Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. „Etablierte und Außenseiter“ von Norbert Elias (1965)
2.1 Ergebnisse der Studie bezüglich intergruppaler Gruppenbeziehungen
2.2 Die Stigmatisierung von Fremdgruppen
3. Stigmatisierung von Kopftuchträgerinnen in Deutschland
3.1 Bilder von dem Islam und dem Kopftuch
3.2 Ausgrenzung und Stigmatisierung von Kopftuchträgerinnen
4. Vergleich der Figurationen und Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„[D]ie Mitglieder der Etablierten- und vielleicht auch der Außenseitergruppen [haben], wie die meisten Menschen heutzutage, im Heranwachsen oft genug eine auffällige Rigidität der Einstellung und Herangehensweise erworben; sie sind zu dem Glauben erzogen worden, daß (sic!) jedermann im wesentlichen (sic!) ihre eigene Art des Verhaltens und Empfindens teilt oder teilen sollte. […] Im großen und ganzen (sic) ist die Toleranzschwelle für fremde Formen des Verhaltens und Empfindens, wenn man mit deren Vertretern in engeren Kontakt gerät, heute noch überaus niedrig.“1
Zu dieser Erkenntnis gelangte der britische Soziologe deutscher Herkunft Norbert Elias im Rahmen seiner Studie über Etablierte und Außenseiter in einem industriell geprägten Vorort in Nordengland um 1960. Dabei setzte er sich mit den Wirkungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen auseinander, die Charakteristika wie unter anderem Machtaushandlungen, Unterdrückung und Stigmatisierung aufweisen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der von Elias entwickelten Etablierten-Außenseiter-Figuration und untersucht, ob diese auf die heutige Situation von Kopftuchträgerinnen in Deutschland übertragbar ist. Hierbei geht es um die Ausgrenzung und Stigmatisierung von Fremden durch eine Gruppe, die bereits seit Generationen gewachsen ist und über eine gefestigte Gruppenidentität verfügt. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Begriffe Etablierte und Außenseiter weiterhin in dem Verständnis von Elias weiterverwendet, wobei die erstere die deutsche Mehrheitsgesellschaft und letztere die Kopftuchträgerinnen bezeichnen.
Zunächst werden die grundsätzlichen Erkenntnisse der Theorie dargestellt, wobei der Fokus auf den intergruppalen Prozessen zweier Zonen und ihrem Umgang miteinander liegt. Der zweite Abschnitt des zweiten Kapitels konzentriert sich auf den Begriff der Stigmatisierung in Bezug auf Fremdheit. Im darauffolgenden Kapitel wird die Theorie von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen auf das Verhältnis zwischen der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland und dort lebenden Musliminnen, die das Merkmal des Kopftuchs aufweisen, bezogen. Dabei liegt der Fokus auf der gesellschaftlichen Figuration und Stigmatisierung. Die rechtlichen und religiösen Grundlagen werden außen vor gelassen und die Bedeutung des Kopftuchs wird vernachlässigt, da sie für die Anwendung der thematisierten Theorie eine untergeordnete Rolle einnimmt. Im vierten Kapitel wird in einem Fazit zusammengefasst, inwieweit die Theorie von Elias auf diese Konstellation zutrifft und welche Unterschiede auftreten.
