„Wenn ich gefragt werde, warum das allgemeine Publikum sich nicht intensiver für das Tanzen interessiert, gebe ich daher die Antwort: weil die Tänzer ganz offensichtlich selbst nicht von der Interessantheit ihrer Darbietung überzeugt sind. Wären sie von der Interessantheit ihres Tanzens überzeugt, würden sie ja nicht
versuchen, es „interessant“ zu machen.“
Peter Maxwells These ist bereits Aussage genug über die ambivalente Bedeutung der Mode im Tanzsport. Wenn Maxwell nicht ausschließlich über Outfit und Styling, sondern allgemein über die ‚Performance’ der Turniertänzer und -tänzerinnen spricht, so hat seine These ebenso Gültigkeit im Bereich der ‚Tanz-Mode’, deren Form eigentlich ausschließlich der Funktion folgen sollte. Die Silhouette des Tänzers oder der Tänzerin sollte durch das Tanzkleid auf das
vorteilhafteste zur Geltung gebracht werden, ohne dass dessen Form oder Eigenbewegung die Aktionen seines Trägers oder seiner Trägerin stört; noch darf es vom Eigentlichen – dem Tanzen – ablenken. Wie sich diese Funktion des ‚Tanz-Outfits’ verändert, verlagert und welche Formen sie angenommen hat, wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen.
Sie befasst sich in erster Linie mit den verschiedenen Aspekten von Mode und Styling des gegenwärtigen Tanzsports, insbesondere des Standardtanzens und versucht diese im soziokulturellen Rahmen zu deuten.
Daher ist es unerlässlich, die Entwicklung des Gesellschaftstanzes
nachzuvollziehen, weil nur im historischen Kontext erklärbar ist, wie bürgerliche
Ideale im Tanzsport zum tragen kommen. Es bietet sich also an, das
Erscheinungsbild der Turnierpaare vor dem Hintergrund dieser ‚Ideale’ zu untersuchen. Dabei wird besonderer Augenmerk auf das Tanzkleid als Medium gelegt, das den Tragenden „Pose und Struktur“ verleiht.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Was und wie man sich bewegt: Vom Gesellschaftstanz zum Turniersport
1.1 Vom Tanz der Gesellschaft zum Gesellschaftstanz
1.2 Reformbewegungen
2. Worin man sich bewegt: Outfit und Styling beim Turniertanz
2.1 Das Tanzkleid als Tanzhülle
2.2 Tanzhaar
2.3 Der Habitus
2.3.1 Turniertanz als Lebenseinstellung
2.3.2 Der Schein als Klassifizierungsmerkmal
2.3.3 Das Bürgertum als Vorbild
2.4 Sexuelle Komponenten
2.4.1 Geschlechterpolarisierung
2.4.2 Steigerung der Attraktivität
2.4.3 Kommuniziertes Geschlechterideal
Fazit
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Versicherung
Einleitung
„Wenn ich gefragt werde, warum das allgemeine Publikum sich nicht intensiver für das Tanzen interessiert, gebe ich daher die Antwort: weil die Tänzer ganz offensichtlich selbst nicht von der Interessantheit ihrer Darbietung überzeugt sind. Wären sie von der Interessantheit ihres Tanzens überzeugt, würden sie ja nicht versuchen, es „interessant“ zu machen.“[1]
Peter Maxwells These ist bereits Aussage genug über die ambivalente Bedeutung der Mode im Tanzsport. Wenn Maxwell nicht ausschließlich über Outfit und Styling, sondern allgemein über die ‚Performance’ der Turniertänzer und -tänzerinnen spricht, so hat seine These ebenso Gültigkeit im Bereich der ‚Tanz-Mode’, deren Form eigentlich ausschließlich der Funktion folgen sollte. Die Silhouette des Tänzers oder der Tänzerin sollte durch das Tanzkleid auf das vorteilhafteste zur Geltung gebracht werden, ohne dass dessen Form oder Eigenbewegung die Aktionen seines Trägers oder seiner Trägerin stört; noch darf es vom Eigentlichen – dem Tanzen – ablenken.[2] Wie sich diese Funktion des ‚Tanz-Outfits’ verändert, verlagert und welche Formen sie angenommen hat, wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen.
Sie befasst sich in erster Linie mit den verschiedenen Aspekten von Mode und Styling des gegenwärtigen Tanzsports, insbesondere des Standardtanzens und versucht diese im soziokulturellen Rahmen zu deuten.
