Chancengerechtigkeit bei Friedrich August von Hayek, John Rawls und Amartya Sen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

23 Seiten, Note: 1,25


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

1. Chancengerechtigkeit bei Friedrich August von Hayek
1.1. Prämissen: Freiheit, Eigentum und Markt
1.2. Begründung: Vertragsfreiheit und Meritokratie
1.3. Verteilungskonsequenzen: Libertäre Ungleichheit

2. Chancengerechtigkeit bei John Rawls
2.1. Prämissen: Grundgüter und Grundsätze der Gerechtigkeit
2.2. Begründung: Urzustand, Rationalität und Maximin-Regel
2.3. Verteilungskonsequenzen: „faire Chancengleichheit“

3. Chancengerechtigkeit bei Amartya Sen
3.1. Prämissen: Individuelle Fähigkeiten
3.2. Begründung: Optimale Wahlfreiheit
3.3. Verteilungskonsequenzen: „selbst bestimmte

Chancengerechtigkeit“

Fazit: Chancengerechtigkeit im 21. Jahrhundert

Literaturverzeichnis

Einleitung

Aristoteles unterscheidet zwei Arten der Gerechtigkeit: die iusitia directiva und die iustitia distributiva. Erstere ist eine ausgleichende, entschädigende Gerechtigkeit, die entweder durch Rechtsbruch (ex delictu) oder Vertragsverpflichtungen (ex contractu) bindend eingefordert werden kann[1]. Letztere, die iustitia distributiva, die verteilende Gerechtigkeit, besitzt diese rechtsförmige Verbindlichkeit nicht. Sie wird heute synonym zur Verteilungsgerechtigkeit oder der sozialen Gerechtigkeit gebraucht (Kersting 2000a: 17) und ist je nach weltanschaulicher Orientierung umstritten. Eben diese iustitia distributiva wird in ihrer unterschiedlichen Ausdeutung im Zentrum meiner Betrachtungen stehen. Die iustitia directiva wird hier nicht in die Erörterung mit einbezogen werden.

Die Verteilungsgerechtigkeit wurde im Verlaufe des 20. Jahrhunderts lange und häufig nur als die gleiche a priori Verteilung von Rechten und insbesondere die gerechte ex post Verteilung von Gütern und monetären Transfers verstanden. Darauf bauen die meisten demokratischen Wohlfahrtsstaaten des europäischen Kontinents auf. Dies, so eine sich verbreiternde Erkenntnis, scheint in den ausdifferenzierten Gesellschaften der postindustriellen Staaten nicht mehr auszureichen, um verkrustete Statuszuweisungen und vererbte Klassenzugehörigkeiten aufzubrechen und sich einer einsehbar fairen Verteilung von Lebenschancen anzunähern. Die gerechte Verteilung von Chancen hat nicht zuletzt deshalb in den neueren politischen Gerechtigkeitstheorien an Bedeutung gewonnen. Das Wissen darum, dass Lebenschancen die eigentlichen Entscheidungsfaktoren für ein selbst bestimmtes, „gutes Leben“ (Aristoteles) sein können, ist insbesondere den liberalen Gerechtigkeitstheorien in den letzten Jahrzehnten zunehmend eingeschrieben worden. Ist es dies tatsächlich? Und wenn ja, in gleicher Weise? Reicht allein schon der unverbrüchliche Ausgangspunkt vom Individuum her zu denken, um zu gleichen Schlussfolgerungen bei den Verteilungsstrukturen und Verteilungsergebnissen zu gelangen? Zweifel sind angebracht und diesen sollen in meiner Arbeit nachgegangen werden.

