Familiennachzug im Diskurs. Eine Mixed-Methods Analyse der Online-Berichterstattung in Deutschland von 2013 bis 2018


Tesis de Máster, 2018

103 Páginas, Calificación: 1,2


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Kontext: Familiennachzug
2.1 Begriffsklärung
2.2 Daten zum Familiennachzug

III. Forschungsstand

IV. Theoretische Einbettung
4.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
4.2 Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit
4.3 Zur Rolle der Massenmedien

V. Methodologie
5.1 Mixed-Methods Design und Blended Reading
5.2 Quantitatives Distant Reading
5.2.1 Frequenzanalyse
5.2.2 Kookkurrenzanalyse
5.3 Qualitatives Close Reading: Wissenssoziologische Diskursanalyse
5.3.1 Begriffsklärung
5.3.2 Zentrale Arbeitsschritte der wissenssoziologischen Diskursanalyse
5.3.3 Zur Adaption der Grounded Theory
5.4 Einschränkungen in der Vorgehensweise

VI. Korpusgenerierung

VII. Ergebnisse
7.1 Deskriptive Ergebnisse
7.2 Ergebnisse des Distant Readings: Der Diskurs in seiner Breite
7.2.1 Exkurs: Assoziationsmaße »MI-Score« und »Log Dice« im Vergleich
7.2.2 Familiennachzug, Familienzusammenführung oder Familienzuzug?
7.2.3 Spiegel Online und Süddeutsche Zeitung im Vergleich
7.2.4 Zum zeitlichen Verlauf des Diskurses
7.3 Ergebnisse des Close Readings: Der Diskurs in seiner Tiefe
7.3.1 Prognosen oder: Die Millionen die noch kommen?
7.3.2 Das Bild der Flüchtlingsfamilie als »Sippe«?
7.3.3 Familiennachzug und der Aspekt der Integration
7.3.4 Vom Recht auf Familie(nnachzug)
7.4 Zusammenführung der Ergebnisse

VIII. Fazit & Ausblick

IX. Literaturverzeichnis

X. Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zuwanderung nach Deutschland von 2013 bis 2017 nach Gruppen und Gesamt

Abbildung 2: Entscheidungen über Asylgesuche in Deutschland von 2013 bis 2017 nach Art der Entscheidung

Abbildung 3: Absolute Anzahl der Diskursfragmente nach Quartal und Medium sowie ausgewählte politische Ereignisse (quartalsgenau)

Abbildung 4: Kollokationsnetzwerk zu »familiennach*« (Mi-Score)

Abbildung 5: Kollokationsnetzwerk zu »familiennach*« (Log Dice)

Abbildung 6: Relative Häufigkeit der Suchbegriffe (je 10.000 Token) nach Quartal und Medium

Abbildung 7: Kollokationsnetzwerk zu »familiennach*«; Süddeutsche Zeitung

Abbildung 8: Kollokationsnetzwerk zu »familiennach*«; Spiegel Online

Abbildung 9: Kollokationsnetzwerke zu »familiennach*« für die Jahre 2013 bis

Abbildung 10: Zusammenfassende Darstellung des Diskurses um den Familiennachzug in Deutschland im Zeitraum von 2013 bis 2018.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Selektionsschritte und Artikelanzahl im Rahmen der Korpusgenerierung

Tabelle 2: Absolute Häufigkeit und relativer Anteil der Diskursfragmente nach Jahr/Quartal und Medium

Tabelle 3 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung

Tabelle 4 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung

Tabelle 5 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung

Tabelle 6 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung

Tabelle 7 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung 9, Jahr

Tabelle 8 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung 9, Jahr

Tabelle 9 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung 9, Jahr

Tabelle 10 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung 9, Jahr

Tabelle 11 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung 9, Jahr

Tabelle 12 (Anhang): Kookkurrenztabelle zu Abbildung 9, Jahr

Tabelle 13 (Anhang): Frequenztabelle zu Abbildung

I. Einleitung

Der Familiennachzug subsidiär Schutzbedürftiger ist in Deutschland aktuell bis zum 31. Juli 2018 ausgesetzt (BAMF 2018). Besagter Familiennachzug lässt sich definieren als „[...] eine bedeutsame Form der Zuwanderung von Ausländern mit dem Ziel, auf dem Bundesgebiet das Zusammenleben der Familienmitglieder in der familialen Lebensgemeinschaft zu ermöglichen“ (Lingl 2018: 10). Demnach ließe sich auf eine zentrale Rolle des Familiennachzugs hinsichtlich des Gelingens bzw. Misslingens der Integration von Migranten1 schließen. Eben jene Integrationsfunktion wird insbesondere seit der Wahlkampfphase der Bundestagswahl 2017 wieder kontrovers diskutiert. Ein Aufleben von Diskursen um Migrationsthemen im Allgemeinen ist hingegen spätestens seit der häufig als ‚Krise‘ bewerteten Flüchtlingsthematik in den Jahren 2015 und 2016 zu verzeichnen (Haller 2017). Da es sich bei beiden um mehr oder weniger konkrete Ereignisse handelt, lohnt es sich, eine langfristigere Perspektive einzunehmen, um der unter anderem allgemeinen Frage nachzugehen, inwiefern sich Deutungsmuster im Diskurs um den Themenbereich des Familiennachzugs rekonstruieren lassen und wie sich diese über den Untersuchungszeitraum hinweg verändern.

Die Relevanz der Betrachtung des medial vermittelten Diskurses kann einerseits unter Rückgriff auf die gesellschaftliche Spiegel- und Meinungsbildungsfunktion (Gerhards 2004: 308), andererseits durch die ausgeprägte Selektions- und Deutungsfunktion der Massenmedien (Keller 2010: 211f.) in Bezug auf die gesellschaftliche Relevanzzuschreibung von Ereignissen begründet werden. Weiterhin ist davon auszugehen, dass Diskurse sowohl als Folge als auch als Ursache sozialer Prozesse, Verhaltensweisen und Praktiken zu verstehen sind (Keller 2011: 59). Folgt man den Ausführungen Foucaults (1981: 74), sind Diskurse „[...] als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ Die vorliegende Arbeit stellt sich damit in theoretischer Hinsicht in die Tradition der Wissenssoziologie, welche dem Wissen im Allgemeinen und Diskursen – verstanden als typisierende, institutionalisierende, objektivierende und legitimierende Aushandlungsprozesse der Wissensvermittlung im weitesten Sinne – im Speziellen eine hohe Relevanz in Bezug auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zuschreibt (Berger/ Luckmann 1999). In dieser Hinsicht formulieren Berger und Luckmann (1999: 3) eine Aufgabenstellung der Wissenssoziologie, als dass „[...] auch untersuch[t] [werden muss], auf Grund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von »Wissen« gesellschaftlich etablierte »Wirklichkeit« werden konnte.“

Ausgehend von dieser theoretischen Einbettung, nimmt sich die vorliegende Arbeit unter anderem den folgenden Fragen an:

1. Inwiefern hat sich der Diskurs zum Thema Familiennachzug hinsichtlich seiner Deutungsmuster, seiner beteiligten Akteursgruppen etc. im Zeitraum von 2013 bis 2018 verändert.
2. Welche Akteure treten im Diskurs in Erscheinung?
3. Welche Argumentationsweisen des Diskurses um den Familiennachzug lassen sich rekonstruieren?
4. Inwiefern lässt sich dieser Subdiskurs in den übergeordneten Migrationsdiskurs einordnen und welche weiteren Nebendiskurse schließen sich daran an?
5. Welche Deutungsmuster und Regelmäßigkeiten des Diskurses um den Familiennachzug lassen sich rekonstruieren?

Zur Beantwortung wird ein sequenzielles Mixed-Methods Forschungsdesign angelegt. In Anlehnung an Lemke und Wiedemann (2016) kann dieses auch als ‚Blended Reading‘ bezeichnet werden. Dieses ‚vermischte Lesen‘ bezeichnet den Ansatz, große Textmengen in Zeiten der Digitalisierung und von Big Data für sozialwissenschaftliche Fragestellungen bearbeitbar zu machen, indem ‚Distant Reading‘ – quantitative Analyse der Oberflächenstruktur von Diskursen im weitesten Sinne – und ‚Close Reading‘ – qualitative Analyse der Tiefenstruktur – verknüpft werden (Stulpe/ Lemke 2016: 17ff.). Im quantitativen Teil der Arbeit werden zunächst Frequenzanalysen durchgeführt, aus denen ersichtlich wird, mit welcher Häufigkeit welche Begriffe im Datenmaterial vorkommen und wie sich diese über den Untersuchungszeitraum hinweg verändern (Maas 2016: 233ff.). Neben dem so gewonnenen ersten Überblick über den Analysekorpus, wird dieser dadurch für die anschließenden Kookkurrenzanalysen aufbereitet. Mittels Kookkurrenzanalysen kann bestimmt werden, in welchem Gebrauchskontext ausgewählte Begriffe vorkommen und, ob dieses gemeinsame Auftreten (Kookkurrenz) signifikant ist. Zeigen sich derart typische Verwendungsweisen kann angenommen werden, dass es sich um Bedeutungszusammenhänge handelt, die durch eine qualitative Betrachtung vertiefend analysiert werden können (Förster 2016: 144).

Darauf aufbauend soll im qualitativen Teil der geplanten Arbeit auf die maßgeblich von Keller (2011) ausgearbeitete Perspektive der wissenssoziologischen Diskursanalyse zurückgegriffen werden. Es wird angenommen, dass sich durch die vorhergehenden quantitativen Betrachtungen beispielsweise in zeitlicher Hinsicht Fokussierungsmöglichkeiten ergeben. Dadurch reduziert sich zunächst das zu betrachtende Datenmaterial, sodass ein vertiefender qualitativer Einstieg in die Analyse dessen überhaupt erst in bearbeitbarer Weise möglich wird. Darüber hinaus wird auf das Konzept des ‚theoretical sampling‘ der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996: 148ff.) zurückgegriffen, um eine begründete Auswahl entsprechender Diskursfragmente – also einzelner Artikel – (Keller 2011: 68) zu gewährleisten. Die so ausgewählten einzelnen Diskursfragmente werden sodann hinsichtlich ihrer Situiertheit, ihrer sprachlich-argumentativen Struktur, ihrer Phänomen- bzw. Narrationsstruktur und ihrer Deutungsmuster analysiert (Keller 2011: 97ff.). Durch einen steten Vergleich der verschiedenen Diskursfragmente ergeben sich hinsichtlich der Analysekategorien sowohl Überschneidungen als auch Kontrastierungen, aufgrund derer übergreifende ‚story lines‘ rekonstruiert werden können (ebd.: 113ff.). Diese Form der Verknüpfung quantitativer und qualitativer Analysemethoden ermöglicht es, den Diskurs um den Themenbereich des Familiennachzugs in Deutschland über den Zeitraum von ca. sechs Jahren (2013 bis erstes Quartal 2018) sowohl umfassend als auch vertiefend zu betrachten.