2. „Etablierte und Außenseiter“ von Norbert Elias (1965)
Der sozilogische Wissenschaftler Norbert Elias ging davon aus, dass alle sozialen Gemeinschaften auf zwischenmenschlichen Beziehungen basieren. Diesbezüglich entwickelte er den Begriff der Figuration, der die Interdependenz der Menschen voneinander umschreibt und erklärt, dass Individuen sich gegenseitig sozialisieren:
„Da Menschen erst von Natur, dann durch gesellschaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisierung, durch sozial erweckte Bedürfnisse gegenseitig voneinander mehr oder weniger abhängig sind, kommen Menschen […] nur als Pluralitäten, nur in Figurationen vor.“2
Individuen verfügen demnach niemals über die totale Autonomie, da diese immer von ihrem Umfeld bzw. ihren sozialen Gruppen eingeschränkt wird. Ihre Handlungen und ihr Verhalten hängen immer von anderen Subjekten ab. Jeder Einzelne wird von anderen beeinflusst und somit kann kein Individuum sein Leben unabhängig und ausschließlich selbstbestimmt führen. Das Individuum und die Gesellschaft existieren Elias zufolge nicht voneinander getrennt, sondern bauen aufeinander auf: Individuen bilden eine Gesellschaft.3 In modernen Gesellschaften entwickeln sie sich durch die Interaktion mit anderen. Da sie sich in Abhängigkeiten entwickeln, können sie auch erst verstanden und ihr Verhalten erst nachvollzogen werden, wenn dieses Umfeld bekannt ist. Elias analysierte demzufolge die Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Verflechtungen und historischen Erfahrungen in verschieden großen Gruppierungen. Ein essentielles Grundelement von Figurationen ist die Ausübung und -handlung von Macht innerhalb von Gruppen. Dabei versteht der Soziologe Macht als eine dynamische Form, die Beziehungen prägt. Wer Macht besitzt und wie diese genutzt wird, welche Konflikte auftreten und wie diese entstehen, beeinflusst wesentlich die Figurationen und führt immer wieder zu Veränderungen.4 Der Begriff der Prozesssoziologie beschreibt, dass sich durch die generelle wechselseitige Abhängigkeit die Beziehungsverflechtungen im stetigen Wandel befinden und Gesellschaften keinesfalls statisch existieren. Einzelne Menschen können ihren Handlungsspielraum ausbauen oder er wird eingeschränkt, sie verlassen Gruppierungen und treten in neue Figurationen ein und Machtverhältnisse verändern sich. Bei all diesen Vorgängen, die Elias mit einer Art Spiel vergleicht, besitzen die Individuen eine relative Autonomie, die ihnen abhängig von ihrer Position mehr oder weniger Handlungsoptionen offen lässt.5
Um 1960 untersuchte Elias unter Mithilfe seines Kollegen John L. Scotson das Verhältnis und den Umgang zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb eines britischen Vororts der Stadt Leicester, der unter dem Pseudonym Winston Parva hinsichtlich gesellschaftlicher Figurationen analysiert wurde.
Dieses Kapitel handelt von Elias Theorie zu Etablierten-Außenseiter-Beziehungen. Während im ersten Abschnitt der Fokus auf dem Ablauf und den Ergebnissen der Studie liegt, thematisiert der zweite Teil zentrale Aspekte, die aus der Untersuchung hervorgehen. Hierzu zählt insbesondere die Stigmatisierung.
2.1 Ergebnisse der Studie bezüglich intergruppaler Gruppenbeziehungen
Winston Parva verfügte mit knapp 5.000 Einwohnern über eine eigene soziale Infrastruktur, wie Geschäfte, Schulen und Fabriken. Die lokal gebundene Gemeinde bestand aus drei Zonen: In Zone 1 lebten Angehörige der Mittelklasse, während Zone 2 und 3 aus Arbeiterfamilien bestand. Ursprünglich verfolgten Elias und Scotson das Ziel, das abgewertete Bild der Siedlung in Zone 3 zu untersuchen, das auf einer überdurchschnittlichen Kriminalitätsrate beruhte. Doch im Laufe der Studie stellte sich heraus, dass die negative Stigmatisierung trotz der abgenommenen Kriminalität nicht nachließ. Die beiden Soziologen stießen bei der Auswertung ihrer Interviews, die sie mit Einwohnern der unterschiedlichen Gruppen führten, auf ein deutliches Ungleichgewicht, das insbesondere zwischen Zone 2 und 3 deutlich wurde.6 Auf dieser interdependenten Beziehung basieren die Erkenntnisse von Elias und Scotson, die in wesentlichen Elementen ihrer entwickelten Figurationssoziologie entspricht.