Auf diesem Hintergrund werde in dieser Arbeit die Chancengerechtigkeit[2] in den Theorien von Friedrich August von Hayek, John Rawls und Amartya Sen herausarbeiten. Ich habe damit drei liberale Konzeptionen der Gerechtigkeit gewählt, die diesen Begriff unterschiedlich fassen und der Gerechtigkeit der Chancenverteilung in ihren Theorien einen unterschiedlichen Stellenwert zumessen.[3] Die drei Theoretiker folgen einer kardinalen Gemeinsamkeit des liberalen Denkens, nämlich das Individuum als archimedischen Ausgangspunkt jedes gerechtigkeitstheoretischen Modells oder Diskurses zu nehmen. Aber trotz dieses gemeinsamen Fluchtpunktes des methodologischem wie normativen Individualismus sind die internen Unterschiede zwischen den liberalen Gerechtigkeitstheorien erheblich und folgenreich: das Spektrum reicht von libertären Positionen in Hayeks Konzept des ungestörten „reinen Marktes“, der außerhalb der Kategorie „gerecht“ und „ungerecht“ bleibt – über sozialliberale Verteilungskonsequenzen der Rawlschen Theorie, die Institutionen vorschreibt, die eine gerechte Gesellschaft mit gerecht verteilten Grundgütern (primary goods) vorsieht, bis hin zu Sens „Fähigkeiten“, die alle Individuen in die Lage versetzt, selbst bestimmt ein „gutes Leben“ (Aristoteles) zu planen und zu leben. Hier ergibt sich ein aufschlussreicher Spannungsbogen, der aufzeigt, dass Chancengerechtigkeit zentral im liberalen Gerechtigkeitsverständnis sein kann oder aber nur en passant gestreift wird und minimale Rechtsgleichheit genügen muss. Was bei von Hayek die formale Gleichheit vor dem Gesetz ist, für die ein minimal state ausreicht, ist bei Rawls die Gleichverteilung von Grundgütern und bei Sen die substantielle Gleichheit der Chancen, für die erhebliche institutionelle Vorkehrungen (polity) und staatliche Verpflichtungen in der täglichen Politikgestaltung (policies) notwendig werden. Für die Umsetzung der Gerechtigkeitsprinzipien reicht weder für Rawls noch für Sen ein schlanker Staat aus.

Ich werde in dieser Arbeit aus den gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen von von Hayek, Rawls und Sen vor allem jene Passagen herausarbeiten, die sich entweder explizit auf die gerechte Verteilung von „Lebenschancen“ (Dahrendorf 1979) beziehen oder für eine solche Theorie implizit nutzbar gemacht werden können. Allerdings haben die Überlegungen der drei Philosophen und Ökonomen einen unterschiedlichen Theoriestatus. Während John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ eine an Hobbes (more geometrico) erinnernde dichte Konstruktion ist, haben die beiden philosophierenden Ökonomen von Hayek und Sen verschiedene Bücher und vor allem Aufsätze vorgelegt, aus denen ihre Konzepte der Chancengerechtigkeit „destilliert“ werden sollen.

Chancengerechtigkeit bezieht sich häufig auf gerechtigkeitstheoretische Überlegungen, die auf eine Verteilung a priori, d.h. auf die Phase vor dem „Marktgeschehen“ bezogen wird. Chancen sollen so verteilt werden, dass jede Person die gleichen Zugangschancen zum Markt erhält. Doch kann das genügen? Bedarf es darüber hinaus nicht doch noch einer ex post Umverteilung für eine gerechte Gesellschaft? Auch das soll im Lichte der drei Gerechtigkeitstheorien diskutiert werden. Es soll deutlich werden, dass sich die drei Philosophen auch hierin sichtbar unterscheiden.

Warum habe ich gerade diese drei Theoretiker ausgewählt? Ihre Auswahl richtet sich nach einem similar cases design, d.h. sie sind alle noch dem liberalen Denken zuzurechnen, weisen aber beachtliche Unterschiede bei den Ausgangsprämissen, den Begründungen und Prioritäten, sowie den Verteilungs- und Umverteilungskonsequenzen auf. Dies wird deshalb den Dreischnitt meiner Argumentation leiten: Prämissen, Begründung und Verteilungskonsequenzen. Die Symmetrie der Darstellung soll einen systematischen Vergleich der Konzepte ermöglichen und ihre Tauglichkeit für die Realität entwickelter OECD Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts ermessen lassen.