Die vorliegende Arbeit trägt damit einerseits zur Erkenntnis über den bisher nicht untersuchten Diskurs um den Familiennachzug als Subdiskurs des übergeordneten Migrationsdiskurses bei. Andererseits liegt hiermit ein Beitrag zur Anwendung von Text Mining Verfahren in Bezug auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen vor, der diese mit dem genuin qualitativen Ansatz der wissenssoziologischen Diskursanalyse zusammenführt.

II. Kontext: Familiennachzug

Im folgenden Abschnitt wird sich zunächst dem Begriff des Familiennachzugs angenommen. Dazu erfolgt eine Einordnung in den Kontext weiterer Migrationsbegriffe. Da aktuell der Familiennachzug für die spezifische Gruppe der Personen mit subsidiären Schutz ausgesetzt ist, soll auch dieser Begriff bzw. Aufenthaltsstatus näher erläutert werden. Anschließend werden demographische Daten herangezogen, um das Phänomen des Familiennachzugs mit weiteren Migrationsmotiven (Flucht, Arbeitsmigration etc.) kurz zu vergleichen. Auch das quantitative Ausmaß der Zuwanderung subsidiär Schutzbedürftiger soll mit deren weiteren möglichen Aufenthaltsstatus verglichen werden. Auf diese Weise wird gleichzeitig ein relevanter Kontext für die quantitative und qualitative Analyse des Diskurses um das Phänomen des Familiennachzugs bereitgestellt.

2.1 Begriffsklärung

Unter Migration versteht man im Allgemeinen den Prozess der Wanderung von Personen, welche jedoch nicht mit anderen (temporären) Formen des Ortswechsels wie z.B. Tourismus gleichgesetzt wird (Hoesch 2018: 16 & Padel 2010: 78). Dabei kann diese Wanderung in verschiedener Form differenziert werden. Einerseits kann in Binnenmigration und internationale Migration unterschieden werden. Dabei umfasst der Bereich der Binnenmigration die Wanderung von Personen innerhalb eines Staates. Als internationale Migration wird folglich der Migrationsprozess über Staatsgrenzen hinweg verstanden (Hoesch 2018: 56). Der Prozess der Binnenmigration wird aufgrund der inhaltlichen Fokussierung der Arbeit im Folgenden jedoch nicht weiterführend behandelt.

Eine weitere Möglichkeit der Differenzierung besteht hinsichtlich der Richtung der Migration. Hier kann zwischen Immigration und Emigration unterschieden werden. Während der Prozess der Immigration die Wanderung von Personen in ein anderes Land bezeichnet, wird unter dem Prozess der Emigration die Wanderung aus dem bisherigen Land verstanden (Padel 2010: 78). Darüber hinaus können die Gründe für den Migrationsprozess, die Entfernung, die Dauer oder der Aspekt der Freiwilligkeit/des Zwangs der Migration als Dimensionen zur Differenzierung verschiedener Migrationsformen herangezogen werden (Hoesch 2018: 16f.). Basierend auf diesen Dimensionen werden verschiedene Migrationsformen unterschieden, welche wiederum anhand unterschiedlicher Kriterien weiter ausdifferenziert werden können. Zu nennen sind hier im Wesentlichen die Migrationsformen Flucht/Asyl, Arbeitsmigration, die Migration Hochqualifizierter, Familienmigration, irreguläre Migration und transnationale Migration (ebd.: 19ff.). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus jedoch auf dem Prozess der Familienmigration bzw. des Familiennachzugs, sodass die weiteren aufgezählten Migrationsformen nicht ausführlich beschrieben werden können.

Hinsichtlich der Unterscheidung in internationale Migration und Binnenmigration findet Familiennachzug stets im Rahmen internationaler Migration statt (Lingl 2018: 8). Weiterhin konzentriert sich die vorliegende Arbeit jedoch auf den Familiennachzug nach Deutschland und betrachtet daher ausschließlich Immigrationsprozesse – welche aus der Perspektive der migrierenden Personen gleichzeitig auch immer Emigrationsprozesse darstellen.

In Bezug auf weitere Dimensionen kann davon ausgegangen werden, dass es sich beim Prozess des Familiennachzugs „[...] um eine bedeutsame Form der Zuwanderung von Ausländern [handelt] mit dem Ziel, auf dem Bundesgebiet das Zusammenleben der Familienmitglieder in der familialen Lebensgemeinschaft zu ermöglichen“ (Lingl 2018: 10). Bezüglich der Dimension des Migrationsgrundes wird hier festgelegt, dass das Ziel darin besteht, Familienangehörige aus dem eigenen Herkunftsland in das neue Ankunftsland nachzuholen und wieder in das Familienleben Vorort zu integrieren. Die Definition ist in der Herausstellung der Bedeutsamkeit dieser Migrationsform jedoch nicht eindeutig, da unklar bleibt, ob es für die bereits in Deutschland lebenden Migranten oder deren Familienangehörige – beispielsweise in emotionaler Hinsicht – bedeutsam ist oder, ob es sich aus quantitativer Perspektive um eine bedeutsame Migrationsform handelt. Hoesch (2018: 34) hält jedoch fest, dass der Familiennachzug „[...] in den meisten Staaten die quantitativ bedeutsamste Kategorie der Migration [ist]“ (ausführlicher dazu in Abschnitt 2.2).

Gesetzlich geregelt ist der Familiennachzug in Deutschland im sogenannten Aufenthaltsgesetz2, in welchem die generelle Begründung der Gewährung des Familiennachzugs zu ausländischen oder deutschen Familienangehörigen in Deutschland unter Rückgriff auf das Grundgesetz3 begründet wird.

Hinsichtlich der Anzahl der Personen umfasst der Familiennachzug in Deutschland die Ehegatten und minderjährigen Kinder (oder deren Eltern, wenn zunächst die Kinder eingereist sind) des in Deutschland lebenden Familienangehörigen (Hoesch 2018: 36). Die Dauer des Aufenthalts der über den Familiennachzug eingereisten Familienangehörigen wird durch die Aufenthaltsdauer des bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen bestimmt (ebd.: 36f.). Für den zu analysierenden Diskurs ist insbesondere der Aufenthaltsstatus relevant, da sich die Aussetzung des Familiennachzugs bis zum 31.07.2018 nur auf Personen bezieht, die den subsidiären Schutzstatus nach dem 17.03.2016 erhalten haben (BAMF 2018).

Als subsidiär Schutzbedürftige oder auch De-Facto-Flüchtlinge werden Personen bezeichnet, die zwar unter den Sammelbegriff »Flüchtling« fallen, aber im Gegensatz zu anerkannten Flüchtlingen oder De-Jure-Flüchtlingen den Schutzstatus nicht aufgrund der Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention4 (GFK) erhalten (Hoesch 2018: 24). Stattdessen greift hier eine Sonderregelung: Als subsidiär Schutzbedürftige gelten „Flüchtlinge im weiteren Sinne, d. h. Personen, denen zwar nicht nach den engen Kriterien der GFK Schutz gewährt wird, die aber subsidiären Schutz nach Art 33. GFK genießen, wie z. B. Bürgerkriegsflüchtlinge“ (ebd.: 24). Mit der Erteilung des subsidiären Schutzstatus ergibt sich für die jeweilige Person in erster Linie eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr, welche um weitere zwei Jahre verlängert werden und nach fünf Jahren möglicherweise in eine Niederlassungserlaubnis übergehen kann sowie die uneingeschränkte Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit (BAMF 2016a).

In begrifflicher Hinsicht ist nun deutlich geworden, dass der Begriff des Familiennachzugs der Familienmigration zuzurechnen ist, welche einen relevanten Teil des Migrationsgeschehens in Deutschland zu umfassen scheint. Weiterhin wurde diese Migrationsform derart eingegrenzt, dass es sich um eine internationale Form der Migration handelt, die zu einem bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen erfolgt. Darüber hinaus erschien es für den zu analysierenden Diskurs als relevant, subsidiär Schutzbedürftige und anerkannte Flüchtlinge zu unterscheiden. Während die Anerkennung als Flüchtling den engen Richtlinien der Genfer Flüchtlingskonvention unterliegt, stellt der subsidiäre Schutzstatus eine Erweiterung dessen dar und umfasst so z.B. auch Bürgerkriegsflüchtlinge.

2.2 Daten zum Familiennachzug

Während im Vorfeld die begriffliche Einordnung des Familiennachzugs als Migrationsform vorgenommen und der Begriff des subsidiären Schutzstatus erläutert wurde, erfolgt nachfolgend eine Einordnung dessen quantitativen Umfangs in einen größeren Gesamtkontext. Dazu werden zunächst die Hauptmigrationsformen dargestellt, gefolgt von der Verteilung der Bewilligung gestellter Asylanträge nach entsprechender Entscheidungsgrundlage.

