Das Problem der Bundeswehr mit ihrer Identität. Kann der Traditionserlass die Lösung bringen?

Die Konzepte von Kameradschaft und "brauchbarer Illegalität"


Trabajo Escrito, 2019

15 Páginas, Calificación: 3,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Formalität in Organisationen

3. Informalität

4. Brauchbare Illegalität

5. Kameradschaft

6. Mythos der Kameradschaft

7. Probleme der Bundeswehr

8. Warum der Traditionserlass problematisch ist

9. Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Bundeswehr hat ein Problem. Im aktuellen politischen Diskurs ist sie ein ungern gesehener Gast, der schon lange nicht mehr als Prestigeobjekt der Bundesrepublik dienen kann und keine Abschreckung nach außen mehr verbreitet. Während in der Politik über den Verbleib der Bundeswehr diskutiert wird, schwindet die gesellschaftliche Akzeptanz immer weiter. Immer wieder aufkommende Skandale lassen Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Vereinbarkeit mit den Werten der Bundesrepublik entstehen. Beispielhaft sind die sadistisch anmutenden Ausbildungsrituale bei der Kampfsanitäterausbildung in Pfullendorf (Gebauer 2017), sowie die Anschlagspläne des Rechtsextremisten Franco A. (Flade, Jungholt 2017), welcher mit seiner Gesinnung innerhalb der Bundeswehr unbemerkt bleiben konnte. Die Antwort wird mit einem Verweis auf ein „Haltungsproblem“ der Bundeswehr gesucht (Zeit Online 2017). Es scheint klar, dass noch mehr formale Vorgaben und deren Durchsetzung die Probleme der Bundeswehr lösen sollen. Deshalb wurde vom Verteidigungsministerium ein „Traditionserlass“ verabschiedet, welcher eine formale Richtlinie darstellt, was in der Bundeswehr traditionsstiftend sein darf. Doch aus der Militärsoziologie ist bekannt, dass eine Armee nur aufgrund von informellen Strukturen funktionieren und kampffähig sein kann (Kühl 2017). Deshalb soll innerhalb dieser Arbeit am Beispiel der Kameradschaft erklärt werden, wie es zu den Skandalen in der Bundeswehr gekommen ist und weshalb der Traditionserlass als Antwort nicht funktionieren kann. Die Bundeswehr versagt dabei im „angebrachten“ Maße „brauchbare Illegalität“ für sich zu nutzen und verliert die Kontrolle über die eigene latente informale Struktur.

Dazu werde ich zunächst die Funktionen und Folgen von Formalität und Informalität in Organisationen nach Niklas Luhmann erläutern und auf Spezifitäten wie der „brauchbaren Illegalität“ eingehen. Im Anschluss daran werde ich Kameradschaft und den Mythos der Kameradschaft auf der Basis von Erkenntnissen von Edward A. Shills, Stefan Kühl und Thomas Kühne erläutern. Mit dem erlangten Wissen werde ich die Skandale der Bundeswehr erklären und aufzeigen, weshalb der Traditionserlass als Antwort missglückt und nicht als formales Leitbild der Bundeswehr dienen kann und keine valide Grundlage für die Kampfbereitschaft und Motivation der Soldaten darstellt.

Formalität in Organisationen

Zu großen Arbeitsorganisationen wie der Bundeswehr gehören die formale sowie informale Organisation. Beide Teile ergänzen sich und treten komplementär auf. Anders als in vielen anderen Teilen der Organisationsforschung fasst Luhmann Formalität nicht als eine „bewusste Orientierung an einem gemeinsamen Zweck“ auf, sondern sucht die Erklärung in dem Ursprung der menschlichen Gruppenbildung (Luhmann 1964).

Um ein Zusammenleben gewährleisten zu können, müssen relativ feste und wechselseitige Verhaltenserwartungen gebildet und relativ verlässlich erfüllt werden können. Werden diese Erwartungen laufend enttäuscht, ist das Aufrechterhalten dieser Erwartungen unerträglich. Dabei gesellt sich gern, wer die gegenseitigen Erwartungen anerkennt und diesen nachkommen kann. Gruppierungen, welche Mitglieder mit ähnlichen Erwartungen an sich beherbergen, neigen zur Ausformung von „bevorzugten Verhaltenserwartungen“ (Luhmann 1964). Die Beachtung dieser Verhaltenserwartungen dient gleichzeitig als Mitgliedschaftskriterium (Luhmann 1964).

Dieser Prozess der menschlichen Gruppenbildung stellt für Luhmann den Ursprung der Formalisierung von Verhaltenserwartungen und somit den Aufbau von formalen Organisationen dar. Mitglieder von formalen Organisationen riskieren mit dem Verweigern von Erwartungen seitens der Organisation ihre Rolle als Mitglied. Der Mitgliedschaftsanspruch eines „Rebells“ wäre ambivalent und nicht legitimierbar. Bleibt er trotzdem Mitglied, so ist sein Verhalten und seine Rolle widersprüchlich und er „verliert sein Gesicht, seine Persönlichkeit, sein soziales Ansehen, wenn er nicht entweder seine Ansichten oder seine Mitgliedschaft aufgibt“ (Luhmann 1964).

Somit ist das Charakteristische der Formalisierung das Formulieren von Erwartungen als Mitgliedschaftsregel. Dadurch ist festgelegt, dass das Nichterfüllen dieser Erwartungen mit der Fortsetzung der Rolle als Mitglied nicht vereinbar ist. Dabei ist eine formale Organisation die Bündelung aller formalen Erwartungen. Eine formale Organisation ist in dem Maße formalisiert, indem auch die Verhaltenserwartungen formalisiert sind. Die Formalisierung einer Organisation ist keine Qualität, die besitzt werden kann, sondern eine Charakterisierung (Luhmann 1964). In eine formale Organisation kann man nicht hineingeboren werden, sondern nur per Entscheidung aufgenommen werden (Kieserling 2012).