Daher ist es unerlässlich, die Entwicklung des Gesellschaftstanzes nachzuvollziehen, weil nur im historischen Kontext erklärbar ist, wie bürgerliche Ideale im Tanzsport zum tragen kommen. Es bietet sich also an, das Erscheinungsbild der Turnierpaare vor dem Hintergrund dieser ‚Ideale’ zu untersuchen. Dabei wird besonderer Augenmerk auf das Tanzkleid als Medium gelegt, das den Tragenden „Pose und Struktur“[3] verleiht.
Zur Erleichterung des Leseflusses wird weitgehend darauf verzichtet, explizit zu erwähnen, dass von Frauen und Männern die Rede ist. Um der ‚Geschlechtergerechtigkeit’ in der Sprache willen, wird an relevanten Stellen vorwiegend die substantivierte Adjektivform verwendet (z. B. Tanzende, Betrachtende, etc.).
Da die Bekleidung der Tanzenden zentraler Aspekt der Untersuchung ist, weise ich zusätzlich darauf hin, dass der Begriff ‚Tanzkleid’ sich sowohl auf das weibliche, als auch auf das männliche vestimentäre Outfit bezieht. Ist explizit von dem ‚Kleid’ der Frau oder des Mannes die Rede, so geht dies eindeutig aus dem Kontext hervor.
Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit einer Geschichte des Gesellschaftstanzes oder des Tanzkleides, noch einer allumfassenden Theorie der Tanzmode. Es wird der Versuch gemacht, Mode im Tanzsport und ihre gegenwärtigen Erscheinungen und Ausdrucksformen zu deuten und zu verstehen.
1. Was und wie man sich bewegt: Vom Gesellschaftstanz zum Turniersport
Tanz und Outfit waren und sind nicht nur körperliche Ausdrucksformen des Menschen, immer haben sie auch einen gesellschaftlichen Bezug. Will man also die Formen und Moden in Gesellschafts- und Turniertanz bezüglich Outfit und Styling interpretieren und verstehen, so ist die Einbeziehung soziokultureller Gegebenheiten und Bedingungen von großer Bedeutung. Eine isolierte und vom Gesamtkontext losgelöste Betrachtung des Tanzes und der dazu getragenen Kleider macht wenig Sinn und würde zu falschen Schlussfolgerungen führen.
Aus diesem Grund wird zunächst dargestellt, woraus sich der Tanzsport entwickelt hat, wie und warum sich der Gesellschaftstanz vom klassischen Tanz ablöste und in welcher Weise der ‚Dance de Compaigne’ mit der politisch-sozialen Entwicklung der Menschen in Beziehung stand.
Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, wieso sich der Gesellschaftstanz zum Sport entwickelte und wo dieser im Verhältnis zum klassischen Tanz einzuordnen sein könnte.
Auch werden die für den Verlauf der Arbeit relevanten Bewegungsrichtlinien und –formen, sowie einige organisatorische Reglementierungen des Turniertanzes erläutert, um später in Beziehung mit Outfit und Styling gesetzt werden zu können.
1.1 Vom Tanz der Gesellschaft zum Gesellschaftstanz
Schon aus dem Namen ‚Gesellschaftstanz’ geht hervor, dass dieser Tanz ursprünglich die eigene Form einer vom Volk gesonderten Schicht, eben der ‚Gesellschaft’ gewesen sein muss. Wenngleich der Ausdruck ‚Gesellschaftstanz’ erst wesentlich später geprägt wurde, werden an dieser Stelle – doch nur kurz – dessen Ursprünge miteinbezogen.
Als das römische Reich zusammenbrach, ging die Kultur der antiken Städte zurück. Auch die Arbeits- und Klasseneinteilung der antiken Zivilisation zerfiel mit der Herrschaftsübernahme der Germanen, die nur den religiös gebundenen Volkstanz (Schwerttänze, Fruchtbarkeitstänze, Totentänze, etc.) kannten. Als die christliche Kirche Europa eroberte, sollten die heidnischen Tänze jedoch verboten werden. Aber im 12. Jahrhundert erfuhr das Land erneut eine gesellschaftliche Umschichtung, die die Stände wieder klar voneinander trennte: Man unterschied Adel, Bauern und Priester und spaltete Kirche und Welt.
