Jungen ohne Väter. Entwicklung der Geschlechteridentität im Kindergartenalter


Projektarbeit, 2015

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2.1 Die Rolle des Vaters bei der Entwicklung des Kindes
2.2 Auswirkungen des Aufwachsen ohne Vater auf den Sohn
2.3 Entwicklung und Bedeutung von Geschlecht und Geschlechtsidentität

3. Soziologische Theorie zum Identitätsbegriff (Lothar Krappmann)
3.1 Zentrale Prämissen und Aussagen
3.2 Relevanz im Hinblick auf die Fragestellung

4. Geschlechtertheorie nach Judith Butler
4.1 Zentrale Prämissen und Aussagen
4.2 Relevanz im Hinblick auf die Fragestellung

5. Bewältigungstheorie nach Lothar Böhnisch
5.1 Zentrale Prämissen und Aussagen
5.2 Relevanz im Hinblick auf die Fragestellung

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In diesem Theorieprojekt möchte ich die (Geschlechter-)Identitätsentwicklung des Kindes im Kindergartenalter (3-6 Jahre) thematisieren und die Bedeutung der Rolle des Vaters für diese Entwicklung herausfinden. Im ersten Kapitel beschreibe ich die aktuellen Familienstrukturen, die Rollen der Eltern und den aktuellen Forschungsstand. Im Kapitel zwei gehe ich nochmal näher auf die Rolle des Vaters bei der Identitätsentwicklung ein, beschreibe welche Auswirkungen dies auf das Aufwachsen des Sohnes ohne Vater haben könnte und erläutere im Hinblick auf das Thema die Bedeutung der Geschlechteridentität. Danach befasse ich mich mit 3 Theorien, die die Entwicklung der (Geschlechter-) Identität und die Bedeutung des Vaters beleuchten sollen: der Identitätstheorie nach Lothar Krappmann, die Geschlechtertheorie von Judith Butler sowie die Theorie der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch als Konzept der Sozialen Arbeit. Am Ende jeder vorgestellten Theorie untersuche ich diese dahingehend was sie über die (Geschlechter-)Identitätsentwicklung des Kindes aussagt und inwiefern die gewonnenen Erkenntnisse mit den zuvor in der Einleitung und Hinführung aufgestellten Behauptungen und Aussagen übereinstimmen. Im Fazit nehme ich Stellung zum Theorieprojekt und fasse die Ergebnisse zusammen und leite daraus einen Auftrag bzw. Ausblick für die Soziale Arbeit ab.

In einer Zeit in der sich die Gesellschafts- und Familienstrukturen ändern, in der Normalerwerbsbiografien brüchig sind, Frauen einer regelmäßigen Erwerbsarbeit nachgehen und Väter sich innerhalb der Familie stärker engagieren, steigt das Interesse an der Bedeutung und des Einflusses des Vaters auf die Entwicklung der Kinder. Der Einfluss der Mutter für ihr Kind ist unbestritten - von ihrer biologischen Funktion bis hin zur Rolle als Mutter und wichtige Bindungsperson. Doch wozu brauchen Kinder einen Vater und welche Rolle spielt er für die Entwicklung der Kinder (vgl. dazu insgesamt Saltzwedel 2009, S. 3)?

Bis in die 60iger Jahre bestand eine klare Rollenverteilung in der Familie, der Mann/Vater war der Beschützer und Ernährer und die Frau/Mutter hatte die Funktion der Betreuerin bzw. Versorgerin. Durch verschiedene Bewegungen (feministische Revolution, Männerrevolte) änderte sich das Bild von Familie und Erziehung und es rückte die Frage in den Vordergrund welche erzieherische Bedeutung und Funktion der Vater hat (vgl. Walbiner 2006a, S. 10).In der heutigen Vaterforschung ist es selbst für Experten schwer den Überblick zu behalten. Konsens ist, dass der Vater für die Entwicklung des Kindes wichtige Beiträge leisten kann (vgl. Walbiner 2006b, S. 191). „Säuglinge und Kleinkinder können ebenso enge Bindungen zu Vätern aufbauen wie zu Müttern. Auch wenn Väter nicht direkt anwesend sind, können sie im Leben ihrer Kinder dennoch eine wichtige Rolle spielen“ (Walbiner 2006b, S.191).