Die Alteingesessenen des von Elias genannten Dorfes in Zone 2 – im folgenden Text bezeichnet als „Etablierte“ – werteten die Zugewanderten der Zone 3 – fortan auch benannt als „Außenseiter“ – ab und schlossen sie aus. Die dritte Zone setzte sich aus Zugezogenen zusammen, die während des Zweiten Weltkriegs aus ganz England nach Winston Parva geflüchtet waren. Sie unterschieden sich von den anderen Gruppen lediglich aufgrund der Wohndauer.7 Sowohl in Bezug auf die nationale Herkunft, als auch hinsichtlich ihrer sozialen Klasse ließen sich keine Unterschiede zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten feststellen. Die Stigmatisierung beruhte auf dem einzigen Kriterium der Fremdheit.8
Konsequenterweise fiel der Kohäsionsgrad, präziser das Ausmaß des sozialen Zusammenhalts innerhalb einer Gruppe9, innerhalb der Zone 3 wesentlich geringer aus als in Zone 2: Die Etablierten verband ein Zusammenhalt, der teilweise über zwei oder drei Generationen gewachsen war, wohingegen die Zugewanderten nicht nur keinen sozialen Kontakt zu den übrigen zwei Gruppen hatten, sondern auch untereinander fremd waren. Aus dem fehlenden inneren Zusammenhalt resultierte die weitere Exklusion der Außenseiter aus dem Gemeindeleben, sodass ihnen auch die Partizipation sowie die Besetzung von Positionen in sozialen Institutionen verwehrt blieben.10 Nach Ansicht der soziologischen Autoren erfolgte durch das Ungleichgewicht der Kohäsion beider Gruppen ein disparates Machtverhältnis zugunsten der Etablierten, das die Basis der Theorie bildet:
„Ihr stärkerer Zusammenhalt gibt einer solchen Gruppe die Möglichkeit, soziale Positionen mit einem hohen Machtgewicht für die eigenen Leute zu reservieren, was seinerseits ihren Zusammenhalt verstärkt, und Mitglieder anderer Gruppen von ihnen auszuschließen; und genau das ist der Kern einer Etablierten-Außenseiter-Figuration.“11
Durch den hohen Kohäsionsgrad hatten sich in Zone 2 Traditionen und gemeinsame Normen entwickelt, die das Leben der Einwohner erheblich prägten. Die Identität ihrer Gruppe hatte sich bereits durch den gemeinsamen Alltag und die Entwicklung gewisser Umgangsformen, Regeln und Normen gebildet. Dies hatte zur Folge, dass Fremde, die nicht über diese Standards verfügten, als Bedrohung der Dorfgemeinschaft und der Traditionen betrachtet und von den Etablierten ausgeschlossen wurden.12 Um ihre Werte zu schützen, stellten sie sich den Neuankömmlingen entgegen, denn „[k]onfrontiert mit einer Gruppe, die sie als eine Bedrohung ihrer Machtüberlegenheit […] und damit auch ihrer menschlichen Höherwertigkeit, ihres Gruppencharismas empfindet, sieht sich die Etabliertengruppe zum Gegenschlag gezwungen, den sie mittels einer permanenten Ablehnung und Demütigung der anderen führt“13.