Dabei ist es wichtig, dass sich formale Erwartungen an die Mitglieder nicht widersprechen. Um dies zu erreichen werden in Organisationen Vorgesetztenhierarchien gebildet, die verbindliche Erwartungen vorgeben. Damit geht natürlich einher, dass das Anerkennen der Vorgesetztenhierarchie an die Mitgliedschaft gebunden ist (Luhmann 1964).

Des Weiteren soll Mithilfe von Formalisierungsprozessen die fehlerfreie Außendarstellung der Organisation gewährleistet werden. Denn mit den nach außen hin sichtbaren Handlungen der Mitglieder stellt sie sich für Nicht-Mitglieder dar. Von Beobachtern werden diese Handlungen erstmal der Organisation zugeschrieben. Schon kleine „Darstellungsfehler“ führen zu einem Verruf des gesamten Systems (Luhmann 1964).

Informalität

Formalisierungsprozesse haben jedoch ihre Grenzen. Eine Organisation kann nicht alle Handlungen, die eine nützliche Wirkung für die Organisation haben formalisieren. Es gibt Erwartungen, auf die sich Mitglieder im Umgang miteinander verlassen müssen, welche nicht zur formalen Erwartung der Organisation erklärt werden können. Beispielhaft ist, dass nur gesellschaftlich legales Verhalten formalisiert werden kann, obwohl illegales Verhalten für die Organisation nützlich sein könnte (Kieserling 2012).

Dabei sind Erwartungen informal, sofern sie nicht als Mitgliedschaftskriterium formuliert werden können. Sollte ein Mitglied entgegen der informalen Erwartungen handeln, kann es nicht formal sanktioniert werden. Informale Erwartungen gehören in gleicher Form zum System wie die formalen Erwartungen. Mithilfe des Beschreibens von informalen Prozessen lassen sich latente Strukturen von Organisationen erfassen (Kieserling 2012).

Informale Erwartungen wiedersprechen häufig formalen Erwartungen, da formal ganz andere Erwartungen an das Handeln von Mitgliedern gestellt werden können, als informal. Dabei sind Organisation oftmals darauf angewiesen, dass informale Erwartungen erfüllt werden. Informale Erwartungen können nicht formalisiert werden, weil sie zum Beispiel anderen formalen Erwartungen widersprechen oder gesellschaftlich illegal sind. Organisationen müssen andere Wege zur Durchsetzung informaler Erwartungen finden. Dieses Problem wird laut Kieserling oftmals mit Tauschprozessen in der Hierarchiekette gelöst. Vorgesetzte verzichten oftmals auf die Durchsetzung von formal Durchsetzbarem und erhalten dafür etwas formal Nichtdurchsetzbares (Kieserling 2012). Bei der Bundeswehr wissen Vorgesetzte zum Beispiel, dass es sinnvoll ist, das verbotene Tragen von Shemagh-Halstüchern zu erlauben, da sie als informale „Auszeichnung“ dienen, dass jemand im Afghanistan Einsatz war. Ein weiteres Beispiel ist das Dulden von einer formal nicht legitimierbaren Durchsetzung von Verhaltensnormen in der Truppe, da sie das Kameradschaftsgefühl stärken (Kühl 2017).

Brauchbare Illegalität

Diese Duldung von informalen Verhaltensweisen, welche für die Organisation von Nutzen sind, wird von Luhmann als brauchbare Illegalität beschrieben (Kühl 2017). Illegales Verhalten liegt vor, wenn es formale Erwartungen verletzt. Jedes System muss in einer sich ständig verändernden Umwelt anpassungsfähig sein und deshalb bis zu einem bestimmten Ausmaß Normabweichungen praktizieren. Normabweichungen sind notwendig, da das System nicht allen Erwartungen folgen kann, wenn es nach seinen eigenen Normen handeln möchte. Diese Abweichungen begünstigen den Aufbau von informalen Strukturen in Organisationen, welche gleichwohl für die Interessen der Organisation von Nutzen sein können. Charakteristisch für Organisationen ist, dass sie oftmals gegensätzliche Ziele verfolgen und eine „widersprüchliche formale Normordnung schaffen“ (Luhmann 1964), welche immer zu einem gewissen Maß an Illegalität führen. Denn es werden Handlungen benötigt, die sich nicht mit der formalen Normorientierung rechtfertigen lassen. Brauchbare Illegalität wird mithilfe von Regeln möglich gemacht. Regeln sind zeitlos und unpersönlich formuliert und lassen sich von Vorgesetzen, sowie Kollegen gleichermaßen nutzen. Erhalten bleiben Regeln, indem sich auf sie berufen wird. Kollegen sowie Vorgesetzte haben die Möglichkeit andere Mitglieder auf ihre formalen Pflichten hinzuweisen, oder dies zu unterlassen. Dabei steht jedes Mitglied, selbst derjenige der sie erlassen hat, immer vor der Entscheidung sie zu zitieren oder abweichendes Verhalten zu dulden. Dabei wird die Abweichung von Regeln durch diejenigen, die für abweichendes Verhalten zur Verantwortung gezogen werden können nur dann geduldet, wenn sie sicher sein können, dass die offizielle Kenntnisnahme verhindert werden kann. Dabei kann ein Mitglied, welches Vorteile aus einer Regel ziehen kann, diese als „Waffe“ einsetzten, oder mit der Tolerierung von Abweichungen einen „Freundschaftsdienst“ machen, welcher entgolten werden muss (Luhmann 1964).