2.1 Die Rolle des Vaters bei der Entwicklung des Kindes

Die Rolle des Vaters bei der Identitätsentwicklung des Kindes wird kontrovers diskutiert. Nach neoliberalistischen Vorstellungen hat der Vater eine einzigartige und wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Kindes, insbesondere bei der Rollenfindung und um Geschlechtsidentität aufzubauen. Studien zeigen aber, dass nicht das Geschlecht der Erziehungsperson eine positive Entwicklung des Kindes vorhersagen lässt, sondern sie brauchen eine stabile Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson, die Verantwortung und Fürsorge übernimmt, die eine positive emotionale Bindung zum Kind hat und zu der das Kind eine positive Beziehung empfindet (vgl. dazu insgesamt Walbiner 2006b, S. 192). So kann beispielsweise auch der Vater primäre Betreuungsfunktionen genauso kompetent und sensibel ausüben wie die Mutter (vgl. Walbiner 2006b, S. 194).

2.2 Auswirkungen des Aufwachsen ohne Vater auf den Sohn

Wie ein Kind die Vaterabwesenheit empfindet, hängt von vielen Faktoren, wie die Ursache der Vaterlosigkeit, materielle Situation, die Einstellung der Mutter gegenüber dem abwesenden Vater, etc. ab (vgl. Schon 2010, S. 78). So beeinträchtigen eher die negativen Konsequenzen der Armut die Entwicklung der Kinder als die Abwesenheit des Vaters. Auch ist eine Ehescheidung nicht zwangsläufig mit negativen Auswirkungen auf die Kinder verbunden (vgl. Walbiner 2006b, S. 192).

Eine Auswirkung von Vaterlosigkeit, die in vielen Untersuchungen festgestellt wurde, ist ein sogenannter Alterseffekt, d.h. je früher die Kinder von Vaterlosigkeit betroffen sind, je nachteiliger sind die Folgen, besonders bis zum 5. Lebensjahr. Eine frühe Abwesenheit des Vaters hat auch geschlechtsspezifisch unterschiedliche Auswirkungen: Jungen sind häufiger mit negativen Konsequenzen betroffen als Mädchen (vgl. Schon 2010, S. 231).

In neueren Forschungsarbeiten kann die Vaterlosigkeit auf die kindliche Entwicklung negative Folgen im Hinblick auf das Selbstwertgefühl, die Selbstkontrolle, das kindliche Wohlergehen und die schulischen Leistungen haben. Dies können kompensierbare Beeinträchtigungen sein, aber auch langfristige gravierende Verhaltensänderungen (vgl. Kalicki 2006, S. 160).

Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen Einstellungen und Verhaltensweisen sind auch nicht eindeutig und es können bei Jungen kein genereller „Mangel an Männlichkeit“ feststellt werden, wenn sie vaterlos aufwachsen (vgl. Schon 2010, S. 107). „Die Entwicklung geschlechtsspezifischer Erlebens- und Verhaltensweisen ist ein hoch komplexes Geschehen, was von vielfältigen Verhaltensweisen beeinflusst wird“ (Schon 2010, S. 107). Um Sicherheit für ihre Geschlechterrolle zu erlangen ist ein Vater oder eine positive männliche Identifikationsfigur aber generell von Vorteil (vgl. Schon 2010, S. 108). Bei Störungen oder Irritationen der Geschlechtsidentität sind die Lebensumstände des vaterlosen Jungen zu betrachten und nicht nur der Aspekt der Vaterlosigkeit (vgl. ebd. 2010, S. 109).

2.3 Entwicklung und Bedeutung von Geschlecht und Geschlechtsidentität

Die Einteilung in 2 unterschiedliche Geschlechter strukturiert unseren Alltag. Die Geschlechterdifferenz in männlich und weiblich ist sowohl eine biologische Tatsache als auch eine soziale Wirklichkeit (vgl. Lammerding 2004, S. 86).

Geschlecht ist nach Lammerding eines der herausragendsten Merkmale was die Sozialisation eines Menschen beeinflusst (vgl. Lammerding 2004, S. 87).

Menschen lernen in einem komplexen Prozess die Regeln, Normen und Kulturen einer Gesellschaft kennen und was es bedeutet Frau oder Mann zu sein (vgl. Küppers 2012, S. 6). „Sie entwickeln ein Gefühl und ein kognitives Konzept für die eigene Identität und lernen, den Regeln dieser Gesellschaft entsprechend mit anderen Personen zu interagieren“ (Küppers 2012, S. 6).