Dass der Kontakt zu den Außenseitern von allen Etablierten vermieden wurde und das negative Bild über sie bestehen blieb, wurde durch die vorherrschende Gruppenmeinung kontrolliert. Nicht nur zwischen Zone 2 und 3, sondern auch innerhalb der Gruppen herrschten hierarchische Strukturen, sodass das Verhalten und die Einstellungen wesentlich von der Haltung des Kollektivs beeinflusst wurden. Einzelne interne Abweichungen der bestehenden Normen konnten zur Herabsetzung und möglicherweise sogar zum Ausschluss von Alteingesessenen führen. Im Falle des Sympathisierens mit Zugewanderten drohten auch für Angehörige der Etablierten eine Degradierung ihrer Position und eine Gleichsetzung mit den stigmatisierten Außenseitern. Abgesehen von der Angst vor Machtverlust bewirkten das starke Zusammengehörigkeitsgefühl und die Hierarchisierung, dass sich die Verhaltensweisen und somit auch die Ansichten der Etablierten an die interne Gruppenmeinung anpassten. Auf diese Weise sicherten sie ihre Teilhabe am Gruppencharisma, die sie in ihren Augen als prinzipiell bessere und deswegen mächtigere Individuen kennzeichnete. Das Gruppencharisma bezeichnet nach Elias „eine[n] spezifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der den anderen abgeht“14. Die eigene Gruppe stellte für die Alteingesessenen das Ideal dar, während Außenstehende als minderwertig charakterisiert wurden. Darüber hinaus wurden sie daran gehindert, an den Privilegien zu partizipieren, die den Etablierten aufgrund ihrer Machtüberlegenheit vorbehalten blieben.15 Die Übereinstimmung zwischen den genormten Einstellungen und den individuellen Ansichten der Alteingesessenen machte deutlich, wie unüberbrückbar die Trennung zwischen Etablierten und Außenseitern und wie vergeblich jeglicher Versuch der Kontaktaufnahme seitens der Zugezogenen war.
Den Bewohnern der Zone 3 fehlten soziale Beziehungen, wie Verwandte, Altbekannte und eine anteilnehmende Nachbarschaft, sodass sie gar nicht erst die Möglichkeit hatten, sich zu vereinen, um gemeinsam ihre untergeordnete Stellung zu überwinden. Die mangelnde Unterstützung und wechselseitige Fremdheit erschwerten den Aufbau einer Infrastruktur und verhinderten die Integration der Zugezogenen. Folglich wurde die Isolation durch die unterschiedliche Herkunft innerhalb der Gruppe und zusätzlich durch den Ausschluss von bestehenden Strukturen vorangetrieben. Daher wurde die Lebensqualität von einem Großteil der Siedlungsbewohner als schlecht empfunden.16 Die Bedeutung der Gruppenidentität für den Umgang mit Fremden bzw. Fremdheit und die Abgrenzung von anderen wird im zweiten Abschnitt näher behandelt.
Trotz der internen Heterogenität der erst circa 20 Jahre alten Zone 317 wurden die Außenseiter als Einheit angesehen und homogenisiert. Sie wurden von den Alteingesessenen mit gewissen negativen Attributen und Charaktereigenschaften assoziiert: Die Zugezogenen würden sich unzivilisiert, rücksichtslos und ungehobelt verhalten und würden alle alkoholabhängig und kriminell sein. Im Dorf wurde des Weiteren geäußert, dass die Häuser in der Siedlung, die als Rattengasse bezeichnet wurde, heruntergekommen seien. Im Unterschied zu Zone 3 herrschte nach Ansicht der Dorfbewohner in ihrem Bezirk Anstand und Ordnung.18
Allerdings stellte sich heraus, dass die zugeschriebenen Eigenschaften keinesfalls auf die Mehrheit der Zugezogenen zutrafen, die Realität entsprach sogar oftmals dem Gegenteil. Jedoch bildeten sich die Etablierten ihr Urteil an den wenigen sogenannten Problemfamilien, die durch Alkoholmissbrauch, kriminelle Delikte oder komplizierte Familienverhältnisse auffielen. Die subjektiv schlechtesten Merkmale aus Zone 3 wurden in Relation mit den subjektiv besten aus Zone 2 gesetzt, sodass ein stark verzerrtes Image beider Gruppen entstand, das sich zum erheblichen Nachteil der Neuankömmlinge auswirkte. Während das Selbstbild der Etablierten idealisiert wurde, hatte das Fremdbild der Außenseiter einen minderwertigen, degradierenden Charakter.19 Es reichten folglich wenige Negativbeispiele aus, um die gesamte Gruppe herabzusetzen und zu stereotypisieren. Das alleinige Merkmal der Wohndauer führte dazu, einen heterogenen Bezirk zu objektivieren. Viele faktische Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten mit den meisten Zugewanderten wurden dabei außen vor gehalten bzw. ignoriert.