Dabei besteht das Können eines befähigten Vorgesetzten daraus, individuell und fein abgestimmt zu entscheiden, ob das Dulden einer Regelabweichung oder das Berufen auf eine Regel für die Organisation funktional ist und Vorteile mit sich bringt (Kühl 2017). Dabei ist ein gewisses Maß an Regelabweichung für das Gesamtsystem durchaus funktional. Zu beachten ist, dass illegales Verhalten auch Nachteile für die Organisation mit sich bringen kann. Auch formalisierte Erwartungen haben Tendenzspielräume und mit illegalem Verhalten kann die Organisation „sabotiert“ werden. Außerdem muss illegales Verhalten latent bleiben. Die Funktion und das Handeln an sich muss für das System verborgen bleiben. Es kann nicht mit dem Berufen auf Regeln gerechtfertigt werden und muss immer individuell und persönlich erscheinen (Luhmann 1964).

Illegales Verhalten setzt immer persönliches Vertrauen voraus, weshalb von Neulingen und zeitweiligen Vertretern nicht erwartet werden kann, dass sie die illegalen Praktiken fortsetzen (Luhmann 1964).

Kameradschaft

Mit dem Wissen über formale und informale Organisation gehe ich jetzt auf Informalität in Armeen am Beispiel der Kameradschaft ein, um im weiteren Verlauf der Arbeit die Ursachen für die Skandale in der Bundeswehr verstehen zu können und um die Reaktion der Bundeswehr auf die Skandale einschätzen zu können. Kameradschaft lässt sich in unterschiedlichen Dimensionen erfassen. Beginnen werde ich mit den Kameradschaftsnormen und Strukturen. Danach gehe ich zum Mythos der Kameradschaft über.

Edward A. Shils und Morris Janowitz erhoben nach dem zweiten Weltkrieg mithilfe von psychologischen Analysen und Aussagen deutscher Kriegsgefangener eine Studie über den Zusammenhalt und Zerfall der Wehrmacht. Dabei seien Primärgruppeneffekte und weniger ideologische Vorgaben der nationalsozialistischen Führung maßgeblich für die Stabilität der deutschen Armee im zweiten Weltkrieg verantwortlich gewesen. Demnach bot die Primärgruppe den Soldaten einen Zusammenhalt, der die Widerstandsfähigkeit des Einzelnen erhöhte und den sozialen Zerfall vermied. Die Fähigkeit der Primärgruppe die Wiederstandfähigkeit aufrecht zu erhalten und den Zerfall zu vermeiden war von der einheitlichen Akzeptanz von politischen, ideologischen und kulturellen Symbolen abhängig, da sie Identifikationsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Auszeichnung boten. Des Weiteren waren Versuche der Alliierten die deutschen Soldaten mithilfe von Propaganda zum Aufgeben zu bewegen wenig erfolgreich, solange die Primärgruppenstruktur erhalten blieb (Shils, Janowitz 1948).

Auffällig ist, dass Teile der Wehrmacht mit hohen Grad an Primärgruppenidentität selten desertiertenTeildeWehrmachtideneSoldateaubesetzteGebietemitunterschiedlichenEthnienundSprachenzusammenkämpftenbesaßeneineschwache Primärgruppenstruktur und desertierten sehr viel öfter (Shils, Janowitz 1948).

Ein großer Faktor für den Zusammenhalt der Primärgruppen war der „hard core.“ Er bestand aus ideologisch gefestigten, jungen Männern, welche dem nationalsozialistischen Wunschbild entsprachen und für Härte, Zähigkeit, militärische Begeisterung, Energie, homoerotischer Zärtlichkeit und der selbstlosen Ideologie der „Gemeinschaft“ standen. Dieser hard core, welcher aus circa 10-15% der Soldaten bestand, diente als Vorbild für alle anderen Soldaten und war somit ein wichtiger Bestandteil für den Zusammenhalt (Shils, Janowitz 1948).

Im Gegensatz dazu gab es auch Faktoren, die die Primärgruppenstruktur schwächten. Dazu gehört Isolation, weil die Gruppe dann keinen Erwartungsdruck auf einen isolierten Soldaten ausüben kann.Außerdem können familiäre Bindungen, dazu führen, dass Soldaten schnell zu ihrer Familie zurückkehren möchten, weshalb nur gelegentlich die Kontaktaufnahme zur Familie erlaubt wurde. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Verlangen des Einzelnen zu überleben, welches stärker werden kann, als der Wunsch, den Erwartungen der Primärgruppe zu genügen (Shils, Janowitz 1948).

Die Rolle von „Ehre“ im Soldatenberuf war für den Zusammenhalt der Wehrmacht ebenfalls von großer Bedeutung, da sie dafür sorgte, dass Soldaten ihre Aufgaben gewissenhaft ausführten, um nicht als unehrenhaft zu gelten. Stärke ist ein Teil von Ehre und Soldaten fürchteten als schwach enttarnt zu werden. In den Primärgruppen wurden diese Ängste abgebaut, da Soldaten nicht auf sich allein gestellt waren, da sie Unterstützung aus der Gruppe genießen konnten (Shils, Janowitz 1948).

Die Beziehung der Offiziere zu ihren Soldaten stärkte auch den Effekt der Primärgruppen. Dabei stellte die Persönlichkeit des Offiziers den größten Faktor für die Loyalität seiner Soldaten dar. Laut einem jungen deutschen Offizier hatten die politischen Indoktrinationen keinen großen Einfluss auf die Folgsamkeit seiner Soldaten. Vielmehr ist sein militärisches Können für das Vertrauen seiner Soldaten wichtig. Wenn die Soldaten merken, dass er sich um sie kümmert und nicht leichtfertig mit ihrem Leben umgeht und zusätzlich noch vorbildlich handelt, indem er alle Aufgaben der Soldaten besser erledigt als sie selbst, wird er von den Männern geschätzt. Außerdem waren die Spannungen zwischen Soldaten und Offizieren gering, da die Offiziere oftmals Illegalitäten wie Trunkenheit und Frauen in den Baracken „übersahen“ (Shils, Janowitz 1948).