Seit den 1990er Jahren wird die Vorstellung einer eindeutigen und stabilen geschlechtlichen Identität, die im Sozialisationsprozess erzeugt wird, hinterfragt. Judith Butler erklärt, dass von keiner Geschlechtsidentität behauptet werden kann, dass sie aus dem biologischen Geschlecht heraus folgt. Die Unterscheidung von anatomischem Geschlecht und Geschlechtsidentität deutet „vielmehr auf eine grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechtsidentitäten hin“ (Butler 1991, S. 22f.). Eine geschlechtsspezifische Sozialisation, der Erwerb von Geschlechteridentität und Geschlechterrolle ist nach Auffassung der genderorientierten Sozialisationstheorie ein sozialer Prozess (vgl. Küppers 2012, S. 7). „Die Geschlechterdifferenz kann somit als ein Resultat der Alltagspraktiken von Menschen verstanden werden, die sich kontinuierlich zu Frauen und Männern machen beziehungsweise gemacht werden“ (Küppers 2012, S. 7).

„Geschlecht kann als das Ergebnis eines langwierigen gesellschaftlichen Prozesses betrachtet werden, der sowohl den scheinbar natürlichen Geschlechtskörper als auch Geschlechterrollen, -normen und -identitäten umfasst“ (Küppers 2012, S. 8).

3. Soziologische Theorie zum Identitätsbegriff (Lothar Krappmann)

Identität entwickelt sich innerhalb des sozialen Miteinanders und im Kontext der Umgebung des Individuums. Krappmann geht von gesellschaftlichen und individuellen Faktoren aus, die die Identitätsbildung fördern oder hemmen.

3.1 Zentrale Prämissen und Aussagen

Was bedeutet Identität nach Lothar Krappmann? Für ihn ist „Identität die Leistung, die das Individuum als Bedingung der Möglichkeit seiner Beteiligung an Kommunikations- und Interaktionsprozessen zu erbringen hat“ (Krappmann 1993, S. 207). Identität ist also etwas dynamisches, ein veränderbarer Prozess der sich mit jeden Kommunikations- und Interaktionsprozess neu definiert. Krappmann geht davon aus, dass jeder Mensch sich in unterschiedlichen Kommunikationsprozessen unterschiedlich verhält. z.B. dass „wir in ein Gespräch über politische Probleme mit einem Studentenvertreter anders sprechen als mit einem Mitglied der Regierungspartei“ (vgl. Krappmann 1993, S. 7).

Der Mensch, der sich in einem Integrationsprozess befindet, steckt also in folgendem Dilemma: Obwohl gemeinsames Handeln und Kommunikation auf der einen Seite voraussetzen, dass die Partner sich in Handlungsorientierung und Sprache ineinander angleichen, muss jeder auf der anderen Seite verdeutlichen, „wer er ist“, um den Ablauf der Zusammenkünfte vorhersehbar und planbar zu machen (vgl. Krappmann 1993, S. 7).

„Diese Interpretation divergierender Anforderungen und Erwartungen geschieht in der Identitätsbalance, die das Individuum vor den Augen seiner Partner aufrechtzuerhalten sich bemüht. Die Identität stellt dar, wie das Individuum im Horizont der Anforderungen der derzeitigen Interaktionspartner seine eigenen Erwartungen und Bedürfnisse verstanden wissen will“ (Krappmann 1993, S. 207f.).

Krappmann übernimmt zur Klärung der Identitätsbalance das Model von E. Goffman von 1963. Goffman unterscheidet zwischen sozialer und persönlicher Identität. Der Begriff der sozialen Identität bezieht sich auf die Normen und Erwartungen, denen das Individuum im gegenwärtigen Interaktionsprozess gegenübersteht, der Begriff der persönlichen Identität dagegen auf die dem Individuum zugeschriebene Eigenschaften und Einzigartigkeit. Beides sind von anderen zugeschriebene, nicht selbst entwickelte Identitäten, die im Widerstreit zueinander stehen, d.h. beides sind Erwartungen der Interaktionspartner an das Individuum. Bei der persönlichen Identität wird vom Individuum verlangt, zu sein wie kein anderer. Bei der sozialen Identität dagegen wird das Individuum betrachtet, als ob es mit den vorgesehenen Normen voll zur Deckung zu bringen sei. In dieser Dimension wird ihm folglich zugeschrieben, zu sein wie alle anderen. Zwischen Ihnen zu balancieren ist die Leistung des Individuums, die als Ich-Identität bezeichnet wird (vgl. dazu insgesamt Krappmann 1973, S. 170f.).