In Abbildung 1 sind die Zuwanderungen nach Deutschland für den Zeitraum von 2013 bis 20175 dargestellt. In Bezug auf die verschiedenen Zuwanderungsgruppen ist darauf hinzuweisen, dass hier eine Orientierung an der Einteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF 2015: 52) erfolgt, wodurch die einzelnen Gruppen aufgrund unterschiedlicher Erhebungskriterien nicht zu einer Gesamtzahl addiert werden können. Um diese Einschränkung zu umgehen, wurden Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) zur Gesamtzahl der Zuwanderung ergänzt. Für die Zuwanderung insgesamt (Sekundärachse) ist vom Jahr 2013 mit 1.226.493 zugewanderten Personen bis zum Jahr 2015 ein Anstieg auf 2.136.954 Personen und einem Absinken auf 1.865.122 Personen im Jahr 2016 zu verzeichnen. Während die Zuwanderungsgruppen der Spätaussiedler, der humanitären Aufnahme & Resettlement, der Bildungsausländer, der jüdische Zuwanderer und der Erwerbsmigration für den Zeitraum von 2013 bis 2015 stets unter einer Anzahl von jeweils 100.000 Zuwanderern liegen, umfasst die Gruppe der EU-Binnenmigration die meisten Personen (2013: 707.771 Zuwanderer; 2014: 809.807 Zuwanderer; 2015: 846.039 Zuwanderer) die in diesem Zeitraum nach Deutschland eingewandert sind. Die Anzahl der im Rahmen des Familiennachzugs zugewanderten Personen steigt im Untersuchungszeitraum von 44.311 Personen im Jahr 2013 auf 50.564 im Jahr 2014, 72.659 im Jahr 2015, 103.883 im Jahr 2016 und 117.992 im Jahr 2017. Macht der Anteil der im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland zugewanderten Personen im Jahr 2013 noch ca. 3,61% aus, sinkt dieser in den Jahren 2014 und 2015 auf jeweils ca. 3,45% und steigt anschließend wiederum auf ca. 5,57% im Jahr 20166. Nach den Zuwanderungsgruppen der EU-Binnenmigration und der Bildungsausländer stellt der Familiennachzug in den Jahren 2013 bis 2015 konstant die drittgrößte Gruppe dar. In den Jahren 2016 und 2017 scheint es so als könnte der Familiennachzug zur zweitstärksten Zuwanderungsform tendieren. Ohne vorliegende Zahlen zu den weiteren Formen sowie der Zuwanderung insgesamt können dazu jedoch keine gesicherten Aussagen getroffen werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie sich in der Abbildung 1 zeigt, findet der Anstieg des Familiennachzugs um ca. ein Jahr zeitlich verzögert zur Zunahme der Gesamtzuwanderung statt. Dies ergibt sich daraus, dass Familiennachzug nur stattfinden kann, wenn bereits Familienangehörige in Deutschland leben und diese dazu erst selbst nach Deutschland migrieren müssen. Familiennachzug lässt sich so als zeitlich nachgelagerter Migrationsprozess charakterisieren (Lingl 2018: 2f.). Zusätzlich muss an dieser Stelle betont werden, dass die Möglichkeit des Familiennachzugs nicht ausschließlich von Flüchtlingen und subsidiär Schutzbedürftigen in Anspruch genommen werden kann, sondern z. B. auch von EU-Binnenmigranten. Eine nach Aufenthaltsstatus des in Deutschland lebenden Familienangehörigen aufgeschlüsselte Statistik der Zuwanderung im Rahmen des Familiennachzugs wird jedoch nicht von amtlicher Seite ausgewiesen.

Zur Beurteilung des Anteils der als subsidiär schutzbedürftig anerkannten Flüchtlinge kann auf die Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bzgl. der Entscheidung über Asylgesuche (BAMF 2017: 35) zurückgegriffen werden7. Abbildung 2 zeigt die absolute Anzahl der im Zeitraum von 2013 bis 2017 entschiedenen Asylgesuche. Während die Anzahl der Entscheidungen über Asylanträge von 20.817 Entscheidungen im Jahr 2008 bis auf 80.978 Entscheidungen im Jahr 2013 relativ langsam ansteigt, ist für die Jahre 2014, 2015 und 2016 ein exponentieller Anstieg auf insgesamt 695.733 Entscheidungen im Jahr 2016 zu verzeichnen. Im Jahr 2017 ist für die Anzahl der Entscheidungen über Asylanträge ein leichter Rückgang auf einen Umfang von 603.428 Entscheidungen zu verzeichnen. Hinsichtlich der Entscheidungen kann in Ablehnungen, Anerkennung als Flüchtling, Gewährung von subsidiärem Schutz, dem Vorliegen von Abschiebungsverboten und formellen Entscheidungen differenziert werden. Zusätzlich zu den unter »Ablehnung« aufgeführten Entscheidungen sind auch in der Rubrik »formelle Entscheidungen« beispielsweise vom Antragsteller zurückgezogene Anträge enthalten und umfassen damit überwiegend nicht bewilligte Asylanträge (BAMF 2017: 34).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Für die einzelnen Grundlagen der Antragsbewilligung ist im Zeitraum von 2013 bis 2016 in den meisten Fällen eine Zunahme zu verzeichnen. Es kann Folgendes festgehalten werden: Die Gewährung des subsidiären Schutzstatus sinkt von 7.005 bewilligten Anträgen im Jahr 2013 zunächst auf 5.174 bewilligte Anträge im Jahr 2014 und weiter auf 1.707 Bewilligungen im Jahr 2015. Darauffolgend ist ein Anstieg auf bis zu 153.700 bewilligte Anträge im Jahr 2016 zu verzeichnen. Hingegen sinkt die Anzahl der Bewilligungen im Jahr 2017 auf 98.074 Anträge. Während der Anteil der auf Grundlage des subsidiären Schutzes bewilligten Anträge im Jahr 2013 lediglich ca. 8,65% ausmacht, steigt dieser Wert im Jahr 2016 um mehr als das Doppelte auf ca. 22,09% der insgesamt gestellten Anträge. Im Jahr 2017 ist ein Absinken auf ca. 16,25% der insgesamt entschiedenen Asylanträge zu verzeichnen. Höher ist in allen Jahren jeweils die Anerkennung als Flüchtling mit einem Anteil von ca. 13,48% im Jahr 2013, ca. 25,84% im Jahr 2014, ca. 48,5% im Jahr 2015 sowie ca. 36,81% im Jahr 2016 und ca. 20,53% im Jahr 2017. Geringer hingegen fällt in allen Jahren die Anzahl der Abschiebungsverbote aus (2013: ca. 2,73%; 2014: ca. 1,61%; 2015: ca. 0,73%; 2016: ca. 3,46%; 2017: ca. 6,57%). Insgesamt zeigt sich, dass die Anerkennung subsidiär Schutzbedürftiger in den Jahren 2013 bis 2017 einen Anteil von bis zu ca. 22,09% und damit etwas mehr als ein Fünftel aller Entscheidungen ausmacht. Die Anerkennung subsidiär Schutzbedürftiger bildet demnach die zweitgrößte Kategorie der Bewilligung gestellter Asylanträge.

Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass die Gruppe der im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland Zugewanderten im Jahr 2016 einen Anteil von ungefähr 5% der Gesamtzuwanderung umfasst. Darüber hinaus hat sich in Bezug auf die Bewilligung von Asylgesuchen die Gewährung des subsidiären Schutzes für den gesamten Untersuchungszeitraum als konstant drittstärkste Bewilligungsgrundlage dargestellt. Für die nachfolgende Betrachtung des Diskurses um den Familiennachzug in Deutschland konnte die Migrationsform des Familiennachzugs in einen breiteren Kontext eingeordnet werden. Dennoch erscheint die Datenlage zum Familiennachzug verbesserungswürdig (Lingl 2018: 5f.). So fehlen amtliche Daten, aus denen ersichtlich werden würde, in welchem Umfang der Familiennachzug von welcher Zuwanderungsgruppe in Anspruch genommen wird.

III. Forschungsstand

Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Migrationsdiskurs aus allgemeiner Perspektive nahm ihren Anfang in den 1970er Jahren und wurde seitdem stets fortgeführt. Dabei sind unterschiedliche disziplinäre Perspektiven und methodische Ansätze sowie inhaltliche Fokussierungen auszumachen. In der hier erfolgenden Darstellung des Forschungsstandes soll zwar der Fokus auf der Thematisierung des Diskurses um den Familiennachzug liegen, dennoch ist beabsichtigt ein umfangreicheres Bild der bisherigen Bearbeitung des Migrationsdiskurses zu geben. Dazu kann jedoch nicht im Detail auf sämtliche dazu erschienen Studien eingegangen werden. Vielmehr erfolgen zusammenfassende Darstellung, die exemplarische Schwerpunkte näher beleuchten. Der Forschungsstand bezieht sich überwiegend auf Studien die sich dem Migrationsdiskurs im deutschsprachigen Raum annehmen.

Die erste systematische Auseinandersetzung mit dem Migrationsdiskurs unternimmt Delgado im Jahr 1972 (Bonfadelli 2007: 97 & Merten 1986: 8). In Form einer vorwiegend quantitativen Inhaltsanalyse – jedoch mit qualitativen Anteilen – (Delgado 1972: 17ff.) wird das Bild der Gastarbeiter in der Presse-Berichterstattung herausgearbeitet. Dazu wird auf einen Korpus von 84 Zeitungen aus dem Raum Nordrhein-Westfalen zurückgegriffen, deren Artikel über einen Zeitraum von Mai 1966 bis August 1969 gesammelt und ausgewertet wurden ebd.: 26). Wesentliche Ergebnisse der Untersuchung sind vor allem, dass 1) über den untersuchten Zeitraum die negative Berichterstattung über Gastarbeiter – insbesondere hinsichtlich des Themas Kriminalität – signifikant zunimmt, während gleichzeitig ein signifikanter Rückgang positiver Berichterstattung zu verzeichnen ist (ebd.: 29f.). Weiterhin wird herausgestellt, dass 2) die Zunahme der Kriminalitätsberichterstattung häufig auf bestimmte Nationalitäten (vordergründig: Türkei, Griechenland, Italien, Spanien) bezogen ist (ebd.: 32). Letztlich ist 3) der Wechsel hervorzuheben, welcher in der Berichterstattung gegen Ende des Untersuchungszeitraums zu verzeichnen ist: Hier werden Gastarbeiter häufiger positiv dargestellt oder aber als Notwendigkeit, um die sich anbahnende Wirtschaftskrise zu überwinden (Delgado 1972: 126). Obwohl beispielsweise Merten (1986: 8) insbesondere die mangelnde theoretische Ausarbeitung dieser Studie kritisiert, konnte diese dennoch drei wesentliche Phänomene herauskristallisieren, die – wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird – weiterhin zentrale Bestandteile der Berichterstattung über Gastarbeiter im Speziellen und Migranten im Allgemeinen darstellen. Zusammengefasst ließe sich ein Bild zeichnen, welches Gastarbeiter im negativsten Fall direkt mit Kriminalität in Verbindung bringt und durch die häufige Betonung der Herkunft indirekt eine Erklärung der massenmedial konstruierten Verbindung beisteuert. Im positivsten Fall erscheinen diese als temporäre Notwendigkeit zur Überwindung wirtschaftlicher Krisen. Durch die Fokussierung Delgados auf die Darstellung der Gastarbeiter, findet eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Themenbereich des Familiennachzugs nicht statt. Lediglich als Beispiel der als reformbedürftig bewerteten Ausländergesetzgebung findet dieser beiläufige Erwähnung (Delgado 1972: 127).

