Ethnohermeneutik. Eine Kombination der Methoden


Ausarbeitung, 2018

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Zur Ethnohermeneutik

Lebensentwürfe und deren Erfassung

Die Forschungssituation

Die drei Perspektiven der Analyse einer Forschungssituation
Die Forschungssituation als institutionelle Situation
Die Forschungssituation als Gesprächs- und Interaktionssituation
Die Forschungssituation als Beziehungs- und Übertragungsraum

Rekonstruktion und Reflexion

Vor- und Nachteile der Methode

Literaturverzeichnis

Zur Ethnohermeneutik

Entwickelt wurde die Ethnohermeneutik von dem Theologen, Soziologen und Gruppenanalytiker Hans Bosse in den 1970er Jahren. Als Erhebungs- bzw. Auswertungsmethode1 verbindet die Ethnohermeneutik Erkenntnisse aus der Soziologie, der Psychoanalyse und der Gruppenanalyse. In die Methode fließen zudem die Auseinandersetzung mit der Sequenzanalyse, der objektiven Hermeneutik und Ergebnisse neuerer Affektforschung mit ein (Vgl. Kerschgens; S.243). Zentrales Moment der Rekonstruktionsarbeit bildet dabei die Analyse der Forschungssituation.

Das durch die Anwendung der Ethnohermeneutik verfolgte Ziel richtet sich auf die Erfassung der verschiedenen subjektiven, lebensphasentypischen, kulturellen und gesellschaftlichen Dimensionen von Lebensentwürfen, die in der Forschungssituation ersichtlich werden. Anhand dieser Lebensentwürfe kann, qua der Differenzen zwischen individuellen und kollektiven Sinnfiguren, die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft untersucht werden. Des Weiteren geben Lebensentwürfe Aufschluss darüber, wie neue Deutungsmuster entstehen und damit auch über die gegebenen Spielräume für die Entfaltung oder Unbewusstmachung individueller Sinnfiguren. Die bewussten und unbewussten Anteile von Lebensentwürfen sind dabei gleichermaßen subjektiv wie auch sozial geprägt und mit individuellen, wie auch kollektiven Abwehrstrukturen verbunden.

Da die Lebensentwürfe einen wichtigen Bestandteil der ethnohermeneutischen Rekonstruktionsarbeit darstellen, soll im Folgenden näher darauf eingegangen werden.

Lebensentwürfe und deren Erfassung

Lebensentwürfe entstehen durch die Auseinandersetzung mit kulturell-gesellschaftlichen Regeln, Diskursen und sozialen Bedingungen, sowie den innerpsychischen Bedürfnissen und Strebungen (Vgl. Günther; S.54). Sie sind das Ergebnis biografischer Arbeit, welche sich „[…] in einer unauflösbaren Spannung zwischen individueller und kollektiver Sinnbilding[…]“ (Bosse; 1999; S. 244) vollzieht. Dieses Ergebnis ist allerdings nicht zwangsläufig gleichbleibend, da die Lebensentwürfe in jeder Kommunikationssituation zwischen Individuen zum Ausdruck kommen und somit ständig neu ausgehandelt und formuliert werden. Dies dient zum einen der Sicherung von Kontinuität und dem Umgang mit Diskontinuität, zum anderen der Aufrechterhaltung der sozialen Identität von Individuen. Durch die Lebensentwürfe stehen Individuen in Relation zu sozialen Gruppen und beziehen Stellung zu den innerhalb der Gruppen vorherrschenden Regeln.

Lebensentwürfe können – kurz gesagt – dabei helfen zu verstehen, inwieweit die einzelnen kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse den Individuen die Möglichkeit zur Veränderung der gegebenen Welt- und Selbstbilder ermöglichen bzw. sie zur Anpassung an die selben drängen.

Um die Lebensentwürfe in ihrer Vollständigkeit, d.h. inklusive ihrer bewussten, unbewussten und abwehrgeprägten Anteile zu erfassen, wird eine Kombination von Sequenzanalyse, wie man sie vor allem in der objektiven Hermeneutik findet, und szenischem Verstehen, welches in der Tiefenhermeneutik genutzt wird, angewendet. Durch diese Triangulation kann sowohl der manifeste, wie auch der latent unbewusste Sinn der Forschungssituation rekonstruiert werden.

Die Forschungssituation

Eines der wichtigsten Merkmale der Ethnohermeneutischen Praxis ist die konsequente Betrachtung jeder einzelnen Forschung bzw. jedes einzelnen Falls als „Fall in der Forschung“ (King; 2004; S.51). Durch diesen Blickwinkel wird ermöglicht den Einfluss der speziellen – vom alltäglich abweichenden – Situation der Forschung mit in die Analyse einzubeziehen. Es wird also verhindert, „[…] der Fiktion des von der Forschung unberührten Falles anzuhängen“ (ebd.; S.51).