Diese beiden Trennungen stellten die Voraussetzung für die Entstehung des Gesellschaftstanzes dar. Denn nicht nur der Volkstanz, sondern auch der Tanz und die Kultur des europäischen Adels waren damit sich selbst überlassen. Mit der Entwicklung der ritterlichen Kultur entfernte sich der Tanz vom Religiösen und wurde Teil der neu entstehenden weltlichen Kultur.
Gleichzeitig entwickelte der Adel eine Tanzform, die sich von der der Bauern maßgeblich unterschied. Die einfachen Leute tanzten den Reigen, bei dem sich Männer und Frauen an den Händen hielten und eine einzige fest geschlossene Gemeinschaft in Form einer Kette oder eines Kreises bildeten. Der eigentlich höfische Tanz bestand aus paarweisen, prozessionsartigen Märschen, die sowohl die Zugehörigkeit zum würdevollen Stand, als auch die Eigenständigkeit des Individuums innerhalb diesem widerspiegelte. Der feierlich getretene Paartanz, wobei Paar hinter Paar, sich lose an der Hand fassend, durch den Saal schritten, vollzog also primär die symbolische Trennung des Adels zum Volk[4].
Als in Italien das Mittelalter um 1400 endete, entdeckten die Südländer in der Renaissance die sinnhafte, plastische Form der Antike, den Leib als schöne bewegte Gestalt, die Schönheit der irdischen Welt wieder. Sie erlebten die Sinne als Träger ekstatischen Daseins und entdeckten den Tanz erneut als Repräsentation von Macht und Kultur.[5] Es wurden neue Tänze geschaffen, die Jahrhunderte lang als die eigentlichen Tänze der Aristokratie galten. In der Renaissance etablierte sich außerdem der Ball als ein rein weltliches Fest ohne religiösen Bezug oder Bindung an einen Feiertag. Der Tanz wurde als bewusst gestaltete ästhetische Form und als Kunstwerk begriffen und dessen Schritte wurden standardisiert. Zum ersten Mal spielte die Wirkung auf die Zuschauenden eine Rolle und wurde genau berechnet.
Neben der Formalisierung des Tanzes war die veränderte Rolle der Frau ein weiteres Merkmal des neuen Gesellschaftstanzes: Diese, nicht mehr wie vom Ritter als engelsgleiches Wesen und Herrin angebetet, galt von nun an als Partnerin im Genuss und höheres Wesen im ästhetischen und erotischen Sinn. So wurde auch der Tanz zum Ausdruck dieser stilisierten Erotik. Günther / Schäfer (1959) stellten fest, dass seit etwa 1450 der Gesellschaftstanz seine Entwicklung in ganzer Klarheit aufweist: die soziale Spaltung der Stände, die Verweltlichung, die Stilisierung und Formalisierung, sowie die verfeinerte Erotik.[6]
Mit dem Niedergang der italienischen Renaissance und dem Aufstieg des Protestantismus nahm Frankreich die führende Position den Tanz betreffend ein. Aber Frankreich wurde zwischen 1560 und 1600 von politischen Wirren und einem grausamen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Calvinisten heimgesucht. Katharina, Witwe seit 1559 und Regentin für ihre unmündigen Söhne, musste versuchen, die Einheit des Reiches zu retten. Dabei wurde sie von den Intellektuellen und Künstlern unterstützt, die eine neue politisch-religiöse Philosophie – den Neoplatonismus – schufen.
Diese Lehre verkündete, die menschliche Gesellschaft sei Spiegel und Nachahmung des göttlichen Bereichs. Vor allem König und Adel galten als irdische Repräsentanten des Göttlichen. Der Himmel war reine Harmonie und diese galt als rhythmische Ordnung - das heißt als Tanz.
Nach Ansicht der Neuplatoniker tanzten die Sterne. Gott selber wurde in den Tanzschriften des 16. und 17. Jahrhunderts zum ersten Tanzmeister ernannt. Der König und die Adeligen als Vertreter der himmlischen Tanzharmonie auf Erden mussten daher tanzen. Tanz und Ballett waren also „metaphysisch-religiöse Handlung und politisch wirksame Tat“[7]. Die politisch-religiöse Deutung des Tanzes dauerte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Noch der junge König Ludwig XIV. tanzte zum Heil seines Volkes und Staates.