„Eine gelungene Identitätsbalance bewirkt, dass das Individuum einerseits trotz der ihm angesonnenen Einzigartigkeit sich nicht durch Isolierung aus der Kommunikation und Interaktion mit anderen ausschließen lässt, und andererseits sich nicht unter die für es bereitgehaltenen sozialen Erwartungen in einer Weise subsumieren lässt, die ihm unmöglich macht, seine eigenen Bedürfnisdispositionen in die Interaktion einzubringen“ (Krappmann 1973, S. 171).

Um Ich-Identität zu entwickeln und Interaktionsprozesse fortzuführen, muss das Individuum vielseitige Fähigkeiten besitzen. Krappmann unterscheidet zwischen gesellschaftlichen und individuellen identitätsfördernden Bedingungen. Unter gesellschaftlichen Bedingungen versteht er u.a. flexible Normensysteme, die es ermöglichen die eigenen Rollen neu- und umzuinterpretieren. Das Individuum muss in der Lage sein, die Erwartungen anderer zu antizipieren, gesellschaftliche Normen den eigenen Erwartungen entsprechend umzuinterpretieren und auch Erwartungsdiskrepanzen oder mangelnde Bedürfnisbefriedung zu kompensieren, d.h. es muss die Fähigkeit entwicklen sich in Interaktionsprozessen immer wieder neu definieren zu können. Um diese Leistungen vollbringen zu können, benötigt das Individuum bestimmte individuelle identitätsfördernde Fähigkeiten, die es im Laufe des Sozialisationsprozesses erlernt haben sollte (vgl. dazu insgesamt Krappmann 1993, S. 132): die Rollendistanz, das „Role taking“ bzw. die Empathie, die Ambiguitätstoleranz und die Identitätstoleranz.

Eine weitere Schlüsselrolle in der Theorie von Krappmann gilt den Sprachfähigkeiten. Seine Theorie beschäftigt sich in erster Linie mit den Rollenerwartungen in Interaktionssituationen und den strukturellen Bedingungen für die Behauptung von Identität (vgl. Krappmann 1993, S. 15), jedoch ist für die Darstellung und Aufrechterhaltung von Identität, das Individuum auf Sprache angewiesen und tauscht über sie und mit Hilfe von Gestik bzw. Mimik Absichten, Wünsche und Bedürfnisse aus (vgl. Krappmann 1993, S. 12).

3.1.1 Rollendistanz

Als erste Voraussetzung für Identitätsentwicklung und -wahrung nennt Krappmann die Fähigkeit der Rollendistanz. Rollendistanz bedeutet, „dass das Individuum überhaupt in der Lage ist, sich Normen gegenüber reflektierend und interpretierend zu verhalten“ (Krappmann 1993, S. 133). Dafür ist es wichtig zu erkennen in welcher Rolle man sich gerade befindet und welche Erwartungen die Umwelt an einen stellt, um sich auf der einen Seite auf dieser Grundlage präsentieren zu können und auf der anderen Seite nicht gänzlich diesen Erwartungen unterzuordnen. Wenn man dies erkennt, kann man die Rollenerwartungen überdenken, negieren, modifizieren und interpretieren (vgl. Krappmann 1993, S. 133). Eine Identitätsbildung kann demnach kaum gelingen, wenn man sich ausschließlich den Rollenerwartungen anderer anpasst, oder sie überhaupt nicht beachtet bzw. wahrnimmt.

Da wir in der Regel mehr als eine Rolle inne haben, hilft die Rollendistanz dem Individuum zudem, eine entsprechende Rolle in einer bestimmten Interaktion einzunehmen, in ihr zu handeln und sie zu interpretieren, ohne die anderweitigen Rollenbeziehungen völlig außer acht zu lassen. Rollendistanz kann nicht nur als Voraussetzung für die Identitätsgewinnung angesehen werden, sondern wenn Rollendistanz auftritt, muss das Individuum die Ich-Identität schon in einem gewissen Maße erreicht haben (vgl. Krappmann 1993, S. 137). „Ohne den Rückgriff auf eine zu etablierende Ich-Identität fehlt dem Individuum der Bezugspunkt, vom dem aus es den Anforderungen einer Rolle Widerstand entgegensetzen oder sie modifizieren kann. Rollendistanz ist ein Korrelat der Bemühung um Ich-Identität.“ (Krappmann 1993, S. 138).