Die Forschungssituation wird daher in der Analyse als ein Ort bzw. Raum einer gemeinsamen Praxis und Beziehung von Forscher_in und Beforschten betrachtet, in welcher die verschiedenen Lebensentwürfe interaktiv im Moment der Forschung unter den Beteiligten ausgehandelt werden. (Vgl. Kerschgens; S.78). Diese Analyse schließt an die Annahme der Untrennbarkeit von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt an, welche unter anderem von Habermas und Bourdieu vertreten wird. Diese Untrennbarkeit wird damit begründet, dass die „[…] hermeneutische Sozialforschung nicht eine objektiv vorgefundene, sondern eine von uns selbst erzeugte Welt untersucht“ (Günther; S.55). Als Ergebnis muss der Erkenntnisprozess als subjektive Arbeit verstanden werden, was auch bedeutet, die Lebensentwürfe und Erfahrungen, sowie subjektives Interesse und Zwänge der Forscher_in nicht außer Acht lassen zu können. Sie wirken konstituierend auf die Forschungssituation und sind somit ein Teil derselben.

Bei der Analyse der Forschungssituation finden soziologische und psychoanalytische Theorien Anwendung, um die Erfassung der inneren und äußeren Dimensionen der sozialen Praxis zu gewährleisten. Die dabei grundlegenden Bestandteile der Situation lassen sich demnach aufteilen in die dem Akteur vorgegebenen äußeren Bedingungen und die inneren Einstellungen, die der Akteur in die Situation mitbringt (Vgl. Esser; S.36). Dazu gehören nach der Definition von William I. Thomas die aktuell gegebenen sozialen Beziehungen, wie in etwa Institutionen, Familie, Schule, Kirche, sowie die Haltungen und Werte anderer Personen, mit welchen das Individuum in Kontakt steht. So lassen sich die äußeren Bedingungen in drei Unterkategorien gliedern: Opportunitäten, institutionelle Regeln und signifikante Symbole bzw. Bezugsrahmen. Die inneren Bedingungen bestehen dann aus dem gesamten Spektrum des Wissens und der Werte des Akteurs, sowie dessen Einstellungen (Vgl. Esser; S.56).

Um die verschiedenen Dimensionen der von Forscher_innen und Teilnehmer_innen gemeinsam konstruierten Forschungssituation und die darin zur Geltung kommenden Lebensentwürfe zu erfassen, können die folgenden Fragen genutzt werden: „Ist die Übertragung Ausdruck einer kulturellen Situationsdeutung? Gibt es beispielsweise kulturelle Gepflogenheiten beim Umgang mit [der Forscher_in], als jemandem, der spezifische Eigenschaften hat (ein Mann/eine Frau ist etc.)? Inwieweit ist die Forschungssituation institutionell-gesellschaftlich geprägt? Begegnen sich die Beteiligten z.B. als Professionelle? Inwieweit ist sie Ausdruck einer lebensgeschichtlich fundierten unbewussten Interpretation?“ (Kerschgens; S.80)

Um zu verstehen, weshalb die Subjektivität der Menschen für die Erklärung von objektiven sozialen Prozessen von Bedeutung ist, soll im Folgenden eine grobe Erläuterung des Thomas Theorems erfolgen.

Das Thomas Theorem besagt, dass die gleiche Situation von verschiedenen Akteuren ganz unterschiedlich gedeutet werden kann. Dies gilt vor allem für externe Beobachter, wie in etwa Sozialwissenschaftler_innen. Jedoch ist es nur die aktuelle, tatsächlich vorliegende Definition der Situation, die für die Selektion des Handelns entscheidend ist (Vgl. Esser; S.64-65). Infolgedessen lassen sich anhand der Handlungen von Akteuren deren Situationsdefinitionen ableiten. Resultierend aus dieser Situationstheorie werden Sozialwissenschaftler_innen nicht als reine Beobachter betrachtet, da auch ihre Situationsdefinition – wenn auch professionell – ausschlaggebend für die Ausgestaltung der Forschungssituation ist und daher in die Reflexion mit einbezogen werden muss.

Um dabei allerding über die Handlungsebene hinausgehende Dimensionen der Situation erfassen zu können, werden psychoanalytische Konzepte mit einbezogen. Demnach ist die Forschungssituation als Übertragungsraum zu verstehen, in welchem die Beteiligten – ausgehend von ihren biographischen Erfahrungen – lebensgeschichtliche und aktuelle Beziehungen auf die Realsituation übertragen und damit die Art und Weise der Kontaktaufnahme bestimmen (Vgl. Günther; S.56). Als Übertragungsprozesse werden dabei die unbewussten Aktivitäten bezeichnet, welche in sämtlichen Kommunikationssituationen zwischen Individuen ihren Platz finden.

Folglich werden alle verbalen sowie nonverbalen Äußerungen der Forschungsteilnehmer_innen als Ausdruck dafür verstanden, wie sie die Forschungssituation erleben und verstehen. Demgemäß wird bei der Analyse der Forschungssituation insbesondere berücksichtigt wie die Teilnehmer_innen die Situation – gemäß ihrem kulturellen, sozialen und individuellen Hintergrund – bewusst oder unbewusst konstruieren (Vgl. Günther; S.56).