In den nachfolgenden Jahren und bis in die Mitte der 1980er Jahre hinein, entstanden weitere inhaltsanalytische Studien ähnlicher Art. Dabei besteht neben der methodischen Herangehensweise vor allem Ähnlichkeit in der Fokussierung auf die Darstellung von Gastarbeitern, der Herausarbeitung ähnlicher Erkenntnisse sowie in der nur geringfügigen theoretischen Ausarbeitung. Da die vorliegende Arbeit jedoch nicht die Berichterstattung über Gastarbeiter zum Gegenstand hat, sei an dieser Stelle für einen umfassenden Überblick auf die Arbeit von Merten (1986: 8ff.) verwiesen, welcher sich 1986 der Darstellung von Ausländern im Allgemeinen annahm und die bis dahin erschienen Studien kritisch zusammenfasst.

Im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse wurden über einen Zeitraum von ca. acht Monaten (Januar bis August 1986) 2216 Artikel aus 20 Zeitungen ausgewertet (ebd.: 42ff.). Aus den umfangreichen Ergebnissen, sollen hier lediglich drei aufgegriffen werden: 1) Artikel, in denen über Ausländer berichtet wird, und deren Überschriften, nehmen im Gegensatz zu anderen Artikeln durchschnittlich etwa doppelt so viel Fläche ein und befinden sich häufig im sogenannten Mantel der Zeitungen (ebd.: 47). Weiterhin wird über Ausländer 2) zwar häufiger in Form von Sportlern, Künstlern oder Gästen bzw. Gastarbeitern berichtet und im Vergleich dazu seltener im Sinne von Arbeitnehmern oder Asylbewerbern (ebd.: 55). Dennoch werden die letztgenannten – und in Bezug auf die reine Häufigkeit selteneren – Darstellungen von Ausländern als Arbeitnehmer oder Asylbewerber 3) derart intensiv mit der Berichterstattung über Kriminalität in Verbindung gebracht, dass Merten (1986: 112) daraus nicht nur eine dominante Rahmung von Ausländern als Problem ableitet, sondern ein Negativsyndrom in der Berichterstattung über Ausländer konstatiert: „Ausländer geraten [...] gerade unter dem Negativsyndrom der an Aktualität orientierten Journalisten, nur als auffällig, als störend, in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. [...] Sie [die Berichterstattung über Ausländer] kann schon deswegen kaum neutralisiert werden, weil vor allem Sprachprobleme die Ausländer hindern selbst an die Öffentlichkeit zu treten [...]. Die negativen Wertungen stabilisieren sich [...]“ (Merten 1986: 112). Neben den bereits vorgestellten Ergebnissen der Studie, wird durch das angeführte Zitat auch deutlich, dass Ausländer vor allem einen Objektstatus erhalten und kaum bis gar nicht als Subjekte zu Wort kommen. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Blick auf die Darstellung von Ausländern im Allgemeinen die Möglichkeit, eventuell dargestellte unterschiedliche Gruppen auszumachen. Statt der Fokussierung auf Gastarbeiter, stellt sich so heraus, dass diese nur eine Art Kategorie der Ausländer bildet über die berichtet wird und dass darüber hinaus, zunehmend Asylbewerber thematisiert werden.

Dieser Tendenz nimmt sich zwei Jahre später auch Link (1988) an. In Form eines eher unsystematischen Anführens von Ausschnitten exemplarischer Zeitungsartikel und politischer Reden über einen Zeitraum von 1973 bis 1986 zeichnet dieser nach, wie sich der Begriff »Asylant« zur Bezeichnung von Flüchtlingen bzw. Asylbewerbern herausgebildet und verfestigt hat. Durch die Abgrenzung der Begrifflichkeiten und das Heranziehen empirischen Materials wird die negative Konnotation des Begriffs »Asylant« verdeutlicht. Dabei werden vor allem die Deutungsmuster der wirtschaftlichen Bedrohung, der Gefahr und des Terrors sowie der Überfremdung als zentral herausgestellt (Link 1988: 52ff.).

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt einige Jahre später auch Gerhard (1993). Zu den bekannten negativen Konnotationen kommen jedoch zwei hinzu, welche Flüchtlinge einerseits mit Krankheiten und andererseits mit Drogen gleichzusetzen scheinen (Gerhard 1993: 244ff.). Beide suggerieren hinsichtlich der deutschen Aufnahmegesellschaft belastende bis zerstörende Folgen. Im Anschluss an beide Artikel widmen sich Gerhard und Link (1993) gemeinsam der Darstellung des Orients im medialen Diskurs und arbeiten die zentrale Kollektivsymbolik sowie deren Wirkung heraus: „Der Komplex »Orient« – so läßt [sic] sich insgesamt feststellen – ist ein Element der symbolischen Konstellation des sich extrem zuspitzenden dualistischen Schemas von westlicher Normalität und nichtwestlicher Anormalität “ (Gerhard/ Link 1993: 297). Durch die Gegenüberstellung von Orient und Okzident erscheint ersterer medial also vor allem durch Fremdheit charakterisiert zu werden.

Mit den fremdenfeindlichen Ereignissen in Hoyerswerda, Mölln und Rostock zum Anlass, befasst sich auch Predelli (1995) mit dem Aspekt der Darstellung der Fremdheit von Ausländern in der deutschen Presseberichterstattung. Letztlich ergeben sich durch dessen quantitative Inhaltsanalyse die bereits bekannten Darstellungskontexte der Kriminalität und des Problems der inneren Sicherheit sowie die häufige Nutzung von Wassermetaphorik, nach welcher Flüchtlinge in Form von Wellen oder Strömen nach Deutschland kommen und damit das volle Boot zum Kentern zu bringen scheinen (Predelli 1995: 114ff.). Die Darstellung von Ausländern als Fremde, erfolgt vor allem durch die, bereits zuvor erwähnte, überwiegende Objektposition. Es wird also vorwiegend über Ausländer berichtet, statt diese selbst zu Wort kommen zu lassen – insbesondere, wenn diese aus nichtwestlichen Ländern kommen (Predelli 1995: 121f.). Andererseits zeigt sich dies auch an der Berichterstattung über Flucht- und Migrationsprozesse, die [...] meist auf deutschem Boden statt[finden]. Die Hintergründe und die Situation im Heimatland spielen eine untergeordnete Rolle“ (ebd.: 123).

Im Jahr 1997 erscheinen zwei Sammelbände, die sich dem Migrationsdiskurs aus umfassender und interdisziplinärer Perspektive annehmen. Zunächst sei hier auf den Sammelband von Jung, Wengeler und Böke verwiesen, welcher durch den Titel „Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über ‚Ausländer‘ in Medien, Politik und Alltag“ (1997) einerseits auf die zu findende Perspektivenvielfalt verweist und andererseits die Erkenntnis prominent betont, dass der Migrationsdiskurs ein Diskurs über Migranten bzw. Ausländer ist und nicht mit ihnen.

Mit Blick auf den französischen Migrationsdiskurs im Zeitraum von ca. 1975 bis 1985 nimmt sich Bonnafous (1997: 384f.) diesem Aspekt an und zeichnet aus linguistischer Perspektive nach, wie Einwanderer in erster Linie als Diskursobjekt konstruiert werden. Ausgehend von dieser Erkenntnis, ließe sich die Frage aufwerfen, wie diese dann integriert werden bzw. sich integrieren sollen, wenn sie doch gar nicht als Diskurssubjekte am Gesellschaftsdiskurs teilnehmen (Bonnafous 1997: 381f.).

Busse (1997) arbeitet die Darstellung des Fremden in Abgrenzung zum Eigenen heraus. Dabei wird vor allem deutlich, dass sich diese Gegenüberstellung als “[...] Grundfigur über die gesamte diskursive Menschheitsgeschichte [...] nachweisen läßt [sic]“ (Busse 1997: 22). Dies betont in Anlehnung an Meads Konzept des generalisierten Anderen zum einen die Relevanz eines kollektiven Fremden, da dieses erst die Definition eines kollektiven Ichs ermöglicht (ebd.). Zum anderen besteht jedoch die Tendenz einer diskursiven Überformung des Fremden sowie einer diskursiven Überhöhung der Differenzen zum Eigenen, was wiederum in fremdenfeindliches Denken bzw. Handeln umschlagen kann (ebd.: 33ff.). In diesem Zusammenhang zeigt auch Ruhrmann (1997: 59ff.) durch eine Zusammenschau verschiedener TV-, Radio- und Presseanalysen, dass Migranten aus ‚kulturell fremderen‘ Ländern deutlich häufiger mit Kriminalität in Verbindung gebracht werden und negativer dargestellt werden als ‚kulturell ähnlichere‘8 Migranten. Das Fremde, so könnte man meinen, macht die bereits berichtenswerte Kriminalität scheinbar zu einer größeren Sensation und in der Folge damit noch berichtenswerter.

Neben der bereits erwähnten Auseinandersetzung mit dem französischen Migrationsdiskurs, finden sich im Sammelband auch Analysen, die den Migrationsdiskurs in weiteren Ländern betrachten. Luchtenberg (1997) kontrastiert beispielsweise die australische Berichterstattung im Zeitraum von 1993 bis 1995 mit derjenigen in der deutschen Presse. Aus dem Vergleich ergibt sich deutlich, die überproportional negative Darstellung von Migranten im deutschsprachigen Diskurs sowie das vorherrschen einer spaltenden Wir-Sie-Dichotomie, welche sich zwar auch im australischen Diskurs wiederfindet, aber im Gegensatz zur verbindenden Wir-Perspektive weniger intensiv vertreten wird (Luchtenberg 1997: 374f.). Diese Differenz in der Berichterstattung über Migranten wird vor allem auf die ausgeprägte und in der Breite akzeptierte multikulturalistische Gesellschaft Australiens zurückgeführt (ebd.: 273f.). Die vorherrschende Negativität im deutschen Migrationsdiskurs der 1990er Jahre erscheint demnach als Symptom einer Gesellschaft, die sich trotz eines langjährigen Migrationsdiskures9 weiterhin in einem Stadium der Ablehnung, statt der Akzeptanz zu befinden schien. In ähnlicher Weise konstatiert auch Schönwälder (1997: 361), im Vergleich zum deutschen Migrationsdiskurs, für den Diskurs in Großbritannien eine positivere Akzentuierung der Einwanderung.

