, einen Lautstarkenunterschied von 0,5 dB wahrnehmen konnen sollen. Daruber hinaus wollte Seashore keine externe Validierung seines Tests durch beispiels- weise den Vergleich mit Lehrerurteilen und beschrankte sich auf eine Inhaltsva- liditat, „indem er behauptete, sein Test ermittle die grundlegenden Merkmale der Musikalitat, weil die verlangten Wahrnehmungsleistungen bezuglich Tonhohe, Lautstarke, Dauer und Klangfarbe den physikalischen Eigenschaften der Schall- welle, namlich Frequenz, Amplitude, Dauer und Form, entsprechen."15 Nach der anfangs gegebenen Arbeitsdefinition von Musikalitat misst der Seashore- Test fur musikalische Begabung also lediglich die musikalischen Fahigkeiten, welche sich durch Forderung und Obung entfalten. Das Potential Musik zu erleben, zu verstehen oder zu schaffen, findet ebenso wenig Berucksichtigung wie die co- musikalischen Eigenschaften. Neuere Musikalitatstest, wie z.B. der Gold- MSI- Fragebogen, beziehen diese Aspekte der musikalischen Erfahrenheit mit ein.

2.2.3. Goldsmith Musical Sophistication Index (Gold- MSI)

Der Goldsmith Musical Sophistication Index misst Musikalitat, bzw. musikalische Erfahrung, mit Hilfe eines Selbstauskunftsbogens sowie einer Vielzahl von prak- tischen Tests. Im Gegensatz zu den ersten Musikalitatstests, wie z.B. dem Se­ashore- Test, werden viele Facetten der Musikalitat, z.B. das Komponieren, Mu- sikkritik und Musikvermittlung sowie Empathie, also das Gespur eines DJs fur Musik, die andere horen wollen, berucksichtigt. Das bedeutet, dass der Gold- MSI, im Gegensatz zu anderen jungeren Tests, versucht „uber das Testen ele- mentarer Fahigkeiten hinauszugehen und komplexe musikalische Leistung zu er- fassen."16 Entwickelt wurde dieser englischsprachige Fragebogen vom BBC Lab UK aus dem Gedanken heraus, dass fast alle wissenschaftlichen Analyseinstru- mente zur Untersuchung von Musikalitat sich auf das Spielen von Instrumenten fokussieren und Fahigkeiten ignorieren, welche notwendig sind, um sich auf an­dere Weise mit Musik zu beschaftigen. Die Arbeiten von Hallam und Prince, wel­che eine differenziertere und breitere Auffassung von Musikalitat suggerierten, veranlassten Mullensiefen dazu, neue Messhilfen nach diesen Ideen zu entwi- ckeln. Er nahm an, dass musikalische Erfahrenheit durch aktive Beschaftigung mit Musik entsteht und sich durch haufiges Ausuben musikalischer Fahigkeiten, einem groBen Repertoire an musikalischen Verhaltensweisen und groBerer Leichtigkeit bzw. Genauigkeit beim Ausuben musikalischen Verhaltens gekenn- zeichnet ist. Der Gold- MSI beschaftigt sich mit funf Faktoren musikalischer Er­fahrung, welche jeweils in verschiedene Unterbereiche geteilt sind. Diese funf Faktoren umfassen den aktiven Umgang mit Musik, die musikalische Wahrneh- mungsfahigkeit, die musikalische Ausbildung, die gesanglichen Fahigkeiten und den Bereich der Emotionen. „Diesem Ansatz liegt der Gedanke zugrunde, dass sich der differenzierte und erfahrene Umgang mit Musik nicht nur durch das Er- lernen eines Instruments oder durch die formale Auseinandersetzung mit klassi- scher Musik lernen lasst, sondern auch durch den aktiven Umgang mit Musik in vielen anderen Formen."17 In verschiedenen Studien wurden diese Bereiche der musikalischen Erfahrung getestet. Zunachst wurde 2011 ein Selbstauskunftsbo- gen mit 70 Fragen uber das BBC Lab UK online zur Verfugung gestellt.