„Die Betrachtung der Forschungssituation öffnet [somit] einerseits den Blick auf die Übertragungsphänomene der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die ihre biographisch geprägten Lebensentwürfe in die Forschungssituation einbringen. Andererseits wird die Forschungssituation als eine Realsituation betrachtet, als gesellschaftlich strukturierte Situation, in der sich das Handeln der Forschungsteilnehmer und –teilnehmerinnen ganz konkret auch als Realisierung von aktuellen Interessen und Zielen, Konventionen und sozialen Zwängen verstehen lässt“ (Günther; S.56-57). Diese Sichtweise erlaubt, das Handeln der Teilnehmer_innen nicht nur als Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Entwürfen zu sehen, sondern auch als Auseinandersetzung mit der Forscher_in. Im Zuge dessen können auf der Reflexionsebene Interessen, Macht- und Hierarchiestrukturen erfasst werden.

Die Analyse der Forschungssituation beinhaltet daher drei verschiedene Perspektiven:

1. „Die Forschungssituation als institutionelle Situation
2. Die Forschungssituation als Gesprächs- und Interaktionssituation
3. Die Forschungssituation als Beziehungs- und Übertragungsraum“ (Günther; S.57)

Die einzelnen Perspektiven sollen im Folgenden kurz erläutert werden.

Die drei Perspektiven der Analyse einer Forschungssituation

Die Forschungssituation als institutionelle Situation

Kennzeichnend für die Forschungssituation sind in erster Linie die äußeren Gegebenheiten in denen die Forschung erfolgt. Dementsprechend wird die institutionelle Dimension der Situation anhand von Kriterien wie in etwa räumlicher, zeitlicher, örtlicher, finanzieller und fachlicher Ausstattung analysiert. Hinzu kommt die Analyse der Kompetenz und persönlichen Daten der Forscher_in wie zum Beispiel Alter, Geschlecht, kulturelle Zugehörigkeit und Religiosität. Außerdem von Bedeutung ist die Art der Kontaktaufnahme, sowie die besprochenen Vereinbarungen – wie in etwa Ziele, Regeln, Pflichten und Methoden – für das Forschungsbündnis (Vgl. Günther; S.57).

Die Analyse der Forschungssituation als institutionelle Situation bezieht sich somit vor allem auf die äußere Form, wodurch die Bedingungen, zu denen die Forschung stattfindet, aktiv in die Reflexion mit einbezogen und als Hilfsmittel des Verstehens genutzt werden kann.

Die Forschungssituation als Gesprächs- und Interaktionssituation

Betreffend der Forscher_in ist in die Analyse mit einzubeziehen, dass sie nicht nur die Forschungssituation an sich mit strukturiert, sonder auch auf eine bestimmte Art und Weise von den Teilnehmer_innen wahrgenommen wird, was ebenfalls wesentlich für die Struktur der Situation ist. Als Teil einer institutionellen und professionellen Kultur wird die Forscher_in als dem Forschungskontext zugehörig betrachtet.

Entsprechend ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Verortung, lebensgeschichtlichen Anteilen und bewussten bzw. unbewussten Motiven vertritt die Forscher_in ein bestimmtes Interesse, welches ein gezieltes Auftreten mit sich bringt. Auch seitens der Teilnehmer_innen wird die Beziehung zur Forscher_in gemäß ihrer verinnerlichten subjektiven, milieuspezifischen und kulturellen Mustern ausgestaltet (Vgl. Günther; S.58).

Für die Rekonstruktion ist es daher ausschlaggebend, die beabsichtigten oder unbeabsichtigten, subjektiven und objektiven Vorgaben der Forscher_in in einem Forschungsprotokoll festzuhalten, um die Deutungen der Teilnehmer_innen nachvollziehen zu können.

Des Weiteren ergibt sich die Notwendigkeit zur Reflexion der Forschungssituation, um verschiedene, zunächst als störend empfundene Anteile verstehen zu können. Darunter können in etwa unpassende oder nicht einzuordnende Äußerungen zählen, aber auch das Forschungsthema betreffende kulturelle oder professionelle Tabus und die sogenannten blinden Flecken der Forscher_in. Folgen davon sind unter Umständen etwa Abweichungen von der Forschungsmethode, Verstehenshindernisse oder Vermeidungsbündnisse (Vgl. Günther; S.58).

[...]


1 In seinen frühen Schriften fasst Bosse die Methode unter dem Begriff Ethno-Hermeneutik, später unterscheidet er innerhalb der Methode zwischen der Ethnoanalyse als Erhebungsmethode und der Ethnohermeneutik als Auswertungsmethode. (Vgl. Schwarz, S. 148)

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Ethnohermeneutik. Eine Kombination der Methoden
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Psychoanalyse und Sozialforschung
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
12
Katalognummer
V502377
ISBN (eBook)
9783346033093
ISBN (Buch)
9783346033109
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ethnohermeneutik, Sozialforschung
Arbeit zitieren
Nicole Kräuter (Autor:in), 2018, Ethnohermeneutik. Eine Kombination der Methoden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502377

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