Auch Wengeler (1997: 132) zeigt im Rahmen eines Vergleichs des deutschen Migrationsdiskurses der 1970er und 1980er Jahre, dass hinsichtlich der dominanten Deutungsmuster zwar Verschiebungen von einem überwiegenden Nutzen- hin zu einem Gefahren- und Humanitäts-Topos erfolgt. Doch lässt sich daraus noch nicht auf eine grundlegend positivere Berichterstattung über Migranten schließen, da dem Bild der Einwanderung als Gefahr nicht mit prinzipieller Aufgeschlossenheit gegenübergetreten wird, sondern vordergründig mit dem Argument der Verpflichtung und einer daraus erwachsenden Notwendigkeit – beispielsweise hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen. Diese Tendenz hält Matouschek (1997: 116f.) in Bezug auf den Migrationsdiskurs um 1989/90 auch als eine Dominanz des Mitleids fest, welche gegen Ende des Untersuchungszeitraums lediglich in Bevormundung und daraus hervorgehender implizierter Unmündigkeit von Migranten umschlägt. Für die umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Migrationsdiskurs im Rahmen des vorgestellten Sammelbands sei hier abschließend auf die diskursanalytische Betrachtung der Berichterstattung zwischen den Jahren 1947 und 1988 von Böke (1997) verwiesen. Veranschaulicht an der Wochenzeitung Der Spiegel kommt so exemplarisch zum Ausdruck, wie sich das negative Bild der Migranten und die Gleichzeitigkeit des Gefahren- und Mitleidsdiskurses im Diskursobjekt des Fremden vereinen: „Der ‚Fremde‘ ist zu bedauern oder zu fürchten – zumeist beides“ (Böke 1997: 191).

Insbesondere der Aspekt des Fremden, das Aufkommen von Fremdenfeindlichkeit und die diesbezügliche Rolle der Medien werden im Sammelband von Scheffer (1997) aus mehreren Perspektiven aufgegriffen. Insgesamt wird hier herausgestellt, dass Medien durch ausbleibende Differenzierungen unterkomplexe Bilder und Vorstellungen von Migranten zeichnen, die im Zusammenspiel mit der hohen Relevanz der Medien für die gesellschaftliche Meinungsbildung zwar nicht kausal zu Fremdenfeindlichkeit führen, aber als nicht zu unterschätzender Katalysator wirken können (siehe dazu exemplarisch Jäger 1997 & Jahraus 1997). Ähnliche Aspekte des Migrationsdiskurses werden darüber hinaus auch in weiteren Analysen des Migrationsdiskurses herausgearbeitet, die nicht Teil dieser Sammelbände sind (siehe dazu exemplarisch Huhnke 1997 & Wehrhöfer 1997).

Für die umfassende Beschäftigung mit dem Migrationsdiskurs in Deutschland in den 1990er Jahren können vor allem die fremdenfeindlichen Ereignisse in Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock als Anlass gesehen werden. Die Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel zwischen Migranten und Medien hält aber über diesen Zeitraum hinaus an, wie der gleichnamigen Sammelband von Schatz et al. (2000) zeigt. Der Migrationsdiskurs scheint sich jedoch nicht explizit weiterentwickelt zu haben. In Bezug auf die deutsche Berichterstattung hält Jäger (2000: 211ff.) fest, dass über Migranten weiterhin überproportional häufig im Kontext der Kriminalität berichtet wird und im Vergleich zu deutschen insbesondere in Form von Bandenkriminalität sowie unter expliziter Nennung der Herkunft der Täter. Folgt man diesen Ausarbeitungen formt sich ein Bild krimineller fremder Massen, deren Herkunft den Grund für die Kriminalität zu liefern scheint und damit auch Handlungsmöglichkeiten nicht im Bereich der Integration, sondern der Abschottung impliziert.

Eine ländervergleichende Perspektive nimmt hingegen Esser (2000) ein. Doch auch hier überrascht das Ergebnis des Vergleichs der deutschen, britischen, US-amerikanischen, französischen, italienischen, österreichischen und spanischen Presseberichterstattung im Zeitraum von 1991 bis 1997 nicht: Sowohl für die deutsche als auch internationale Presse scheint eine „[...] Orientierung an Negativismus, Kriminalität [und] Devianz [...]“ (Esser 2000: 103) vorzuliegen. Für die Schweiz stellen Schranz und Imhoff (2002: 6) hingegen heraus, dass eine Ausgrenzung der muslimischen Bevölkerung in der Berichterstattung zwischen 2001 und 2002 überwiegend nicht stattgefunden hat und Kriminalität vor allem im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 (für die diesbezgüliche deutsche Berichterstattung siehe auch Junge 2002) thematisiert wird. Die Ergebnisse dieser Analyse sind jedoch nur bedingt mit den vorhergehenden Studien vergleichbar, bezieht sich die Fragestellung doch auf die religiöse Gruppe der Muslime statt auf die (zum Teil übergeordnete) Gruppe der Migranten. Darüber hinaus wurde explizit die Berichterstattung um den Zeitraum der Terroranschläge analysiert, was eine gehäufte Kontextualisierung von Kriminalität und Terrorismus wahrscheinlich macht.

Für die nachfolgenden Jahre lässt sich wiederum konstatieren, dass hinsichtlich der aus der Medienberichterstattung rekonstruierbaren Deutungsmuster kaum Veränderungen stattfinden. So zeigt Wengeler (2006), wie die negativen, eher neutral-pragmatischen und positiven Deutungsmuster im Zeitraum vom 1960 bis 2002 nahezu konstant bleiben (siehe ergänzend Bauder 2008, Bonfadelli 2007, d’Haenens/ Bink 2007 & Ruhrmann et al. 2006). Als traditionelle negative Deutungsmuster (Wengeler 2006: 18ff.) werden die folgenden angegeben: Belastungs-Topos (einheimische Bevölkerung verfügt über Belastungsgrenze10 ), Gefahren-Topos (unkontrollierte Zuwanderung ist Gefahr für einheimische Bevölkerung), Missbrauchs-Topos (Ausländer nutzen Sozialstaat aus) und der Topos individueller Folgen (Arbeitslosigkeit einzelner Deutscher ist auf Ausländer zurückzuführen). Aus neutral-pragmatischer Perspektive finden sich vor allem die folgenden Deutungsmuster: Nutzen-Topos (Ausländer sind für die Wirtschaft nützlich) und Realitäts-Topos (Einwanderung ist Realität). Als positives Deutungsmuster kann einzig der Humanitäts-Topos (Aufnahme von Flüchtlingen etc. ist Pflicht bzw. Menschenrecht) angeführt werden. Im konkreten Bezug auf Migranten weist Wengeler (2006: 16ff.) den Anpassungs-Topos als eher neuen Topos aus. Dessen Argumentationslogik geht von einer deutschen Leitkultur aus, an welche sich Migranten anzupassen haben. Diese Darstellung verweist hinsichtlich der Zuständigkeit für den Integrationsprozess einseitig auf die Migranten, was im starken Widerspruch zur überwiegenden Darstellung von Migranten als Diskursobjekt steht: Während die aus dem Migrationsdiskurs ausgeschlossenen Migranten durch aktive Teilnahme an der Gesellschaft ihrerseits den Integrationsprozess eigenständig leisten sollen, bleibt die im Migrationsdiskurs sonst so aktive Gesellschaft in Bezug auf die Integration passiv.

Unter Rückgriff auf die weitere diskurs- und inhaltsanalytische Betrachtung der medialen Darstellung von Migranten lassen sich zwei wesentliche Verschiebungen im Migrationsdiskurs feststellen: Erstens wird insbesondere die religiöse Zugehörigkeit von Migranten stärker thematisiert, wobei der Fokus vor allem auf dem Islam liegt (siehe dazu u.a. d’Haenens/ Bink, 2007; Hafez 2010; Hierl 2012; Park 2006 & 2008). Hierl (2012: 143f.) konstatiert gar eine Überbetonung des Islam und eine anhaltende Fokussierung auf die Unterschiede zu einer vermeintlichen deutschen Leitkultur, die meist dadurch Charakterisiert wird, dass sie den Islam nicht beinhalte. Die Fremdheit von Migranten wird zunehmend durch Verweis auf die muslimische Religion und deren vermeintliche Unvereinbarkeit konstruiert. Die so stattfindende Fokussierung auf die eigene Differenz zum Islam führt auch zur zweiten Verschiebung: Einer Betonung der unterschiedlichen Geschlechterverhältnisse in der ‚muslimischen Welt‘ und in Deutschland (siehe dazu u.a. Dietze 2016; Jäger 2010; Koch et al. 2013 & Neuhauser et al. 2016). Die Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann im Islam dient als zentrales Argument der Unvereinbarkeit der christlichen und muslimischen Religion (Jäger 2010: 70f.). Darüber hinaus findet ein scheinbarer Freispruch deutscher Männer von Sexismusvorwürfen statt, indem muslimische Männer maßgeblich als Sexisten charakterisiert werden (Jäger 2010: 466ff.). Eine ähnliche diskursive Entwicklung zeigt sich u.a. bereits im österreichischem Gastarbeiter-Diskurs zwischen 1964 und 1976: Westliche Frauen emanzipieren sich in medialen Diskursen nicht durch eine Loslösung vom westlichen Mann, sondern durch eine hierarchische Überordnung gegenüber der orientalischen Frau (Koch et al. 2013: 102f.). Männliche Flüchtlinge bzw. Migranten erscheinen so nicht als Väter, Ehemänner oder Söhne, sondern insbesondere „[…] als [als] rückständig konstruierbare »Migrationsandere« Männer […]“ (Neuhauser et al.: 2016: 178). Hingegen erscheinen weibliche Flüchtlinge bzw. Migranten als schutzbedürftige, hilflose Wesen und damit wiederum eher als Diskursobjekt, denn als Diskurssubjekt (Dietze 2016: 98f.). Auch wirken sich diese Darstellungen auf das Bild der vermeintlichen deutschen Frau und des vermeintlichen deutschen Mannes aus: Während erstere durch männliche Migranten bedroht zu werden scheinen, können letztere als scheinbare Beschützer auftreten, was zur Folge hat, dass auf diese Weise auch deutsche Frauen zu Diskursobjekten werden – aber immerhin zu emanzipierten Diskursobjekten (Dietze 2016: 99). Beide Diskursverschiebungen, die sich insbesondere mit der zunehmenden Flüchtlingsthematik seit 2015 etablieren, können zusammenfassend als Islamfeindlichkeit und Ethnisierung von Sexismus bezeichnet werden (Dietze 2016: 93).