Ferner war die Pariser Bourgeoisie seit 1600 von einem wahren Ballett- und Tanzenthusiasmus ergriffen und einige junge Adelige schienen Gefallen an den Tanzkünsten der Baladins[8] zu finden. Bestand das königliche Hofballett bis ca. 1660 aus adeligen Amateuren, änderte sich die Situation grundlegend mit der Gründung der Royale Academie de la Danse. Ab 1661 setzte sich das Hofballett ausschließlich aus professionellen Bühnentänzern zusammen. 1691 kamen dann die weiblichen Ballettkünstlerinnen dazu, die aus der Commedia dell’arte stammten.
Diese neuen Profitänzer und Profitänzerinnen ‚übernahmen’ auch den Gesellschaftstanz und formten, stilisierten und standardisierten die höfischen Tänze, wie zum Beispiel das Menuett. Außerdem schufen sie aus den virtuosen Kunststücken der Jahrmarktstänzer die Anfänge der klassischen Ballett-Technik.
Der erste Tanzlehrer, der ein geschlossenes System des neuen Gesellschaftstanzes und des neuen Balletts vorlegte, war der Franzose Feuillet, ein Schüler von Beauchamps[9]. Er zeichnete die Gesellschaftstänze, sowie die Ballettschritte in einer besonderen Tanzschrift auf.
Der deutsche Tanzmeister Gottfried Tauber übersetzte Feuillets Schrift und übernahm sie wörtlich in sein Werk. Ziel war, den traditionellen deutschen Tanz[10] zu verdrängen und die glatte, galante ‚belle danse’ der Franzosen an dessen Stelle zu setzten.
Die ursprünglich rein höfische Manier des Tanzes sollte nun auch für die Bürger gelten und der Tanz war dazu berufen, die neu entstehende bürgerliche Gesellschaft – eine Gesellschaft der vernünftigen Aufklärung - zu bilden.
Das Ideal des galant homme wurde um 1700 auch von bürgerlichen deutschen Intellektuellen entdeckt. So waren die ersten deutschen Tanzlehrer entweder selbst Akademiker oder verkehrten nur in aristokratischen und bürgerlich-akademischen Kreisen. Ein direkter Schüler Beauchamps und erster deutscher Tanzautor überhaupt - Johann Wolfgang Pascha – betonte den Abstand der neuen galanten Tanzkunst und dem wilden deutschen Tanz. Im Sinne der Franzosen trennte er zwischen dem niedrigen Kammertanz (Gesellschaftstanz) und dem theatralischen Tanz (Ballett).
1713 erschien eine kleine, von einem Laien verfasste Schrift, die zum ersten Mal ganz klar die Verbindung des modernen französischen Tanzes mit der neuen bürgerlichen Zivilisation der Aufklärung zeigte. Die deutschen Tänze wurden darin leidenschaftlich abgelehnt. Des Weiteren forderte der Autor, Tanzlehrer müssten mehr als nur technische Könner, sondern gleichfalls gebildet, höfisch und galant sein. Das Erlernen der Ballett-Technik überließ er den professionellen Tanzmeistern und betonte, dem Amateur genügten die Kammertänze[11], in denen Sprünge verboten waren.
Die Trennung von Ballett und Gesellschaftstanz war das entscheidende Ereignis der modernen europäischen Tanzgeschichte, die mit dem Beginn der Aufklärung zusammen fiel. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war das Wort ‚Gesellschaftstanz’ aufgetaucht. Es handelte sich um eine wörtliche Übersetzung des franzosischen Ausdrucks ‚Danse de Compaigne’. Man trennte nun deutlich zwischen Gesellschaftstanz und Ballett. Nur noch das Ballett galt als Kunst und wie heute noch, befassten sich die Intellektuellen und Schriftsteller ausschließlich mit dem Kunsttanz.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Die vornehme Polonaise. Hier ein Holzschnitt (um 1900) nach einer Zeichnung von S. Rejchan dargestellt.
Doch mit dem Anbruch des bürgerlichen Zeit-alters stießen die nun als pomphaft und gekünstelt verrufenen Tänze des Barock und Rokoko
auf Ablehnung, da sie
dem bürgerlichen Sinn
für Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit wider-sprachen. Die Bedeutung des Tanzes veränderte sich. Aus der „politisch-metaphysischen Repräsentation“[12] wurde „natürliches, heiteres, bürgerliches Spiel“[13], dem der „Ernst und die Würde der alten Tänze, aber auch die ekstatische Ausgelassenheit mancher Tänze des Barocks “[14] gänzlich fehlten.