Abgesehen von der Divergenz zwischen dem kommunizierten Charakter der Zone 3 und dessen tatsächlicher Struktur, erfüllte der Klatsch im Dorf eine doppelte Funktion: Er verstärkte einerseits intern den Zusammenhalt der Etablierten und andererseits extern die Stigmatisierung und die Abgrenzung der Außenseiter. Demnach diente er als Barriere für die Integration der Zugezogenen. Meist wurde über Vergehen in der Siedlung, wie gesetzliche Verstöße oder normabweichendes Verhalten, überspitzt und ausgeschmückt hergezogen. Der Klatsch verbreitete sich meist innerhalb kurzer Zeit in der gesamten Nachbarschaft des Dorfes. Je anstößiger über Angehörige der Siedlung gesprochen wurde, desto solidarischer erwiesen sich nach Ansicht der Dorfbewohner die Etablierten und desto größer wurde die Kluft zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen. Dabei bauten diejenigen, die den Klatsch verbreiteten, ihre Macht weiter aus, während die Außenseiter zunehmend unterdrückt wurden. Auch diese Handlungsweise diente der Abwertung der Außenseiter und der Regulation der Gruppenmeinung, bei der immer der Dualismus der eigenen positiv empfundenen und der fremden negativ empfundenen Eigenschaften im Mittelpunkt stand. Dabei wurde die Gegensätzlichkeit der Lebensweise und der Respektabilität zwischen den Zonen betont und sich deutlich von den Zugezogenen abgegrenzt.20
Die herabsetzende Haltung der Alteingesessenen beeinflusste das Verhalten der Bewohner von Zone 3 und verstärkte die disparate Machtverteilung, die die Figuration kennzeichnet. Angehörige der Außenseiter äußerten sich in den Interviews aufgrund des antagonistischen Umgangs seitens der Etablierten ebenfalls negativ über diese: Sie bezeichneten sie als „verdammt großkotzig“ und „hochnäsige Snobs“, die „stolz auf ihre kleine Welt“21 seien.
Die Zugewanderten unternahmen zu Beginn viele Versuche, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den Alteingesessenen aufzubauen, wobei sie allerdings von vornherein von ihnen gemieden und abgewiesen wurden. Wie bereits erwähnt beruhte diese Tatsache auf dem gemeinsam entwickelten Normenkanon der Etablierten, die über mehrere Generationen hinweg ihre Gruppenidentität gebildet und ihren Alltag erschaffen hatten.22 Die Etablierten, die sich in der Vorrangstellung gegenüber den Außenseitern sahen, waren in der Position, die machtschwächeren Siedlungsbewohner in der erniedrigten Stellung zu halten und die eigene Herrschaft zu festigen. Andersherum gelang es den Außenseitern nicht, sich gegen die Alteingesessenen zur Wehr zu setzen und ihr Leben unabhängig von deren Einfluss zu führen. Die Behandlung der Zugewanderten als eine minderwertige, unterlegene Gruppe führte dazu, dass viele Individuen diesen Status annahmen, der ihnen zugeschrieben wurde, und sich auch dementsprechend verhielten. Die am stärksten stigmatisierten Bewohner der Zone 3, insbesondere die jüngeren Angehörigen, benahmen sich schlecht. Mit den Vorurteilen übereinzustimmen beziehungsweise den zugeschriebenen Merkmalen noch überspitzter nachzukommen, war für die Stigmatisierten eine Möglichkeit, sich für die Unterdrückung und Ausgrenzung zu revanchieren.23 