Die bereits erwähnte und spätestens seit Anfang des Jahres 2015 aktuelle Thematisierung der Flüchtlingszuwanderung hat mehrere Analysen dieses Diskurses nach sich gezogen (Dietze 2016; Franquet Dos Santos Silva et al. 2018; Friedrich 2017; Haller/ Holt 2018; Haller 2017; Holzberg et al. 2018; Maier/ Lünenborg 2017; Neuhauser et al. 2016 & Smykała 2016). In Bezug auf bildliche Darstellungen wird konstatiert, dass Flüchtlinge oftmals nicht einzeln, sondern in Gruppen oder gar Massen sowie ärmlicheren Situationen abgebildet werden (Franquet Dos Santos Silva et al. 2018: 16f.), was den Effekt des Othering fördert und damit vermeintlich spezifisch deutsche bzw. europäische Identitäten konstruiert (Maier/ Lünenborg 2017: 80f.). Die im Allgemeinen in Bezug zu Flüchtlingen rekonstruierbaren Topoi bzw. Deutungsmuster sind einerseits positiv: die Chance der Überalterung der Gesellschaft vorzubeugen bzw. als bewältigbare Herausforderung (Smykala 2016: 199f.). In eher negativer Hinsicht ist das bereits erwähnte Deutungsmuster der ethnisch-sexistischen Gefahr durch männliche Flüchtlinge (Dietze 2016: 96ff. & Neuhauser 2016: 177) zu nennen sowie das Deutungsmuster der erhöhten Kriminalität jugendlicher Flüchtlinge (Friedrich 2017: 126ff.) als auch das bekannte Deutungsmuster von Flüchtlingen als wirtschaftliche Belastung einerseits und Lösung ökonomischer Krisen andererseits (Holzberg et al. 2018: 542ff.). Weiterhin ist festzuhalten, dass Flüchtlinge vermehrt, aber immer noch unregelmäßig, als Diskurssubjekte in Erscheinung treten, da sie häufiger und ausführlicher interviewet werden (Haller 2017: 132ff.).

Zusammenfassend hat die hier erfolgte Darstellung des Forschungsstandes zum Migrationsdiskurs im Wesentlichen fünf Aspekte hervorgehoben: Erstens, scheinen die aufkommenden Deutungsmuster über die verschiedenen Migrantengruppen (Ausländer, Gastarbeiter, Flüchtlinge etc.) und zusätzlich im Zeitverlauf (mit wenigen, eher temporären Veränderungen) relativ konstant zu bleiben. Zweitens, kann der Migrationsdiskurs überwiegend als Diskurs über Migranten (Diskursobjekt) charakterisiert werden – hier ist jedoch ein zunehmender Einbezug von Migranten als Diskurssubjekt zu verzeichnen. Drittens, werden Angehörige unterschiedlicher Migrantengruppen sowohl implizit als auch explizit als fremd und anders dargestellt. Dies geschieht, viertens, zunehmend durch eine Fokussierung auf den Islam als fremde Religion sowie die Charakterisierung insbesondere von Flüchtlingen als dieser zugehörig und damit vermeintlich unveränderbar anders. Fünftens, ist eine Überschneidung mit Sexismus-Diskursen zu verzeichnen, welche u. a. zu einer Ethnisierung des Sexismus führt.

In Bezug auf den in dieser Arbeit fokussierten Diskurs um den Familiennachzug in Deutschland hat sich gezeigt, dass dieser bisher nicht systematisch – weder als Haupt-, Sub- oder Nebendiskurs – untersucht wurde. Es lassen sich lediglich vereinzelte Hinweise darauf finden, dass beispielsweise die Familienbeziehungen von Migranten und Migrantenfamilien in der Berichterstattung u. a. in problematisierender Weise thematisiert werden (d’Haenens/ Bink 2007: 81 & Friedrich 2017: 122f.). Darüber hinaus wird konstatiert, dass die Begrenzung des Familiennachzugs eine Absurdität darstellt, da „[…] es vor allem jenen schwer gemacht [wird] nach Deutschland zu gelangen, deren Unterrepräsentation und Unsichtbarkeit beklagt wird: Frauen und Kindern“ (Neuhauser et al. 2016: 190). Welche Deutungsmuster des Familiennachzugs (re-)produziert und etabliert werden, inwiefern davon betroffene Flüchtlinge und Familienangehörige selbst am Diskurs teilnehmen, welche Problemstrukturen und diesbezüglichen Folgen sowie Handlungs- bzw. Lösungsvorschläge angeregt werden, war bisher jedoch noch kein diskursanalytischer Forschungsgegenstand. Aufgrund dieses Umstandes, bearbeitet die vorliegende Arbeit die aufgeworfenen Fragen insbesondere in explorativer Weise.

IV. Theoretische Einbettung

In den folgenden Abschnitten werden die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit dargelegt. Dazu wird zunächst auf die Wissenssoziologie rekurriert – wobei für diese Arbeit insbesondere die wissenssoziologischen Grundlegungen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1999) als zentrale Basis herangezogen werden. Nachfolgend erfolgt eine Darstellung der Weiterführung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit hin zur diskursiven Konstruktion (Keller et al. 2005) von Wirklichkeit. Zusätzlich wird der Begriff des Diskurses theoretisch ausgearbeitet und dessen Zusammenhang zur wissenssoziologischen Perspektive herausgestellt. Abschließend wird auf den Zusammenhang von Diskursen, Diskursanalysen und Medien eingegangen.

4.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

Die ursprünglich an die Wissenssoziologie gerichtete Aufgabe fokussierte insbesondere darauf, dass diese das gesellschaftliche Wissen von Aberglauben, Vorurteilen etc. zu befreien habe und das menschliche Handeln damit auf (sozial-)wissenschaftliche Grundlagen zu stellen (Maasen 2009: 12ff.).

Die deutsche Wissenssoziologie tritt maßgeblich in den 1920er Jahren durch die Arbeiten von Karl Mannheim in Erscheinung (ebd.: 24ff.). Dabei fokussiert Mannheim insbesondere auf die Rolle der sozialstrukturellen Lage des Individuums und deren Einfluss auf dessen Wissen, Handeln und Denken. Diese Fokussierung fließt letztlich im Begriff der »Seinsgebundenheit« des Denkens zusammen (Maasen 2009: 24ff. & Knoblauch 2014: 103): „Das zentrale Problem jeder Wissenssoziologie [...] ist die Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens“ (Mannheim 1984: 47). Auf diese Weise liefert Mannheims Wissenssoziologie eine mögliche Erklärung für die Beständigkeit spezifischer Weltanschauungen, deren teilweiser Unvereinbarkeit sowie für die darauf basierenden Konflikte, welche jedoch nicht als Rechtfertigung bestimmter Weltanschauungen verstanden werden sollte (Knoblauch 2014: 103f. & Jung 2007: 120ff.).

Nach Mannheim bestehen die Aufgaben der Wissenssoziologie in erster Linie darin, dass eine Distanzierung von überlieferten Weltanschauungen erfolgen soll sowie eine Relationierung sämtlichen Wissens in Bezug auf dessen soziale bzw. sozialstrukturelle Zusammenhänge und Bedingungen als auch eine Partikularisierung von Aussagen auf spezifische (Wissens-)Bereiche (Maasen 2009: 28f.). Damit knüpft Mannheim an die bereits vorzufindende Formulierung der Aufgaben der Wissenssoziologie an und lässt so einen weiterhin aufklärerischen Charakter erkennen (ebd.: 30).

Bereits in der von Mannheim formulierten Seinsgebundenheit des Denkens lässt sich der später von Berger und Luckmann weiter ausgeführte wirklichkeitskonstruierende Charakter der Gesellschaft und der Individuen erahnen. Geprägt11 von Einflüssen des US-amerikanischen Pragmatismus sowie phänomenologischen Arbeiten von Alfred Schütz und Helmuth Plessner, stellen Berger und Luckmann die Wissenssoziologie auf eine neue Grundlage (Maasen 2009: 34ff. & Knoblauch 2014: 153ff.) und definieren als Aufgabe, „[...] daß [sic] die Wissenssoziologie sich mit allem zu beschäftigen habe, was in einer Gesellschaft als »Wissen« gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit“ (Berger/ Luckmann, 1999: 3). Erkennbar ist hier weiterhin das Konzept der Seinsgebundenheit des Denkens: Durch das Absehen einer Fokussierung auf die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit von Wissen, wird impliziert, dass über ein bestimmtes Phänomen, ein bestimmtes Ereignis etc. mehr als eine Perspektive und damit auch mehr als eine Form des Wissens existieren kann. Weiterhin wird im Zitat deutlich, dass Wissen als solches – unabhängig von dessen Wahrheitswert – geltend gemacht und damit auf eine bestimmte Art legitimiert zu werden scheint – und zwar insbesondere auf der Ebene der Gesellschaft. Die so reformulierte Aufgabe der Wissenssoziologie fokussiert nun also in erster Linie auf die Prozesshaftigkeit der Wissensproduktion/-reproduktion, -legitimierung/-delegitimierung sowie auf den Zusammenhang des Wissens und der Gesellschaft (Maasen 2009: 35f. & Knoblauch 2014: 155f.). Um diesen Zusammenhang herauszuarbeiten, sind zunächst die von Berger und Luckmann ins Zentrum gestellten Konzepte der Habitualisierung/Routinisierung, Typisierung, Institutionalisierung und Objektivation zu erläutern.

Die Absicht der Einführung dieser Konzepte besteht in der Erklärung des Prozesses, mittels dessen aus subjektivem Wissen gesellschaftlich-objektives Wissen wird (Berger/ Luckmann 1999: 3). Den Beginn macht das Konzept der Habitualisierung. Dieses kann als Resultat stets wiederholter Handlungen verstanden werden, deren Ausführung zu einem selbstverständlichen Handlungsablauf wird, über welchen das Individuum nicht jedes Mal erneut nachdenken muss (ebd.: 56f.). Beispielhaft kann hier der allmorgendliche Prozess des Kaffeekochens herangezogen werden, für dessen Handlungsabläufe (Aufstehen, Weg zur Küche, Wasser aufsetzen etc.) es keinerlei Planung benötigt. Die Handlungsabläufe sind dann insofern habitualisierte Handlungen, als dass sie in ihrem Ablauf und ihrer Ausführung gefestigt sind (ebd.: 57). Da diese habitualisierten Handlungen auch als Routinen verstanden werden können, kann der Begriff der Habitualisierung mit dem der Routinisierung gleichgesetzt werden (ebd.: 57f.).