1. Chancengerechtigkeit bei Friedrich August von Hayek

1.1. Prämissen: Freiheit, Eigentum und Markt

Friedrich August von Hayeks „Law, Legislation and Liberty“ erschien 1976, fünf Jahre nach John Rawls bahnbrechender „A Theory of Justice“ (1971). Freiheit ist der zentrale Bezug in von Hayek Überlegungen zu Gesellschaft, Institutionen, Markt und Staat. Um für Markt und Gesellschaft eine ungestörte Entfaltung sicherzustellen, muss die Freiheit des Individuums so uneingeschränkt wie möglich bleiben.[4] In einer Gesellschaft, in der „soziale Gerechtigkeit“ gegen oder nach dem Markt durchgesetzt wird, sieht Hayek die individuelle Freiheit am Boden (Kersting 2000a: 34f). Doch von der gehüteten Freiheit als alleiniger Prämisse lassen sich noch keine Institutionen unstrittig ableiten, es sind mehrere Systeme denkbar. Während Rawls eine gerechte Gesellschaft mit ihren Institutionen detailliert ausarbeitet, stellt von Hayek nur verschiedene Prämissen – Freiheit des Marktes, des Individuums, des Vertrages – als unausweichlich für eine gerechte Gesellschaft dar (Zintl 2000: 117). Von Hayek beschränkt sich auf die formale Gleichheit und Freiheit und lässt die reale Freiheit zur Gestaltung der Lebenswirklichkeit als irrelevant außen vor.

In Anlehnung an John Locke ist für Friedrich August von Hayek das Eigentum Vorraussetzung, Garant und Ergebnis der Freiheit und darf nicht von einem übermächtigen Staat umverteilend angetastet werden. Nur der Markt ist das Medium in dem sich die Freiheit entfalten kann: jeder Teilnehmer entscheidet frei, wie viel an Zeit, Geld, Bildung und Anstrengung er „investieren“ will. Der Markt ist die effizienteste Distributionssphäre, etatistische Einschränkungen über einen vertragsrechtlichen Ordnungsrahmen hinaus, würden ökonomische Ineffizienzen provozieren und die Freiheit der Marktteilnehmer erheblich einschränken. Maximale Gerechtigkeit herrscht, wenn alle Spielregeln des Marktes für alle gleichermaßen gelten, Rechtsgleichheit herrscht, Eigentumsrecht und maximale Vertragsfreiheit gelten. Jeder Eingriff in dieses sensible System verursacht Ungleichgewichte und Ungerechtigkeit. Wenn Politik also verteilt und Zustände herstellt, die als gerecht festgelegt wurden, dann kann sie nicht mehr dem autonomen Handlungsrahmen untergeordnet sein, die Freiheit wird mit Füßen getreten und die Gerechtigkeit wird ad absurdum geführt (Hayek 1971: 65 ff).

Dies erinnert an Thomas Hobbes, der in dem „Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische Recht“ einen Schiedsrichter entwirft, der entweder in der Form des Gesetzgebers oder in Form eines Richters letztinstanzlich entscheidet, was unrecht und recht ist. Dort ist bereits dann ein gerechter Zustand erreicht, wenn Judikative und Exekutive den Naturzustand befriedet haben (Hobbes, zit. nach Kersting 2000a: 22 f.).[5] Von Hayek steht hier gleichermaßen in der Tradition von Hobbes und Kant, bei denen es nur Gleiche in einer Gesellschaft gibt, und solange ein Staatskonstrukt nicht durch Diskriminierung oder Bevorzugung seine Symmetrie einbüßt, ist Verteilungsgerechtigkeit gewährleistet.[6] Die Verteilung ist deshalb bei von Hayek vollständig dem Markt überantwortet, der Staat darf sich hier keine ausgleichende Funktion anmaßen (Kersting 2000a: 26).