Die erlebte Abwertung und Demütigung hatte demnach zur Folge, dass sich das Selbstbild der Zugezogenen an das Fremdbild, das sie durch die Alteingesessenen erfuhren, anpasste und sich nach dem Prinzip der selbst erfüllenden Prophezeiung entwickelte. Der Begriff stammt von dem US-Amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der davon ausgeht, dass die Erwartung eines bestimmten Verhaltens dazu führt, dass dieses auch eintritt: „The self-fulfilling prophey is […] a false [Hervorhebung RM] definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true [Hervorhebung RM].“24
Dennoch stimmte das negative Verhalten, das die Etablierten den Neuankömmlingen zuschrieben, mit einzelnen Siedlungsbewohnern überein. Zwischen den Angehörigen der Zone 3 wurde allerdings nicht weit differenziert, sodass das schlechteste Benehmen Einzelner automatisch auf die gesamte Gruppe der Außenseiter übertragen wurde. Es machte auch keinen Unterschied, wenn Individuen mehr Gemeinsamkeiten mit den Dorfbewohnern aufwiesen. Zusammen mit dem Klatsch und der Gruppenmeinung als regulative Faktoren diente die Generalisierung dem Ungleichgewicht der Machtbalance und dem weiteren Herrschaftsausbau. Die abwertende Haltung der Etablierten gegenüber den Zugezogenen hemmte deren Widerstand. Alle Gruppenmitglieder der Machtschwächeren wurden gleichermaßen und ungeachtet ihres individuellen Verhaltens mit einer kollektiven Schande verknüpft. Indem die Außenseiter beispielsweise mit bestimmten Schimpfworten stigmatisiert wurden und sich zunehmend mit diesen und der damit verbundenen Minderwertigkeit assoziierten, wurde die Überlegenheit der Alteingesessenen immer mehr gefestigt. Auf diese Weise ging der zugewiesene Status der einzelnen Person in die eigene Persönlichkeitsbildung über. In Winston Parva zeigte sich, dass auch die niedrige Position der Zugewanderten so aufrechterhalten werden konnte.25
2.2 Die Stigmatisierung von Fremdgruppen
Das Kernelement der Studie umfasst die Stigmatisierung der Außenseiter, die durch das Ungleichgewicht der Machtverteilung und der daraus resultierenden Überlegenheit der anderen Gruppe entsteht. Je steiler das Machtgefälle ist, desto effektiver wirkt sich die Stigmatisierung zugunsten der Machtstärkeren aus und desto intensiver werden die Machtschwächeren unterdrückt. Elias bezeichnet die Stigmatisierung als eine Art soziales Vorurteil, das dazu führt, eine bestimmte Gruppe als minderwertig zu erachten.26
[...]
1 Elias, Scotson (1990): S. 250
2 Elias (1997): S. 70
3 Vgl.: Ebd.: S. 70f.
4 Rosa; Strecker; Kottmann (2018): S. 206ff.
5 Vgl.: Frerichs (2014): S. 23ff.
6 Vgl.: Elias, Scotson (1990): S. 59ff.
7 Vgl.: Mijić, Neckel (2010): S. 353f.
8 Vgl.: Elias, Scotson (1990): S. 10
9 Vgl.: Merton (1968): S. 94
10 Vgl.: Elias, Scotson (1990): S. 239ff.
11 Ebd.: S. 12
12 Vgl.: Ebd.: S. 16
13 Ebd.: S. 49
14 Ebd.: S. 8
15 Vgl.: Ebd.: S. 39ff.
16 Vgl.: Ebd.: S. 146ff.
17 Vgl.: Ebd.: S. 145
18 Vgl.: Ebd.: S. 153ff.
19 Vgl.: Ebd.: S. 70f.
20 Vgl.: Ebd.: S. 172ff.
21 Ebd.: S. 156
22 Vgl.: Ebd.: S. 36f.
23 Vgl.: Ebd.: S. 21ff.
24 Merton (1968) : S. 477
25 Vgl.: Elias, Scotson (1990): S. 182ff.
26 Vgl.: Ebd.: S. 14f.