Für die neuen Gesellschaftstänze des 19. Jahrhunderts, die alle aus Volkstänzen entstanden waren, brauchte man nicht mehr Jahre, um sie zu erlernen. Die Tänze waren technisch recht einfach und es ging nicht mehr um die Tanz-Kunst, sondern um den Tanz als Motor für die bürgerliche Geselligkeit. Der Tanz war Mittel zum Zweck und der Ballsaal zum Heiratsmarkt geworden! Verschiedenste Contratanzformen beherrschten den Gesellschaftstanz, bis schließlich Paarrundentänze wie der Walzer den Gesellschaftstanz im 19. Jahrhundert revolutionierten.
Während die Contratänze das Abbild eines mit sich selbst zufriedenen Bürgertums waren, zeigte der Walzer die Aufbruchstimmung der jungen Generation, die begonnen hatte, gegen das Bürgertum zu revoltieren. Er brach aus als „Kampf gegen alles Starre, für das Lebendig-Dynamische, für die Seele und das überströmende Gefühl“[15].
Aber mit dem Walzer betrat auch das gemeine Volk Gesellschaft und Ballsaal. Der Walzer, dieser scheinbar neu entstandenen Tanz, war aus dem eben noch verpönten „teutschen Tanz“[16] entstanden. So war es nicht weiter verwunderlich, dass es 1767 in Würzburg noch ein Walzerverbot gab.[17] Der Tanz war das Produkt einer umfassenden bürgerlichen Revolution. Dass ausgerechnet der Wiener Kongress, der nach Napoleons Niederlage die alten Zustände des Ancien Regime wieder herstellen sollte, Walzer tanzte, beweist, wie sehr sich das neue Lebensgefühl bereits durchgesetzt hatte.
Die Verdrängung des adeligen Menuetts durch den Walzer bedeutete den endgültigen Sieg der bürgerlichen Schichten und den Sieg der Demokratie. Im Walzer war jeder gleichberechtigt – jeder konnte teilnehmen! Der Sieg des Walzers war ein Sieg des Volkes![18].
1.2 Reformbewegungen
Im letzen Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts machte sich in Westeuropa und Amerika ein gewaltiger Drang nach körperlicher Bewegung bemerkbar. Der Sport und die moderne Gymnastik entstanden, die Jugendbewegung wanderte und tanzte Volkstänze.
In Amerika und Deutschland wuchs durch den snobistischen Hang der Dekadenz zum Modernen der Sinn und Geschmack für Extravagantes und Exotisches. Die junge Generation sehnte sich nach lebendigen und leidenschaftlichen Tänzen und lehnte Walzer, Polka und Mazurka, sowie das klassische Ballett zunehmend ab.
Vor diesem Hintergrund entstand nicht nur der Ausdruckstanz, sondern auch das klassische Ballett begann von St. Petersburg und Paris aus, sich zu erneuern. Man behielt zwar das klassische Schrittmaterial bei, verwendete es aber „im expressionistischen Sinn, um Seelisches, Elementares und Ursprüngliches zum Ausdruck zu bringen“[19].
Aus denselben Wurzeln heraus erneuerte sich dann auch der Gesellschaftstanz, übernahm die scheinbar so ursprünglichen Rhythmen der Afroamerikaner und suchte nach Material in den elementaren Volkstänzen der Schwarzen. Dies bedeutete auch die die Rückkehr zur Vorwärtsbewegung, die man nicht in den heimischen Volkstänzen, wohl aber in den Tänzen der „Neger Amerikas“[20] fand.
Jene Vorwärtsbewegung gelangte fast zeitgleich mit Isadora Duncans neuem Kunsttanz aus Amerika nach Europa. In den Vereinigten Staaten hatte man schon seit den siebziger Jahren den Walzer vorwärts getanzt.
Was hinter der Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Exotismus steckte, war in Wirklichkeit etwas ganz Modernes: die Sehnsucht nach vielfältiger, rhythmisch-tänzerischer Bewegung überhaupt. Die jungen Tanzrevolutionäre wollten nur noch tanzen um des Tanzens willen.
Auf diesem Weg gewannen die Kräfte des Gefühls und extrovertierter Leidenschaft an der Wende des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung. Auch im Tanz suchte man nach einem wahrhaftigen Ausdruck und Spiegel der Seele. Dementsprechend war dieser allen Tendenzen der Zeit zutiefst verbunden.
