„If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas/ Thomas 1938). Das in dieser Form häufig zitierte Thomas-Theorem wird oft als einer der wesentlichen Ausgangspunkte der zunehmenden Relevanz qualitativer Sozialforschung gesehen. Insbesondere aufgrund der Fokussierung der Bedeutsamkeit subjektiver Interpretations- bzw. Definitionsleistungen des Individuums. Die Fruchtbarkeit des Thomas-Theorems zeigt sich vor allem im Zeitraum der 1960er bis 1980er Jahre: Soziologen wie Hans-Peter Dreitzel, Hans Buba, Jürgen Markowitz und Konrad Thomas haben sich explizit dem Konzept der Situation unter entsprechend unterschiedlichen soziologischen Perspektiven angenommen. Der Diskurs um den Begriff der Situation und dessen soziologische Verwendung scheint jedoch – außer beispielsweise von Hartmut Esser – kaum noch weitergeführt worden zu sein.
Eine mögliche Begründung für das Ausbleiben einer weiterführenden expliziten Ausarbeitung eines soziologischen Situationskonzepts, ließe sich eventuell darin finden, dass eben jenes Konzept in anderen soziologischen Grundbegriffen aufgegangen sein könnte. Zumindest bekräftigen die Erläuterungen Reiner Kellers zu den wissenssoziologischen Grundlegungen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann diese Annahme: „Damit ist Thomas’ ‚Definition der Situation’ endgültig in eine umfassende soziologische Theorie der Wirklichkeit eingebettet“ (Keller 2009). Demnach sei das Thomas-Theorem in der Wissenssoziologie (nach Berger und Luckmann) vollständig aufgegangen. Weil Keller einerseits tiefergehende Erläuterungen auslässt und der Situationsbegriff andererseits von Berger und Luckmann nicht als Grundkonzept (wie z.B. der Begriff des Wissens) behandelt und ausgearbeitet wird, soll der folgenden Fragestellung nachgegangen werden: Inwiefern lässt sich auf Basis der Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann ein Konzept der Situation rekonstruieren?
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Allgemeine Erläuterungen zum Konzept der Situation in der Soziologie
- III. Zentrale Konzepte der wissenssoziologischen Grundlegungen von Berger und Luckmann sowie deren Hinweise auf ein Situationskonzept
- 3.1 Habitualisierung und Situation
- 3.2 Typisierung und Situation
- 3.3 Institutionalisierung und Situation
- 3.4 Legitimierung und Situation
- 3.5 Der Dreischritt: Externalisierung - Objektivierung – Internalisierung
- 3.6 Wissen und Situation
- IV. Die zwei zentralen Situationskonzepte
- 4.1 Die Gesellschaftliche Situation
- 4.2 Die Vis-à-vis Situation
- V. Fazit und Ausblick
- VI. Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Rekonstruktion eines Situationskonzepts basierend auf den wissenssoziologischen Grundlegungen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Sie untersucht, inwiefern sich auf Basis ihrer Werke ein Konzept der Situation, wie es im Thomas-Theorem zum Ausdruck kommt, ausarbeiten lässt. Dazu werden zunächst allgemeine soziologische Erläuterungen zum Situationsbegriff gegeben, bevor die zentralen Konzepte der Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann hinsichtlich ihrer Relevanz für ein Situationskonzept analysiert werden.
- Rekonstruktion eines Situationskonzepts aus den wissenssoziologischen Grundlegungen von Berger und Luckmann
- Analyse der Verbindung zwischen dem Thomas-Theorem und der Wissenssoziologie
- Untersuchung der Bedeutung von Habitualisierung, Typisierung, Institutionalisierung und Legitimierung für die Entstehung von Situationen
- Erläuterung der beiden zentralen Situationskonzepte: die Gesellschaftliche Situation und die Vis-à-vis Situation
- Bedeutung des Wissens und der subjektiven Interpretation für die Konstruktion von Situationen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt das Thomas-Theorem als Ausgangspunkt für die Analyse dar und erläutert die Bedeutung der subjektiven Definitionsleistungen für die Konstruktion von Situationen. Sie führt in die Fragestellung ein, die sich mit der Rekonstruktion eines Situationskonzepts auf Basis der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann befasst.
Kapitel II behandelt den allgemeinen soziologischen Begriff der Situation und zeigt die Unterschiede zwischen der alltagsweltlichen Verwendung und einer soziologischen Perspektive auf. Es wird das Thomas-Theorem im Detail erläutert und die Bedeutung der subjektiven und objektiven Elemente von Situationen hervorgehoben. Die Problematik der Einordnung des Situationskonzepts in die Mikro- und Makroebene wird beleuchtet.
Kapitel III analysiert die zentralen Konzepte der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann, insbesondere Habitualisierung, Typisierung, Institutionalisierung und Legitimierung, und untersucht, wie diese Konzepte mit der Entstehung und Entwicklung von Situationen zusammenhängen. Der Dreischritt der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung wird in Bezug auf das Situationskonzept erläutert.
Kapitel IV fokussiert auf die beiden explizit genannten, aber nicht tiefgründig theoretisch ausgeführten Situationskonzepte, die Gesellschaftliche Situation und die Vis-à-vis Situation. Es wird der Zusammenhang zwischen diesen Konzepten und den zuvor dargestellten wissenssoziologischen Grundlegungen untersucht.
Das Fazit fasst die zentralen Ergebnisse zusammen und versucht, die Ausgangsfrage zu beantworten. Es zeigt, inwiefern sich auf Basis der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann ein Konzept der Situation rekonstruieren lässt.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter des Textes sind: Situationskonzept, Wissenssoziologie, Berger und Luckmann, Thomas-Theorem, Habitualisierung, Typisierung, Institutionalisierung, Legitimierung, Gesellschaftliche Situation, Vis-à-vis Situation, subjektive Interpretation, objektive Elemente, Handlungspraxis.
- Quote paper
- Martin Radtke (Author), 2017, Zum Situationskonzept in der Wissenssoziologie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/498026