Die Stärke der Primärgruppe wird deutlich, wenn man sich die Versuche der Alliierten ansieht, die deutschen Soldaten mithilfe von Propaganda zum Aufgeben zu bewegen. Eine Studie aus dem Jahr 1944 mit 150 gefangenen deutschen Soldaten zeigte, dass 65 Prozent der Soldaten durch die Flugblätter der Alliierten erreicht wurden und die Meisten die Inhalte glaubten. Acht Soldaten erzählten, dass sie die Inhalte der Flugblätter glaubten, aber als Soldaten und anständige Personen niemals ans Desertieren denken würden. 22 Soldaten beschrieben, dass die Inhalte der Flugblätter sich mit ihren Erlebnissen deckten, sie aber keine große Wichtigkeit für ihre Schlachterfahrung besaßen (Shils, Janowitz 1948).

Zusammenfassend ist nach Shils und Janowitz die stark ausgeprägte Kleingruppenstruktur für den Zusammenhalt der Wehrmacht verantwortlich gewesen. Wenn die Kleingruppenstruktur sich entwickeln konnte, war die Moral hoch und die Widerstandfähigkeit gegen Propaganda und Feind sehr groß (Shils, Janowitz 1948).

Seit der Studie von Shils und Janowitz gelten informale Kameradschaftsnormen in Kleingruppen als ein sehr wichtiges Element, um in Armeen Kampfbereitschaft herzustellen und auch zu erhalten. Somit ist zum Beispiel die Gewaltbereitschaft von Soldaten besonders durch soziale Kontrollmechanismen und emotionale Bindungen zu erklären und weniger durch Befehle und Regeln der formalen Ordnung (Kühl 2014).

Dabei ist Kameradschaft eine Erweiterung der Kollegialität. In Organisationen werden Probleme, welche nicht durch die formale Struktur gelöst werden können mithilfe von informalen Strukturen bekämpft. Die informalen Erwartungen produzieren dabei oftmals Kollegialitätsnormen (Kühl 2014). Dabei werden Mitglieder einer Organisation in bestimmte Verhaltensweisen und Erwartungen unter Kollegen, die erfüllt und dann erwartet werden können, eingeweiht (Luhmann 1964). Man verhält sich Kollegen gegenüber loyal, stellt sie nicht bloß und ist hilfsbereit. Wenn ein Kollege mit einer Aufgabe überfordert ist, springen andere ein, oder kaschieren den Fehler. In Organisationen, in denen Personen nicht nur mit ihrer Rolle, sondern ihrer gesamten Person mit all ihren Rollenbezügen eintreten, bildet sich Kollegialität zur Kameradschaft aus. Denn in Organisationen wie dem Militär, der Polizei und der Feuerwehr ist das Mitglied als gesamte Person in Gefahr, da es schwer verletzt und sogar getötet werden kann. Kameradschaft ist nach Charles Moskos für die Mitglieder einer Organisation ein notwendiges Mittel, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen und resultiert weniger aus dem Verinnerlichen einer Kameradschaftsideologie (Kühl 2014).

Kameradschaftliche Normen gelten nicht nur in lebensbedrohlichen Extremsituationen, sondern zum Beispiel auch wenn kleine Illegalitäten gegenüber Vorgesetzten versteckt werden müssen und kleine Hilfestellungen sowie Freundschaftsdienste erwartet werden können. Das regelmäßige Mobilisieren von Kameradschaftsnormen in alltäglichen Situationen scheint notwendig, um sie auch in Extremsituationen abrufen zu können. Dabei werden in unterschiedlichen Ebenen der Organisation Konformitätserwartungen aufgebaut. Kameradschafts- beziehungsweise Kollegialitätserwartungen bilden sich besonders unter Organisationsmitgliedern heraus, welche sich in einer ähnlichen Lage befinden. Dabei sind persönliche Vertrauensbeziehungen, anders als Shils und Janowitz noch glaubten, nicht notwendig, um Kameradschaftsnormen herauszubilden. Sie können sich nicht nur in kleinen Primärgruppen, sondern auf der Ebene von Bataillonen, Divisionen und ganzen Armeen entwickelnDenn Laut Luhmann ist die gegenseitige Unterstützung, vor allem in der Darstellung nach außen nicht von einer Gruppenbildung innerhalb der Organisation abhängig. Da sich Kameradschaftsnormen, besonders unter Organisationsmitgliedern in der gleichen Lage herausbilden, stellt Ranggleichheit ein wichtiger Faktor des „kollegialen Stils“ dar. Durch das eindeutige Zuordnen von Personen in der Hierarchiekette, wird das Erkennen und Behandeln gleichrangiger Kollegen erleichtert. In Armeen ist das Erkennen von gleichrangigen Organisationsmitgliedern durch Uniformen erleichtert und so können auch bei geringen oder gar keinen Kenntnissen von anderen Mitgliedern Kameradschaftserwartungen leicht greifen. Verschärft werden Kameradschaftserwartungen unter Gleichrangigen durch den Druck der Vorgesetzten. Jeder Soldat kann annehmen, dass andere Soldaten dem gleichen Drill und Schikanen der Vorgesetzten ausgesetzt sind, weshalb ein Zusammengehörigkeitsgefühl nicht nur in Kleingruppen, sondern unter allen gleichrangigen Soldaten entsteht. Wenn sich kameradschaftliche Erwartungen unabhängig von konkreten persönlichen Beziehungen entwickeln, bauen sich anonymisierte Kameradschaftserwartungen auf. Ein Soldat, der verwundet auf dem Schlachtfeld liegt, kann damit rechnen auch von Soldaten gerettet zu werden, die er nicht persönlich kennt (Kühl 2014).