Galt der Tanz bis dato weitgehend als Amüsement, so entdeckten ihn die Menschen nun als Sport. Der Gesellschaftstanz wurde von nun an ernst genommen und die Tänzer wollten ihre Fähigkeiten zur Schau stellen. Zweifelsohne gewann der moderne Gesellschaftstanz in diesem Moment die Elemente des Schautanzes zurück.
In internationalen Turnieren maßen sich die Paare in den verschiedensten Tänzen und nie zuvor konnte sich der Gesellschaftstanz solch großer Beliebtheit rühmen. Einen Unterschied zwischen Berufstänzern und Amateuren gab es selten und auf Stil legte man auch noch keinen großen Wert. Lediglich das Neue, Exotische und Unerhörte fesselte und gegeisterte die Menge.
Damit veränderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rolle des Gesellschaftstanzes erneut und mit dem Cakewalk und anderen neuen Modetänzen starb die Drehung des Walzers und der Polka[21] endgültig.
Mit dem Cakewalk lernte Europa schließlich den ersten „pantomimisch-erotischen Negertanz“[22] kennen, der so gut wie keine Berührung der Partner aufwies. 1877 imitierten Minstrelgruppen den Cakewalk und „Sehr rasch kommt es zu einer Cakewalkära mit Preistänzen und Wettkämpfen. Einer der ersten Cakewalk-Wettkämpfe findet1892 in New York statt. Weiße Tänzer erschienen dazu öfter in geschwärzten Gesichtern“[23]
Die deutsche Bewegung nach 1900 war ein romantischer Protest der Jugend gegen die wilhelminische Bourgeoisie. Sie fand Ausdruck in der neuen Gymnastik, der expressionistischen Malerei und Dichtung, sowie der Neuromantik Rilkes, Hofmannsthals und anderer. Ein Teil dieser Revolution war der Ausdruckstanz (German Dance), der noch heute mit den Namen wie Alexander Sacharoff, Mary Wigman und Gret Palucca verbunden wird. Dessen Zusammenhang mit der allgemeinen geistigen Bewegung war man sich sehr wohl bewusst. Wigman hob immer wieder hervor, dass das „Aufblühen des Tanzes in Deutschland als Lebensausdruck einer Generation eine Tatsache“[24] sei. Sie als Tänzer und Tänzerinnen müssten sich klar machen, dass sie ihre lebendige Auswirkung der deutschen Jugend verdankten, die gänzlich anders orientiert sei, als in den übrigen europäischen Ländern. Dort kenne man nur den Sport und den
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2 …in den Armen ihres Partners.
Kunsttanz, welcher ausschließlich durch das Ballett repräsentiert werde. In Deutschland hingegen sei das große Bindeglied die Gymnastik, die weder dem Sport noch dem Kunsttanz zugeordnet werden könne. Was sie (als Tänzer) als Gymnastik bezeichneten, enthielte sowohl sportliche, als auch tänzerische Elemente. Sportliche Elemente, soweit es sich um Kräftigung, Veredelung und Leistungsfähigkeit, also um Körperkultur, handele. Tänzerische Elemente, weil seelisch bewegter Ausdruck hineinspiele. Tanz beginne dort, wo Gymnastik aufhöre und die Grenze zwischen diesen könne nicht scharf gezogen werden.[25]
Man trennte und verband zugleich Tanz und Gymnastik und war sich deren gemeinsamer Wurzeln in der Freude an der rhythmisch-natürlichen Bewegung bewusst geworden. Nichts anderes bedeutete der Englische Stil, dessen System einem einzigen Zweck und Prinzip diente: der künstlerisch vollendeten natürlichen Vorwärtsbewegung, dessen Grundidee bis heute beibehalten wurde.
Mit dem Foxtrott, der nichts weiter als künstlerisch-tänzerisch geformte natürliche Gehbewegung war, erhielten 1914 die Engländer endlich ihren ureigenen Tanz, aus dem sie den Englische Stil entwickelten. Er lehnte alles Übertriebene, Exaltierte und Pathetische ab. Einfachheit und Klarheit wurden als Wesen guter Form hervorgehoben und extreme Schritte und Figuren verworfen.