Die Differenz zum Konzept der Typisierung besteht zunächst im Hinzutreten eines weiteren Individuums, wodurch beide Individuen habitualisiert handelnd interagieren oder bei der Ausführung habitualisierter Handlungen von anderen Individuum beobachtet werden (ebd.: 58). Was zwischen beiden Individuen stattfindet kann auch als Kategorisierungsprozess bezeichnet werden (Keller 2008: 43). Die habitualisierten Handlungen der Individuen werden durch die Anwesenheit eines Anderen zu Handlungstypen bzw. Kategorien von Handlungen und die habitualisiert handelnden Individuen selbst, werden sich gegenseitig zu Typen oder Vertretern bestimmter Kategorien von Individuen (Berger/ Luckmann 1999: 58f.).

Damit ist die Grundlage für den Prozess der Institutionalisierung geschaffen: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“ (ebd.: 58). Die wesentliche Differenz zwischen Typisierungs- und Institutionalisierungsprozess liegt, wie zuvor, in der Anzahl der beteiligten Individuen: Während der Habitualisierungs-/Routinisierungsprozess für das jeweils betreffende Individuum allein erfolgt, bedingt der Typisierungsprozess bereits zwei Individuen und der Institutionalisierungsprozess in der Folge drei Individuuen (Berger/ Luckmann 1999: 60). Eine weitere, jedoch implizite, Unterscheidung zum Prozess der Typisierung erfolgt durch die Einführung des Begriffs der Typologie: Während Typisierungen das Resultat des Typisierungsprozesses (und somit konkret typisierte Personen und deren Handlungen) bezeichnet, sind Typologien Resultat des Institutionalisierungsprozesses (ebd.: 60). Der Schritt von der Typisierung zur Typologie erfolgt durch die Vermittlung ersterer an ein weiteres – am Typisierungsprozess unbeteiligten – Individuum. Dies kann auf begrifflich-theoretischer oder handlungspragmatischer Ebene erfolgen. Einerseits – begrifflich-theoretisch – können die sich zuvor gegenseitig typisierten Individuen einem dritten diese Typisierung sprachlich vermitteln und das jeweils andere Individuum beispielsweise als Typ des Zeitungslesers oder Radiohörers bezeichnen. Andererseits – handlungspragmatisch – kann das dritte Individuum die Typen habitualisierten Handelns selbst beobachten und auf diese Weise institutionalisieren. Der Begriff der Institution wird von Berger und Luckmann weitgefasst und nicht trennscharf vom Begriff der Typologie abgegrenzt, liefert in seiner Definition als „[...] etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht“ (ebd.: 62) jedoch die wesentliche theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit. Durch diesen Schritt erhalten zunächst habitualisierte und nachfolgend typisierte Handlungen und Handelnde institutionellen Charakter und werden damit vom Individuum gelöst und so auf Dauer gestellt.

Während die bisher erläuterten Konzepte im Wesentlichen auf einander aufbauten, ist das Konzept der Legitimierung in erster Linie mit dem Institutionalisierungsprozess verbunden. Berger und Luckmann trennen sich in der Erläuterung zunehmend von den, der Veranschaulichung dienenden konstruierten Beispielen weniger interagierender Individuen und beziehen sich nun auf einen größeren gesellschaftlichen Rahmen. Durch diese Erweiterung der Perspektive kommt die Frage auf, wie die Institutionen ihren institutionalisierten Charakter erhalten können, wenn doch neue Generationen hinzukommen, die nicht an den jeweiligen Institutionalisierungsprozessen beteiligt sind. Das Konzept der Legitimierung knüpft an genau diese Frage an. Der Objektcharakter – also das, was Berger und Luckmann (1999: 62) als „[...] zwingendes Faktum [...]“ bezeichnen – bleibt Institutionen auch gegenüber Individuen, die nicht am Institutionalisierungsprozess beteiligt waren, erhalten. Was jedoch fehlt, ist die Einsicht in die Sinnhaftigkeit in diese Institution (Berger/ Luckmann 1999: 98ff.). Die Wirkungsweise und Relevanz des Legitimierungsprozesses wird deutlicher, wenn man das Konzept der Objektivation hinzuzieht. Dieses bezeichnet letztlich den Prozess der Herausbildung eben jenes Objektcharakters der Institutionen: Obwohl Institutionen durch Individuen subjektiv konstruiert werden, erhalten sie objektiven Charakter. Für die Individuen, die am Institutionalisierungsprozess beteiligt waren ist dieser objektive Charakter durch die primäre Objektivation unmittelbar nachvollziehbar und legitimiert. Für weitere Individuen muss dieser objektive Charakter extern legitimiert werden. Die Objektivation erfolgt sekundär (ebd.: 98ff.). Auf die Frage danach, wo, wann und wie der Prozess der Legitimierung und mit ihm die sekundäre Objektivation erfolgt, verweisen Berger und Luckmann (1999: 139f.) in erster Linie auf den Prozess der Sozialisation. Die Konzepte der Institutionalisierung und Legitimierung lassen jedoch bereits mögliche Zusammenhänge zum Diskursbegriff und zur Rolle der (Massen-)Medien erahnen, doch dazu mehr im jeweils entsprechenden Abschnitt.

Diese nun einzeln dargestellten Konzepte können in einem letzten verbindenden Schritt zusammengeführt werden, wodurch auch der Charakter der Wirklichkeit als gleichzeitig subjektiv und objektiv deutlicher wird. Die Verbindung erfolgt über den dialektischen Dreischritt beginnend bei der Externalisierung über die Objektivierung hin zur Internalisierung. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich dieser drei Prozesse keine strikte zeitliche Reihenfolge mitgedacht werden muss, sondern eher ein mehr oder weniger gleichzeitig erfolgender Ablauf vorliegt (Berger/ Luckmann 1999: 139). Der Prozess der Externalisierung meint die Entäußerung des je eigenen Selbst eines Individuums in die als objektiv verinnerlichte Gesellschaft (ebd.: 139f.). Das Individuum nimmt sich also als Teil der Wirklichkeit war (ebd.: 142ff.). Die Bedingung dafür ist jedoch die Wahrnehmung der Wirklichkeit als objektiv und insofern vom Individuum unabhängig und vordefiniert (ebd.: 140ff.). Diese Anerkennung der Wirklichkeit als objektives Faktum erfolgt über den Prozess der Internalisierung (ebd.: 139f.). Im Rahmen dieses Dreischritts aus Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung entsteht der stets ambivalente Charakter der Gesellschaft und deren Zusammenhang zum Individuum: „ Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt “ (ebd.: 65; Hervorh. im Original).

Nur über den bis hierhin erfolgten Umweg über die Konzepte der Habitualisierung/Routinisierung, Typisierung, Institutionalisierung und Legitimierung sowie den Dreischritt aus Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung ist es nachvollziehbar, warum Berger und Luckmann (1999: 2) die Aufgabe der Wissenssoziologie in erster Linie in der Analyse des sogenannten Wissens des Mannes auf der Straße sehen. Um die daraus folgende Erkenntnis nochmal zusammenzufassen: Die erläuterten Prozesse machen deutlich, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit, welche in ihrem Ursprung subjektiv konstruiert ist, objektiven Charakter erhält und dadurch strukturierend auf die Individuen zurückwirkt. Das Wissen, welches für den Mann auf der Straße alltäglich unmittelbar handlungspragmatisch relevant ist, kann als »Rezeptwissen« (Berger/ Luckmann 1999: 70ff.) bezeichnet werden. Für gewöhnlich wird dieses Rezeptwissen vom »Spezialwissen« (ebd.: 82ff.) abgegrenzt, welches das Wissen von Experten bzw. Spezialisten (Wissenschaftler, Journalisten, Techniker etc.) bezeichnet.

Für die vorliegende Arbeit ist jedoch das Konzept des gesellschaftlichen Wissensvorrates vordergründig relevant. Mit dem Konzept des gesellschaftlichen bzw. allgemeinen Wissensvorrates stellen Berger und Luckmann (1999: 43ff.) heraus, dass eine Gesellschaft über ein bestimmtes Wissen verfügt, welches rückwirkend Prozesse der Nachvollziehbarkeit (und auch Typisierung, Institutionalisierung und Legitimierung) erst ermöglicht. Hat ein Individuum nicht an diesem Wissensvorrat teil, ist die unmittelbare Nachvollziehbarkeit von Institutionen und ihrer Legitimation entsprechend eingeschränkt und erfordert zur Anknüpfung einen Zugang zu diesem Wissensvorrat. Obwohl der Begriff des Wissens als „[...] was in einer Gesellschaft als »Wissen« gilt [...]“ (Berger/ Luckmann 1999: 3) einerseits unterbestimmt zu sein scheint, ermöglicht genau diese Unterbestimmtheit andererseits sowie der Verzicht auf den Begriff der Wahrheit, die notwendige Offenheit. Wissen kann auf diese Weise definiert werden als „[...] der sozial gewordene Sinn“ (Knoblauch 2014: 353). Erst durch die Zentrierung um den Begriff des Wissens werden die erläuterten Prozesse und Konzepte über ihre idealisierten Situationen hinaus wirksam. Es ist das jeweilige Wissen bzw. der gesellschaftliche Wissensvorrat mittels dessen einerseits die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert wird und andererseits diese gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit wiederum anschlussfähig wird (ebd.). Hinter der Aufgabe der Wissenssoziologie, „[...] die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren “ (Berger/ Luckmann 1999: 3; Hervorh. im Original) steht also die Aufgabe die gesellschaftlichen Wissensvorräte, ihre Produktion/Konstruktion, Institutionalisierung und Legitimierung zu analysieren.