Trotz dem Entstehen von Kameradschaftserwartungen unter Gleichrangigen in der gesamten Organisation, können sich Kameradschaftserwartungen in Kleingruppen weiter verstärken. In Kleingruppen kann jedes Mitglied mit jedem anderen Mitglied persönlich in Kontakt treten. Dabei sind Kleingruppen im Militär oft identisch mit den kleinen formalen militärischen Einheiten. In formalen Kleingruppen bilden sich jedoch im Schatten der Formalstruktur oft informale Kleingruppen heraus, welche eine schwer zu fassende Identität und keine genau definierte Grenze der Mitgliedschaft besitzen Aus Abhörprotokollen Wehrmachtssoldaten lässt sich schließen, dass innerhalb von Kompanien und Zügen der Wehrmacht solche Kleingruppen auf der Basis von gleichen Einstellungen und gegenseitiger Sympathie entstanden. Der tägliche persönliche Kontakt unterstütze die Bildung von informalen Kleingruppen. Problematisch an informalen Kleingruppen ist der schwer zu verkraftende Personalwechsel. Denn schon durch ein oder zwei verwundete oder getötete Mitglieder können informale Kleingruppen kollabieren. Informale Kleingruppen bilden sich dann sehr schnell erneut heraus. Dies entspricht laut Römer dem Bedürfnis des Einzelnen und weniger dem Zelebrieren der Kameradschaft in der militärischen Erziehung. Anders als Shils und Janowitz noch glaubten sind ähnliche soziale Merkmale wie eine ähnliche regionale Herkunft, Bildungshintergrund, berufliche Tätigkeit und Ethnie kein unbedingt notwendiger Faktor für das Bilden von informalen Kleingruppen. Solche informalen Kleingruppen sind wichtig, um zum Beispiel initiative Gewaltakte in Kampfsituationen zu erklären, da sich Mitglieder in Kleingruppen oft in ihrem Verhalten bestärken. Durch den Konformitätsdruck in informalen KleingruppeseiebrutalGewaltanwendunundaErschießevon unschuldigen Zivilisten möglich gemacht worden (Kühl 2014).

Das Durchsetzen von kameradschaftlichen Normen findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Obwohl Kameradschaftsnormen in Organisationen nur begrenzt formal durchgesetzt werden können, können sie durch Organisationen formal zelebriert werden. In nationalsozialistischen Organisationen galten kameradschaftliche Normen oft als Leitbild für alle Mitglieder. Die nationalsozialistische Propaganda versuchte allen Mitgliedern des NS-Staates durch das Zelebrieren der Bluts- und Bodenverbundenheit ein kameradschaftliches Gemeinschaftsgefühl zu geben. Trotz den formalen Bemühungen von Organisationen Kameradschaft zu zelebrieren, werden kameradschaftliche Erwartungen, wie alle anderen informalen Erwartungen hauptsächlich informal durchgesetzt. Dabei spielen positive Sanktionen, wie Tausch und negative Sanktionen wie Mobbing eine zentrale Rolle (Kühl 2014).

In den formalen Elementen einer Organisation gibt es normalerweise keine Tauschelemente. Sie sind sogar eher tauschfeindlich strukturiert. Trotzdem spielen Tauschelemente für das Durchsetzen von informalen Erwartungen eine zentrale Rolle. In Armeen springen Soldaten oft für Kameraden ein, wenn sie einen Auftrag nicht erledigen können, auch wenn es keine formalen Anweisungen dafür gibt. Diese Tauschbeziehungen existieren in Organisationen auch zwischen Vorgesetzten und Untergeben. So „übersehen“ Vorgesetzte manchmal Verstöße, sofern die Untergebenen in anderen Bereichen besonderes Engagement zeigen. Beispielhaft ist das „Übersehen“ von Trunkenheit in den Baracken der Soldaten, welches ich schon bei Shils und Janowitz beschrieb. Dabei sind diese Täusche oftmals kein direkter Tausch, sondern ein zeitlich versetzter. Ein Soldat geht einem Soldaten gegenüber in Vorleistung mit der Erwartung, dass sie ihm irgendwann mal vergolten wird (Kühl 2014).

Kameradschaftliche Normen werden jedoch auch mit negativen Sanktionen, wie Mobbing durchgesetzt. Wenn Tauschprozesse nicht gelingen, greifen Organisationsmitglieder zu negativen Sanktionen, um die informalen Normen durchzusetzen. Diese Sanktionen steigern sich von abfälligen Bemerkungen, zur Verweigerung von Hilfeleistungen bis zu körperlichen Bestrafungen. Anders als man vermuten könnte, dienen negative Sanktionen nicht zum Ausschließen aus dem Kameradenkreis, sondern zum Durchsetzten von Kameradschaftserwartungen. Kameraden, welche die negativen Sanktionen über sich ergehen lassen und die formal verbotenen Erniedrigungen nicht melden, dürfen Teil des Kameradenkreises bleiben. In nationalsozialistischen Organisationen konnten Mitglieder, die informale Erwartungen nicht erfüllten sogar formal sanktioniert werden. Polizisten, die nicht an den Massenerschießungen von Zivilisten teilnehmen wollten, bekamen Sonderwachen und Sonntagsdienste. Außerdem konnte ihnen ihr Heimaturlaub gestrichen werden und die Polizeikarriere wurde erschwert (Kühl 2014).

Zuletzt sei noch gesagt, dass sich kameradschaftliche Normen durch das Einräumen von Freiheit mobilisieren lassen. Denn wenn eine Aufgabe unbedingt formal erledigt werden muss, aber dem Soldaten die Möglichkeit gegeben wird sich dem Vollziehen des Auftrages zu entziehen greifen kameradschaftliche Normen. Denn das Entziehen vom Vollziehen des Auftrages, wird von den anderen Kameraden als „im Stich lassen“ gewertet, weshalb Soldaten oftmals Aufträge erfüllten, obwohl sie formal nicht dazu genötigt werden konnten, nur um die Gunst ihrer Kameraden nicht zu verlieren (Kühl 2014).

Mit dem Wissen über Formalität, Informalität und Illegalität konnten wir nun ein Grundverständnis von dem Entstehen und Durchsetzen kameradschaftlicher Normen erlangen. Für die Betrachtung der Bundeswehr ist jedoch auch der „Mythos“ der Kameradschaft von Bedeutung.