In einer zweiten Untersuchung wurde eine uberarbeitete Version des Fragebo- gens im selben Verfahren mit 38 Items online getestet und ausgewertet. Nach- dem die erste und zweite Studie die Eignung der Fragen und Strukturfaktoren des Selbstauskunftbogens bestatigt hatten, sollte eine dritte Studie die Reliability und Validitat untersuchen. Die Untersuchungen eins bis drei zeigten anhand ei­ner groBen Gruppe von Testpersonen, dass der Gold- MSI gute psychometrische Eigenschaften in Bezug auf den Inhalt besitzt und die Retest- Reliabilitat zuver- lassig ist. AnschlieBend wurde in einer vierten Studie die Ergebnisse der Gold- MSI mit den Ergebnissen zweier spezifischen Hortests abgeglichen, um den Zu- sammenhang zwischen musikalischen Fahigkeiten und dem Fragebogen zu be- urteilen. In einem Test zum melodischen Gedachtnis sollten zwei kurze Melodien verglichen und angegeben werden, ob diese Melodien gleich sind oder nicht. Zu- dem wurde die Wahrnehmung des Schlags der Musik getestet. Hierfur sollten die Probanden bestimmen, ob in einem Auszug eines Stuckes ein gleichzeitig pra- sentierter Klick auf oder neben dem Schlag der Musik ist. Eine abschlieBende funfte Studie bestimmt den Grad der musikalischen Erfahrung, um zu erkennen, ob musikalische Erfahrenheit und Leistung mit soziookonomischen Variablen, ei- nerseits dem Grad des musikalischen Obens, andererseits der aktiven Beschaf- tigung mit Musik, in Zusammenhang stehen.18 Um diese Annahmen weiter zu testen, untersuchte Mullensiefen 610 Probenden aus Deutschland mit dem Ziel, ein aquivalentes Forschungsinstrument fur den deutschsprachigen Raum zu er- stellen. Hierfur war es zunachst notwendig, eine Obersetzung des Gold- MSI- Fragebogens anzufertigen, bei welcher eine semantische, konzeptionelle und normative Aquivalenz zu dem englischsprachigen Original hergestellt werden sollte. Mit Hilfe mehrerer bilingualer Muttersprachler wurden Obersetzungen ins Deutsche und Ruckubersetzungen ins Englische angefertigt. Der entstandene Fragebogen wurde unter der Berucksichtigung moglichst alle sozialen Schichten und Berufsgruppen zu testen sowie eine breite geographische Verteilung zu er- reichen, an 430 Frauen und 180 Mannern im Alter von 18- 84 Jahren in Deutsch­land getestet.

Diese Untersuchung sollte zeigen, ob die Faktorenstruktur der Deutschen Ver­sion des Gold- MSI kongruent zur englischen Originalversion ist und ein Zusam- menhang zwischen den Facetten musikalischer Erfahrenheit und soziookonomi- schen Variablen besteht. Beim Test des deutschen Fragebogens zeigten sich gute psychometrische Eigenschaften und ein geringer Einfluss soziookonomi- scher Variablen auf musikalische Erfahrenheit, d.h. Musikalitat ist weitestgehend unabhangig von sozialer Schicht. Um die Dominanz des AB- Unterscheidungs- paradigmas unberucksichtigt zu lassen, werden in den Subtests des Gold- MSI vorwiegend realistische Stimuli verwendet, „um zu berucksichtigen, dass der Um- gang mit Musik auBerhalb des Instrumentalunterrichts nur selten Abstraktion und das Herunterbrechen von Musik auf elementare Bestandteile erfordert."19 Neben den bereits genannten Untertests zum melodischen Gedachtnis und der Beat- wahrnehmung sowie dem Fragebogen enthalt der Gold- MSI aktuell noch einen Test zur Soundahnlichkeit. Mullensiefen und seine Kollegen definierten musika­lische Erfahrenheit auf der Grundlage seiner Tests als „psychometrisches Kon- strukt, das musikalische Fahigkeiten, Leistungen und Expertise sowie die dazu- gehorigen Verhaltensmuster auf unterschiedlichen Facetten erfasst. Gekenn- zeichnet ist eine starker ausgepragte musikalische Erfahrenheit generell durch haufigeres Ausuben musikalischer Tatigkeiten, durch Leichtigkeit und Prazision bei der Ausfuhrung musikalischer Umgangsweisen sowie durch ein groBes und starker variiertes Repertoire an musikbezogenen Verhaltensweisen."20

[...]


1 Bastian 1991, S. 5.

2 Oerter und Lehmann 2008, S. 88.

3 Gembris 2010, S. 51.

4 Gembris 2010, S. 50.

5 Kleinen 1986, S. 29.

6 Vgl. Gembris 2009, S. 63- 83 sowie Gembris 2010, S. 49- 53.

7 Gembris 2009, S. 100.

8 Gembris 2009, S. 100.

9 Gembris 2009, S. 109.

10 Vgl. Gembris 2009, S. 100- 110.

11 Vgl. Hemming 2014, S. 112- 116.

12 Hemming 2014, S. 116 f.

13 Vgl. Hemming 2014, S. 116- 118.

14 Gembris 2009, S. 110 f..

15 La Motte-Haber, Kopiez und Rotter 2002, S. 285.

16 Mullensiefen und Hemming 2018, S. 112.

17 Mullensiefen und Hemming 2018, S. 112.

18 Vgl. Mullensiefen et al. 2014.

19 Mullensiefen und Hemming 2018, S. 113.

20 Mullensiefen und Hemming 2018, S. 98.

Fin de l'extrait de 42 pages

Résumé des informations

Titre
Musikalitätstheorien und Konzepte der musikalischen Begabungsförderung in Deutschland
Université
Academy of Music and Arts Hanover
Note
1,7
Auteur
Année
2018
Pages
42
N° de catalogue
V497431
ISBN (ebook)
9783346001443
ISBN (Livre)
9783346001450
Langue
allemand
Mots clés
musikalische Begabung, Musikalität, Begabtenförderung, Vererbungsthesen, Entwicklung von Fähigkeiten
Citation du texte
Veronika Sender (Auteur), 2018, Musikalitätstheorien und Konzepte der musikalischen Begabungsförderung in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/497431

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