4.2 Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit

Die Überschrift dieses Abschnitts greift eine Weiterführung der von Berger und Luckmann (1999) vorgelegten gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit auf. Keller et al. (2005: 8) fokussieren dabei auf die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, als Teilbereich der gesamten gesellschaftlichen Konstruktionsleistung. Die These die damit einhergeht behauptet also, dass ein Teil der Konstruktion von Wirklichkeit im Rahmen diskursiver Aushandlungen oder Diskursen stattfindet. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, was zunächst unter »Diskurs« zu verstehen ist. Auf alltagssprachlicher Ebene wird »Diskurs« häufig mit »Diskussion« oder »Debatte« gleichgesetzt (Angermuller/ Wedl 2014: 163). Dieses allgemeine Verständnis verortet den Diskursbegriff zunächst vor allem im Bereich mündlicher Kommunikation. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive kann der Diskursbegriff zunächst etwas abstrakter definiert werden: Michel Foucault gilt als erster – mehr oder weniger – systematischer Diskursforscher (Maasen 2009: 39ff.) und definiert Diskurse als „[...] Praktiken [...], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74). In ähnlicher Weise hält Angermuller (2014: 19) fest „Diskurse bilden die soziale Welt nicht einfach ab; sie können Realitäten »schaffen«, indem sie diese repräsentieren.“ Etwas ausführlicher definiert Keller (2011: 8) Diskurse als „[...] mehr oder weniger erfolgreiche Versuche [...], Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen [...] zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren.“

Allen angeführten Definitionsversuchen ist das Wirklichkeit konstruierende Moment von Diskursen gemein. Bei der Definition des Diskursbegriffs von Keller (2011: 8) fällt darüber hinaus der Begriff der Institutionalisierung ins Auge. Mit Blick auf die vorher erfolgten Ausführungen zu den Grundlegungen von Berger und Luckmann lässt sich bereits hier erahnen, dass Diskurse neben dem Sozialisationsprozess im Wesentlichen als Orte verstanden werden können, in denen die Prozesse der Institutionalisierung, Legitimierung und Objektivierung stattfinden. Hierbei ist der Begriff »Ort« jedoch nicht notwendiger Weise auf physische oder geografische Orte bezogen, sondern kann als eine Art »Aushandlungsort« verstanden werden. Damit würden neben geographischen Orten wie Städten, Ländern etc. – welche auch als diskursive Aushandlungsorte verstanden werden können – zusätzlich Zeitungen, soziale Netzwerke (z.B. Facebook, Twitter), politische Reden und auch die zuvor als alltagssprachlich charakterisierten Verständnisse des Diskursbegriffs als Diskussion oder Debatte als Aushandlungsorte (Angermuller/ Wedl 2014: 163) oder Räume der öffentlichen Konfliktaustragung (Schwab-Trapp 2009: 263) verdeutlicht werden können.

Legt man erneut das Diskursverständnis von Foucault zugrunde, erhält man einen noch breiteren Diskursbegriff, welcher auch historische Ereignisse als Diskurse auffasst (Knoblauch 2014: 212). Ein derart breiter Diskursbegriff gibt Anlass, sich detaillierter der Frage anzunehmen, wie die angesprochene Konstruktionsleistung von Diskursen zu verstehen ist. In abstrakter Form produzieren Diskurse Sinn bzw. Sinnzuschreibungen (Angermuller 2014: 19). Zur Veranschaulichung kann hier das Beispiel des Begriffs »Flüchtling« herangezogen werden: Durch die Zuordnung des Begriffs zu einer Person, verändert sich diese Person nicht in ihren körperlichen Merkmalen oder ähnlichem, aber sie erhält bestimmte Charakterisierungen/Typisierungen, die sich im Zeitverlauf des Diskurses um den Begriff »Flüchtling«, um den Umgang mit Flüchtlingen etc. herausgebildet und durchgesetzt haben. Selbst die Flüchtlingen zugeschriebene Eigenschaft – dass sie vor etwas geflohen sind – ist diskursiv konstruiert und legitimiert, sodass bestimmte mögliche individuelle Fluchtgründe, nicht als tatsächliche Fluchtgründe anerkannt werden und beispielsweise eine Unterteilung in anerkannte Flüchtlinge und Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus vorgenommen wird (für ein ähnliches Beispiel siehe Knoblauch 2014: 211f.).

Darüber hinaus werden auch Subjekte erst im Diskurs konstruiert, insofern Individuen erst zu Subjekten werden, wenn sie dem Diskurs beitreten (Angermuller 2014: 19). Um beim Beispiel zu bleiben, können Flüchtlinge innerhalb eines Flüchtlingsdiskurses sowohl Diskursobjekte als auch -subjekte sein. Ersteres trifft zu, wenn ein Diskurs über Flüchtlinge stattfindet. Letzteres trifft zu, wenn sich diese selbst am Diskurs beteiligen (können). Diskurse unterliegen jedoch verschiedenen Beschränkungen. Diese können in interne und externe Beschränkungen unterschieden werden. Als externe Einschränkungen sind z.B. Verbote, Sanktionen, Diskriminierungen oder Exklusionsmechanismen zu nennen (Knoblauch 2014: 125f.). Für das verwendete Beispiel des Flüchtlingsdiskurses könnten Flüchtlinge durch externe Mechanismen keinen Zugang zur Teilnahme am Diskurs erhalten, indem sie möglicherweise konsequent von Journalisten ausgeschlossen werden. Als interne Einschränkungen sind u.a. spezifische Codes und Sprachen sowie Bindungen an Personen oder Aufnahmerituale zu nennen (ebd.: 125f.). Erneut mit Bezug auf das Beispiel des Flüchtlingsdiskurses, scheint hier der interne Mechanismus der Zugangsbeschränkung in Form der Sprache offensichtlich zu sein: Flüchtlinge können nur am beispielsweise deutschen Flüchtlingsdiskurs teilnehmen, wenn sie die Sprache beherrschen oder aber die Journalisten gewillt sind, Dolmetscher zu engagieren bzw. die jeweils andere Sprache beherrschen.

Die Betrachtung derartiger Beschränkungen von Diskursen bzw. der Einschränkung des Zugangs, impliziert bereits einen Zusammenhang zum Begriff der Macht. Diese Verbindung stellt insbesondere Foucault her und betont dabei vor allem das wechselseitige Verhältnis indem beide Konzepte stehen (ebd.: 213): Einerseits sind Diskurse an gesellschaftliche bzw. institutionelle Gegebenheiten gebunden, da sie stets in ihnen stattfinden (ebd.: 213). Macht wirkt also beispielsweise in Form externer Beschränkungen auf die Zugänglichkeit von Diskursen ein. Andererseits reproduzieren Diskurse Macht, da sie interne Einschränkungen aufweisen und darüber hinaus durch ihren Wirklichkeit konstruierenden Charakter reale Handlungen und Folgen nach sich ziehen (Knoblauch 2014: 216 & Keller 2010: 2017). In Anlehnung an das Thomas-Theorem (Thomas/ Thomas 1938: 572) könnte man auch formulieren: Wenn in Diskursen Situationen als real definiert werden, sind sie in ihren Konsequenzen real (Keller 2010: 206).

Die Basis, auf der Menschen die Situationsdefinition, auf die das Thomas-Theorem im Original abzielt, vornehmen, besteht maßgeblich im Wissen, welches die Individuen über die Situation haben (Berger/ Luckmann 1999: 57 & 59). Zum Verhältnis von Wissen und Macht hält Angermuller (2014: 23) fest: „Macht kann Wissen »wahr« oder »ideologisch« machen und über Wissen kann Macht ausgeübt werden.“ Die hier noch vordergründig auf Definitionsmacht beschränkte Verknüpfung wird von Foucault weiter ausgeführt, sodass sich aus Diskursen heraus Dispositive (z.B. Gesetze, Normen, Werte, Regeln) ergeben können, in welchen sich der Diskurs und die durchgesetzten Definitionen manifestieren (Knoblauch 2014: 214). Der Zusammenhang zwischen Wissen und Macht führt wiederum auf den Zusammenhang zwischen Diskursen und Macht zurück. So manifestiert sich Macht in Diskursen dadurch, dass diskursiv konstruierte Deutungsangebote durchgesetzt werden und so einen Geltungscharakter erhalten. So verstanden sind „[...] Diskursstrukturen [...] zugleich Machtstrukturen“ (Keller 2010: 207).

[...]


1 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. Sofern nicht explizit angeführt, ist mit der Verwendung der männlichen Form stets die weibliche Form mitberücksichtigt.

2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) §§27 bis 32. Abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/BJNR195010004.html (letzter Aufruf: 22.07.2018)

3 Grundgesetz (GG), Artikel 6, Absatz 1. Abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_6.html (letzter Abruf: 22.07.2018)

4 Die Anerkennung als Flüchtling aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention setzt begründete Furcht vor Verfolgung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität, politischen Überzeugung, religiösen Grundentscheidung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (z.B. sexuelle Orientierung) voraus (BAMF 2016b).

5 Ein Migrationsbericht für das Jahr 2016 liegt zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht vor.

6 Für das Jahr 2017 kann aufgrund fehlender Daten kein Anteil angegeben werden.

7 Zahlen für das Jahr 2018 liegen aufgrund des Zeitpunkts der Erstellung dieser Arbeit noch nicht vor.

8 Als ‚kulturell ähnlicher‘ werden von Ruhrmann (1997: 59) Spanier, Griechen und Italiener angeführt. Die Gruppe der ‚kulturell fremderen‘ wird nicht näher definiert, jedoch implizit mit Asylsuchenden und Flüchtlingen assoziiert.

9 Die Studie von Delgado (1972) zeigt, dass Migration (zunächst in Form der Gastarbeit) mindestens seit der Mitte der 1960er Jahre einen relevanten Themenbereich im deutschen Diskurs darstellt.

10 Diese kurze Ausführung des jeweiligen Topos dient der Veranschaulichung der typischen Argumentationsmuster.

11 Den auf diesen Seiten beschriebenen Grundlegungen der Wissenssoziologie gehen damit Erkenntnisse über das Bewusstsein, die Identität und Sozialisation etc. des Individuums voraus (Berger/ Luckmann 1999: 21ff.). Diese Grundlagen der Grundlagen können hier jedoch aufgrund der Einhaltung des Rahmens der vorliegenden Arbeit nicht umfassend wiedergegeben werden.

Final del extracto de 103 páginas

Detalles

Título
Familiennachzug im Diskurs. Eine Mixed-Methods Analyse der Online-Berichterstattung in Deutschland von 2013 bis 2018
Universidad
University of Rostock  (Institut für Soziologie und Demographie)
Calificación
1,2
Autor
Año
2018
Páginas
103
No. de catálogo
V498034
ISBN (Ebook)
9783346022189
ISBN (Libro)
9783346022196
Idioma
Alemán
Palabras clave
Mixed-Methods, Qualitative Methoden, Quantitative Methoden, Diskursanalyse, Wissenssoziologie, Blended Reading, Korpuslinguistik, Flüchtlingsdiskurs, Flüchtlingskrise, Familiennachzug, Medienanalyse, Text-Mining
Citar trabajo
Martin Radtke (Autor), 2018, Familiennachzug im Diskurs. Eine Mixed-Methods Analyse der Online-Berichterstattung in Deutschland von 2013 bis 2018, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/498034

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