Mythos der Kameradschaft

Kameradschaft ist wie Opferbereitschaft, Heroismus und Männlichkeit als überzeitlicher ewiger Wert beziehungsweise Mythos des modernen Krieges konzipiert (Kühne 1998).

Mythen haben eine gegenwartsbezogene Funktion. Sie helfen die Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen zu bewältigen, denn sie geben Lebenssituationen einen Sinn. Durch sie wird die kollektive Identität gesichert. Der Mythos der Kameradschaft ist notwendig, um dem Krieg und dem Kämpfen einen Sinn zu verleihen. Soldaten streben danach den Mythos der Kameradschaft zu erleben. Viele Soldaten wollten sich im zweiten Weltkrieg die mythisch verklärten Erzählungen des ersten Weltkrieges über Kameradschaft bestätigen. Sie wollten nicht die Schrecken des Krieges erleben, sondern sehnten sich nach dem Erleben der Gemeinschaft von Kameradschaft (Kühne 1998).

Kameradschaft scheint alle Grenzen des menschlichen Daseins zu überschreiten. Kameradschaft ist ein Zustand des höheren Seins, welcher das Leben eines Mannes mit Sinn erfüllt. Des Weiteren steht der Mythos der Kameradschaft für eine totale und ewige Männergemeinschaft, welche zivile Gegensätze aufhebt, den militärischen Freund/Feind Gegensatz egalisiert, die Geschlechtergegensätze auflöst und den Gegensatz von Leben und Tod überwindet. Damit repräsentiert Kameradschaft die Nation, eine friedliche Weltordnung, die Menschheit an sich und die Unsterblichkeit. Somit kämpfen Soldaten nicht nur für ihre Kameraden, sondern auch dafür einen Mythos zu aktualisieren und ihrem Leben einen Sinn zu geben (Kühne 1998).

Der Mythos der Kameradschaft machte den Krieg für die Soldaten erst erträglich. Denn mithilfe der Kameradschaft versicherten sich die Soldaten ihrer Menschlichkeit, wodurch die soziale Praxis des Krieges erst kompensierbar wurde (Kühne 1998).

Probleme der Bundeswehr

Mit dem Wissen über Illegalität in Organisationen und den Praktiken der Kameradschaft werde ich mir aktuelle Skandale der Bundeswehr anschauen und die Gründe dafür suchen. Im weiteren Verlauf werde ich das formale Grund Gerüst der Bundeswehr und die Reaktion der Führungseben auf die Skandale analysieren.

Im Jahr 2017 wurde die Bundeswehr von einer Reihe von Skandalen erschüttert. In einer Kaserne für Elitesoldaten in Pfullendorf, soll es bei der Kampfsanitäterausbildung zu sadistischen Gewaltritualen in den Ausbildungspraktiken gekommen sein. Diese Übergriffe sollen täglich stattgefunden haben und von den Vorgesetzten geduldet und unterstützt worden sein. Dabei sollen die Vorgesetzten die Praktiken bildlich festgehalten haben. Die Rekruten seien Opfer von Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung, Gewaltdarstellungen und Nötigung geworden sein (Gebauer 2017).

Ans Licht gekommen sind die Praktiken bei der Kampfsanitäterausbildung durch einen weiblichen Leutnant, welcher sich im Oktober 2016 direkt an den Wehrbeauftragten Hans- Peter-Bartels und der Verteidigungsministern Ursula von der Leyen wandte. Die Rekruten seien dazu genötigt worden sich vor den Kameraden nackt auszuziehen. Dann seien sexuell motivierte Übungen vollzogen worden. Explizites Mobbing gegen Frauen sei auch an der Tagesordnung gewesen (Gebauer 2017).

Unter den Mannschaftssoldaten sollen gewaltvolle Erniedrigungsrituale regelmäßig durchgeführt worden sein. Demnach wurden Soldaten stundenlang an Stühle gefesselt und mit Wasserschläuchen abgespritzt (Gebauer 2017).

Ein weiterer Skandal im Jahr 2017 war das unbemerkte Vorgehen eines mutmaßlichen Rechtsextremisten innerhalb der Bundeswehr. Die Bundeswehr besitzt mit dem Militärischen Abschirmdienst einen eigenen Geheimdienst. Er soll unter anderem Extremisten aus der Bundeswehr fernhalten. Dafür benötigt er Hinweise auf eine extremistische Gesinnung. Dabei ist der Geheimdienst auf die Denunziation von Soldaten oder Vorgesetzten angewiesen, welche verdächtige Verhaltensweisen von Kameraden mitbekommen und sie dann melden. Obwohl die Hinweise aus der Truppe die wichtigste Quelle sind, kommen auch Hinweise von Polizei und Verfassungsschutz dazu (Jungholt, Flade 2017).

Bei dem mutmaßlichen Extremisten Franco A. gab es keine Hinweise aus der Truppe. Jedoch ließ sich schon im Jahr 2014 auf einer Offiziersweiterbildung in Frankreich eine extremistische Gesinnung erkennen. Demnach hatten französische Professoren in der Masterarbeit von Franco A. völkisches Gedankengut festgestellt. Der deutsche Vorgesetzte von Franco A. in Frankreich war jedoch der Meinung, dass Franco A. keine rechtextremistische Gesinnung besäße. Anstatt den Vorfall, wie im MAD Gesetz vorgesehen, zu melden, glaubte er den Distanzierungen von Franco A. Franco A. durfte eine neue Arbeit schreiben und es gab keinen Eintrag in der Personalakte. Deshalb erfuhr der MAD erst von der extremistischen Bedrohung als Franco A. mutmaßlich einen Anschlag vorbereiten und sich dafür Waffen besorgen wollte (Jungholt, Flade 2017).

Sogenannte Sicherheitsüberprüfungen durch die MAD, mit denen Personen, die Zugang zu vertraulichen Informationen und Einrichtungen haben, werden mithilfe von Gesprächen mit Personen aus dem Umfeld des Geprüften durchgeführt (Jungholt, Flade 2017).