Musterbeispiel für den Englischen Stil, der auch gerne als ‚Gentleman Dancing’ bezeichnet wird, war und ist der (Slow) Foxtrott. Auffällig am Englischen Stil sind die großen raumgreifenden Schritte, welche sich als Endresultat aus dem Befolgen der Körpervorschriften ergeben. Es tanzt der ganze Körper, wobei die Beine nur Träger und Motor der Bewegung sind. Die energievolle Bewegung durch den Raum soll als solche aber nicht sichtbar werden, sondern muss glatt, fließend, „unbewegt“[26] und wie ein „ruhiger Strom“[27] erscheinen. Die Bewegung hat Linie, Form und ästhetische Vollkommenheit. Alex Moore meinte „English style is a maximum of movement consistent with ease.“[28], was soviel bedeutet wie Englischer Stil ist ein Maximum an Bewegung mit einem Minimum an Anstrengung.
[...]
[1] Maxwell, Peter: Latin My Way. In: Burgauner, Christoph (Hrsg.): Tanzen weltweit in Kurs und Gruppe, als Sport und Kunst. München 1995, S.143
[2] Vgl. Koebner, Franz Wolfgang: Das Tanzbrevier. Berlin 1913. In: Burgauner, Christoph (Hrsg.) a. a. O. S. 81
[3] Stromberg, Katja: Vom Tanzen der Kleider und Körper. Eine Kulturgeschichte des Tanzkleides. In: Textil – Körper – Mode. S. 13
[4] Das prozessionsartige Tanzen wurde auch vom einfachen Volk in die eigenen Tänze integriert. In vielen europäischen Volkstänzen begann der eigentliche Tanz mit einem feierlichen Aufmarsch.
Heute findet man diese Art von ‚Ritual’ auch bei der feierlichen Eröffnung von Tanzturnieren. Hier marschieren die Paare ebenfalls prozessionsartig auf die Fläche auf. Kurz darauf werden sie einzeln und namentlich dem Publikum vorgestellt.
[5] Vgl. hierzu Günther, Helmut / Schäfer, Helmut: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes. Stuttgart 1979, S. 66
[6] Vgl. hierzu Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S. 70
[7] Günther, Helmut: Von den Lehrern und Lehrbüchern des Tanzes. In: Burgauner, Christoph a. a. O. S.67
[8] Jahrmarkts-Gaukler
[9] Pierre Beauchamps war königlicher Tanzmeister. Er kodifiziert die fünf Positionen der Füße, auf denen die Technik des klassischen Balletts beruht. Definiert wurden sie allerdings bereits im 16. Jahrhundert.
[10] Unter ‚deutschem Tanz’ verstand man in erster Linie die Drehtänze, wie den Walzer (Weller), der ursprünglich ein erotischer Werbe- und Paartanz war.
[11] Gesellschaftstänze
[12] Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S. 127
[13] Ebd.
[14] Ebd. S. 134
[15] Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S. 142
[16] Ebd.
[17] Zur Unterscheidung prägte man im 18. Jahrhundert den Begriff ‚Volkstanz’. Beide Tanzformen – Gesellschaftstanz und Volkstanz – bestanden seither nebeneinander und haben sich stets gegenseitig beeinflusst.
[18] Eigentlich war der Höhepunkt der Contratänze und Quadrillen schon um 1800 überschritten. Solange das bürgerliche Lebens- und Formgefühl noch gegen die Pose und die Technik der aristokratischen Tänze ankämpfte, waren die zuvor erwähnten Tanzformen noch sinnvoll und lebendig.
[19] Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S. 166
[20] Ebd.
[21] In der bürgerlichen Gesellschaft hatte diese Drehung einen symbolischen Sinn: Wie bei den Quadrillen und Françaisen bewegte man sich an einem festen Platz, also einer Ordnung, die eine stabile gesellschaftliche Ordnung spiegelte. Selbiges galt auch für die Walzerdrehung. Während man sich am Platz um sich selbst drehte, führte die Bewegung gleichzeitig um den Saal herum.
[22] Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S. 167
[23] Dauer, Alfons in: Ebd. S. 168
[24] Ebd. S. 197
[25] Wigman in Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S.197f
[26] Ebd. S.189
[27] Ebd.
[28] Zitat nach Günther, Helmut / Schäfer, Helmut a. a. O. S. 188
- Quote paper
- Vanessa Zofcin-Eichhorn (Author), 2005, Dressed to Dance - Aspekte von Mode und Styling in Gesellschaftstanz und Turniersport, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49924
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