1.2. Begründung: Vertragsfreiheit und Meritokratie

Rechtliche Vertragsfreiheit sichert die individuelle Freiheit. Jeder muss frei sein von der Einmischung Dritter oder des Staates. Dies ist der klassische liberale Freiheitsbegriff nach Locke und wird bei Isaiah Berlin treffend die klassische „negative Freiheit“, d.h. die Freiheit von etwas, genannt. Die Vertragsfreiheit eines jeden Marktteilnehmers soll möglichst nicht beschränkt werden. Dies gilt auch dann, wenn ein Staat durch minimale Existenzsicherung verhindert, dass sich jemand gezwungen sieht Verträge abzuschließen, die seine Würde verletzten. Es ist ein zentraler Grundsatz im Denken von Hayeks, dass niemand außer dem Besitzer der Ressource selbst über deren Verwendung entscheiden oder diese beschränken kann (Hayek 1981: 224). Deren produktivste Nutzung darf von Seiten des Staates nicht behindert werden. In einer Hayekschen Gesellschaft mit dem Markt als alleinigen Verteiler herrscht Meritokratie, jeder bekommt das, was er verdient. Formale Rechtsgleichheit ist garantiert, aber sie darf nicht in einen Anspruch auf materielle Gleichheit münden. Eine solche Verteilungsgerechtigkeit ist für von Hayek in einer Marktwirtschaft in der Ungleichheiten unbeabsichtigte Ergebnisse von Prozessen sind, aus denen Institutionen entstanden sind, die für die meisten die besten Ergebnisse erzielen, geradezu ungerecht. Manchen Mitglieder der Gesellschaft einen Rechtsanspruch auf gewisse Teile zuzusprechen, die diese nicht selbst erwirtschaftet haben, sei nicht nachvollziehbar (Ibid: 95). Dies ist und bleibt die unüberwindbare Trennlinie zwischen libertären und egalitären Liberalen: Libertäre[7], wie von Hayek, lehnen staatliche Umverteilungsmaßnahmen zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit als sozialstaatlichen Rechtsanspruch eines Jeden strikt ab. Stattdessen sehen sie eine eventuelle Sozialstaatlichkeit höchstens als minimale Existenzsicherung oder freiwillige Wohltätigkeit.

[...]


[1] Kant hat hierfür die prägnante Formel „-a +a = 0“ gefunden.

[2] Ich spreche hier von Chancengerechtigkeit und nicht von Chancengleichheit, da Gleichheit nicht zwingend gerecht und Ungleichheit nicht automatisch ungerecht sein muss.

[3] Hierbei wird durchaus berücksichtigt, dass Rawls seine „Theorie der Gerechtigkeit“ als umfassende Theorie entwirft, die einen gerechten Staat mit gerechten Institutionen und einer gerechten Gesellschaft nachzeichnet, während bei Hayek und Sen verschiedene Texte sich zu einem Gerechtigkeitskonzept zusammenfügen.

[4] Auch für Rawls darf die Freiheit nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden und nicht ökonomischen oder anderen gesellschaftlichen Vorteilen wegen angetastet werden (Hart 1977: 117).

[5] Der starke Staat , der „Leviathan“ bei Hobbes bezieht sich nicht auf irgendeine Verteilungsgerechtigkeit, sondern auf die Wahrung des inneren wie äußeren Friedens.

[6] Kant folgt Hobbes in diesen Überlegungen und sieht Gerechtigkeit bereits dann gewährleistet, wenn sich alle an die gleichen Gesetze halten und die verbrieften Rechte des Nachbarn akzeptieren.

[7] Dies gilt in noch verschärfter Form für Robert Nozick und seine Schrift „Anarchie, Staat und Utopia“ (1976; engl. Originalversion 1974).

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Chancengerechtigkeit bei Friedrich August von Hayek, John Rawls und Amartya Sen
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Gesellschaftswissenschaften)
Veranstaltung
Seminar
Note
1,25
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V50285
ISBN (eBook)
9783638465328
ISBN (Buch)
9783638598071
Dateigröße
550 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Chancengerechtigkeit, Friedrich, August, Hayek, John, Rawls, Amartya, Seminar
Arbeit zitieren
Julia Merkel (Autor:in), 2005, Chancengerechtigkeit bei Friedrich August von Hayek, John Rawls und Amartya Sen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50285

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