Die Bundeswehr scheint ihr Gespür für brauchbare Illegalität verloren zu haben. Denn das Durchsetzen kameradschaftlicher Normen scheint aus dem Ruder zu Laufen. Kameradschaft ist ein informaler Prozess, welcher von immenser Wichtigkeit für die Bundeswehr ist, um Kampfbereitschaft und Motivation hoch zu halten (Kühl 2017). Die gewalttätigen Rituale und das Mobbing in der Kaserne in Pfullendorf lassen sich mit der Durchsetzung kameradschaftlicher Normen erklären. Wie im vorherigen Teil der Arbeit beschrieben, werden kameradschaftliche Normen mithilfe von Sanktionen durchgesetzt (Kühl 2014). Im Fall der Pfullendorf-Delikte werden die Rekruten, sofern sie die sadistisch anmutenden Gewaltrituale über sich ergehen lassen mit dem Verbleib im Kameradenkreis belohnt. Deshalb sind die Vorkommnisse in der Pfullendorf Kaserne eigentlich durchaus funktional, da sie die Kameradschaft zelebrieren, welche die wichtigste Motivation für die Soldaten darstellt (Kühne 1998). Auch die Erniedrigungen durch die Vorgesetzten stärken die Kameradschaft, da sie ein Zugehörigkeitsgefühl unter den untergebenen Soldaten produzieren. Denn alle sind den gleichen Erniedrigungen und Drill ausgesetzt, wodurch sich eine „Leidensgemeinschaft der Ohnmächtigen“ gegen das Militär als Unterdrückungsinstitution bildet.

In den Fällen in Pfullendorf scheint es jedoch keine Grenzen bei den Praktiken zu geben, da die Sanktionen weder von den Kameraden noch den Vorgesetzten reguliert werden. Die nötige Klugheit, mit der entschieden wird, wann auf das Zitieren einer Regel verzichtet werden sollte und wann sich auf eine Regel berufen werden sollte, scheint zu fehlen. Die Illegalität ist nicht mehr funktional, sondern führt zu Skandalen, welche die illegalen latenten Strukturen der Bundeswehr aufdecken und sie als nicht kompatibel mit den Werten der modernen Gesellschaft wirken lassen. Die Bundeswehr kann jedoch nicht von den Werten und Normen der Kameradschaft abrücken, da die Kameradschaft nach wie vor die wichtigste Grundlage für die Motivation und Kampfbereitschaft der Bundeswehr darstellt. Deshalb wäre sie gut beraten, die illegalen Praktiken in einem Maße durchzuführen, welches funktional für das Bilden von Kameradschaft ist, ohne jedoch für Skandale zu sorgen. Das Gespür für die richtige Dosierung der brauchbaren Illegalität scheint nicht vorhanden zu sein.

Dabei versuchen die Soldaten sich den Mythos der Kameradschaft zu bestätigen. Der Mythos der Kameradschaft ist unter anderem der Motor für die männliche Vergemeinschaftung. Das Militär gilt als männliche Einrichtung und als Schule der Männlichkeit (Kühne 1998). Aufgrund dessen wurden Frauen in der Pfullendorf Kaserne gemobbt. Denn eine Frau muss erstmal beweisen, dass sie den rituellen Leitbildern des Mythos der „männlichen“ Kameradschaft folgen kann. Sofern Frauen das Mobbing ertragen, werden sie mit dem Verbleib im Kameradenkreis belohnt.

Die Bundeswehr reagierte mit Entlassungen von Vorgesetzten. Doch die Vorgesetzten sind nicht allein für das Entstehen von kameradschaftlichen Normen, wie den Sanktionsmaßnahmen verantwortlich. Kameradschaftliche Normen werden auch mit dem Wechsel von Vorgesetzten beibehalten. Ein anderer Vorgesetzter besitzt jedoch eventuell die „Klugheit“ die brauchbare Illegalität benötigt.

Der Fall Franco A. deckt ein weiteres Problem der Bundeswehr auf. Denn Extremisten können innerhalbderBundeswehrmeistensnurerkanntundformalsanktioniertwerden,wenn Kameradschaftsnormen versagen. Das heißt die MAD ist davon abhängig, dass Kameraden und Vorgesetzte sich gegenseitig denunzieren. Ein großer Faktor von kameradschaftlichem Verhalten ist jedoch die Solidarität mit den anderen Kameraden (Kühne 1998). Bei einer intakten Kameradschaftsstruktur, die von der Bundeswehr aufgrund der Funktionalität sehr erwünscht ist, decken sich Kameraden gegenseitig. Vergleichbar ist das Decken von Kameraden im zweiten Weltkrieg, welche Fahnenflucht betrieben (Kühne 1998). Das heißt bei intakten Kameradschaftsstrukturen, werden sich Kameraden im Regelfall decken. Das ist natürlich fatal, wenn ein Geheimdienst zur Extremismusbekämpfung auf Hinweise „aus der Truppe“ angewiesen ist.

Warum der Traditionserlass problematisch ist

Die Ursache für die Skandale suchte die Bundeswehr in einer „Haltungsschwäche“ und einem Führungsproblem. Als Reaktion auf das Bekanntwerden der extremistischen Gesinnung von Franco A. ließ Ursula von der Leyen einen neuen Traditionserlass verabschieden, welcher als Grundlage für die Führung der Bundeswehr dienen soll (Zeit Online 2018). Darin ist festgelegt was als traditionswürdig sein darf, und was nicht als Vorbild angesehen werden soll. Für die Bundeswehr spielen Tradition und Mythen eine zentrale Rolle (Biehl 2015).

Der Traditionserlass ist in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt. Als erstes kommen die Grundsätze, dann die historischen Grundlagen, das Traditionsverständnis und schlussendlich die Traditionspflege. Die erste Problematik des Traditionserlasses ist, dass er eine formale Reaktion auf ein informales Problem ist. Die Motivation in den Kampf zu ziehen beruht, wie schon mehrfach erläutert, weniger auf formalen und ideologischen Vorgaben, sondern spiegelt den Wunsch wider den Mythos der Kameradschaft zu bestätigen.

Mit dem neuen Traditionserlass möchte die Bundeswehr eine neue mythische Grundlage für die Kampfmotivation geben, denn der neue Traditionserlass, soll die gemeinsamen Werte des Grundgesetzes symbolisieren und die Identifikation und Sinnhaftigkeit der Einsätze erhöhen (Bundesministerium der Verteidigung 2018). Zudem werden den Soldaten ihre zentralen Bezugspunkte vorgegeben. Demnach sei die Grundlage für die Motivation der Soldaten, an der sie sich orientieren sollen, zum Beispiel der Schutz der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger und Bürgerinnen, treues Dienen in Freiheit, der gemeinsame Beitrag zur Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, Hilfen beim internationalen Krisenmanagement und humanitäre Hilfeleistungen (Bundesministerium der Verteidigung 2018). Abgesehen davon, dass politisch-ideologische Grundlagen für die meisten Soldaten eine schwache Motivationsgrundlage darstellen, bietet der Traditionserlass keinen lebhaften Mythos, der mit Erzählungen von ehemaligen Soldaten gefüttert wird.

Die Wehrmacht gilt im Traditionserlass als nicht traditionswürdig (Bundesministerium der Verteidigung 2018). Da aber in der nationalsozialistischen Gesellschaft Kameradschaft als zentraler Wert der Volksgemeinschaft zelebriert wurde, bietet sie eine starke mystische Grundlage für Soldaten, die sich den Mythos der Kameradschaft bestätigen wollen (Kühne 1998)DakönnterklärenweshaldiBundeswehaktueleiProblemitRechtsextremismuzhabescheintDendeMAbearbeiteiSchnit400 Extremismusfälle pro Jahr (Jungholt, Flade 2017).

Somit lässt sich sagen, dass der Traditionserlass nur eine schwache Motivationsgrundlage für Soldaten darstellen kann und somit für keine Veränderung der Verhältnisse sorgt. Die Bundeswehr möchte Kameradschaft erhalten und pflegen, aber bietet keine starken mystischen Grundlagen, nach deren Bestätigung ein Soldat sucht. Der Nationalsozialismus hingegen zelebrierte die Kameradschaft und bietet eine Menge mystische Grundlage. Das könnte die hohe Anzahl an Extremisten in der Bundeswehr erklären.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bundeswehr mehrere Probleme hat, die sie nicht zu lösen weiß. Sie hat zwar erkannt, dass Kameradschaft ein sehr wichtiger funktionaler Bestandteil einer Armee ist, aber nicht wie Kameradschaft funktioniert. Die Probleme innerhalb der Organisationkultur, welche deutschlandweit zu Skandalen geführt haben, liefern Hinweise. Somit hat die Bundeswehr das Gespür für brauchbare Illegalität verloren. Das Durchsetzen von Kameradschaftsnormen ist in der Regel durchaus funktional, jedoch werden kameradschaftliche Normen innerhalb der Bundeswehr nicht mehr im angebrachten Maß durchgesetzt. Das Entlassen von Vorgesetzten wird die Durchsetzung von kameradschaftlichen Erwartungen nicht verhindern, weshalb die Reaktion der Bundeswehr auf diese Praxis schwach ausfällt. Andererseits sollte die Bundewehr auch kein Interesse daran haben, das Durchsetzen von kameradschaftlichen Normen zu unterbinden, da sie die Kampfmotivation und Moral erhöhen. Sie müsste nur dafür sorgen, dass die brauchbare Illegalität latent bleibt. Dafür wären kluges Handeln und gutes Gespür für den richtigen Zeitpunkt und das funktionale Maß an brauchbarer Illegalität notwendig.

Weiterhin muss sich die Bundeswehr zur formalen Regulierung von Extremismus in den eigenen Reihen auf Hinweise „aus der Truppe“ verlassen, was ein Armutszeugnis darstellt, da Kameradschaft davon lebt, sich gemeinsam gegen die militärische Führung zu verteidigen. Kameraden decken sich gegenseitig und vertrauen aufeinander. So geschah es auch im Fall Franco A.

Die Reaktion der Bundeswehr auf die Skandale, war der Traditionserlass, welcher eine formale Reaktion auf ein informales Problem darstellt. Die im Traditionserlass vorgegebenen Werte und Orientierungen besitzen für die meisten Soldaten keinen Wert. Viel mehr streben sie danach den Mythos von Kameradschaft zu erleben und zu aktualisieren. Im Gegensatz zum Traditionserlass, bietet der Nationalsozialismus mit der Glorifizierung von Kameradschaft Identifikationspotenzial, was die hohe Anzahl an Extremisten in der Bundeswehr erklären könnte.

Literaturverzeichnis

Bundesministerium der Verteidigung. (2018, 28. März). Der neue Traditionserlass. Abgerufen 14. April, 2019, von https://www.bmvg.de/de/aktuelles/der-neue-traditionserlass-23232

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Final del extracto de 15 páginas

Detalles

Título
Das Problem der Bundeswehr mit ihrer Identität. Kann der Traditionserlass die Lösung bringen?
Subtítulo
Die Konzepte von Kameradschaft und "brauchbarer Illegalität"
Universidad
Bielefeld University
Calificación
3,0
Autor
Año
2019
Páginas
15
No. de catálogo
V501964
ISBN (Ebook)
9783346039675
ISBN (Libro)
9783346039682
Idioma
Alemán
Palabras clave
problem, bundeswehr, identität, kann, traditionserlass, lösung, konzepte, kameradschaft, illegalität
Citar trabajo
Julian Borchard (Autor), 2019, Das Problem der Bundeswehr mit ihrer Identität. Kann der Traditionserlass die Lösung bringen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/501964

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