3.1.2 „Role taking“ und Empathie

Für Krappmann ist „Role taking“ eine weitere Bedingung um eine stabile Ich-Identität zu entwickeln. „Role taking“ ist ein Prozess, in dem antizipierte Erwartungen ständig getestet und aufgrund neuen Materials, das der fortschreitende Prozess liefert, immer wieder revidiert werden, bis sich die Interpretationen einer bestimmten Situation und ihrer Erfordernisse unter den beteiligten Interaktionspartnern einander angenähert haben (vgl. Krappmann 1993, S. 145). „Role taking“ ist die Fähigkeit sich in andere Menschen und ihre Rollen hineinzuversetzen, also die heute im allgemeinen als Empathie bekannte Fähigkeit (vgl. Krappmann 1993, S. 142). Die o.g. Rollendistanz ist als eine notwendige Voraussetzung für die Betrachtung von Interaktionssituationen aus verschiedenen Perspektiven anzusehen. Ebenso wie bei der Rollendistanz kann Empathie die Identitätsbildung fördern, setzt aber auch voraus, dass schon ein Teil der Identität gebildet wurde (vgl. Krappmann 1993, S. 143):

„Auch Empathie ist sowohl Voraussetzung wie Korrelat von Ich-Identität. Ohne die Fähigkeit, die Erwartungen der anderen zu antizipieren, ist die Formulierung einer Ich-Identität nicht denkbar. Jedoch bestimmt auch die jeweils ausbalancierte Ich-Identität durch die Art, in der sie Normen und Bedürfnisdispositionen aufgenommen hat, die Möglichkeit des „role talking“ mit: Die Ich-Identität, die das Individuum in einer bestimmten Situation errichtet, legt Grenzen fest, über die hinweg der Person „role talking“ schwerfällt“ (Krappmann 1993, S. 143).

Doch entstehen durch Rollendistanz und durch „role-taking“ widersprüchliche und vieldeutige Situationen, die dem Individuum einerseits dazu verhelfen, diese zu betrachten, aber andererseits stellen sie auch eine Belastung für den Einzelnen dar, denn „sie konfrontieren es mit Erwartungen, die den seinen widersprechen und in sich widersprüchlich sein können“ (vgl. Krappmann 1993, S. 150).

Im Kontext dieser Herausforderung hilft die Kompetenz der Ambiguitätstoleranz.

3.1.3 Ambiguitätstoleranz

In der Regel decken sich die Erwartungen von Interaktionspartnern nicht, so dass in zwischenmenschlichen Interaktionen immer wieder Inkongruenzen auftreten. Da somit Interaktion nicht die Bedürfnisse aller Beteiligten vollständig befriedigen kann, muss jedes Individuum die Fähigkeiten entwickeln, diese Erwartungsdiskrepanz zu ertragen (vgl. Krappmann 1993, S. 150f.). Die Fähigkeit, diese Ambivalenzen zu ertragen und zu verarbeiten, bezeichnet Krappmann als Ambiguitätstoleranz. Krappmann schreibt dazu: „Die Ambiguitätstoleranz ist die, für die Identitätsbildung mutmaßlich entscheidendste Variable, weil Identitätsbildung offenbar immer wieder verlangt, konfligierende Identifikationen zu synthetisieren. Ohne sie ist ein Individuum nicht in der Lage, angesichts der in Interaktion notwendigerweise auftretenden Ambiguitäten und unter Berücksichtigung seiner Beteiligung an anderen Interaktionssystemen und einer aufrechtzuerhaltenden biographischen Kontinuität zu handeln“ (Krappmann 1993, S. 167). „Die Errichtung einer individuierten Ich-Identität lebt von Konflikten und Ambiguitäten. Werden Handlungsalternativen, Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten verdrängt oder geleugnet, fehlt dem Individuum die Möglichkeit, seine besondere Stellung angesichts spezifischer Konflikte darzustellen“ (Krappmann, 1993, S. 167).

Ähnlich wie die Rollendistanz ist die Ambiguitätstoleranz Voraussetzung und Folge zugleich. Sie hilft dem Individuum bei Spannungsverhältnissen seine Identitätsbalance zu wahren und die Ich-Identität kann trotz der Wahrnehmung der Spannung handlungsfähig bleiben (vgl. Krappmann 1973, S. 173f.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Jungen ohne Väter. Entwicklung der Geschlechteridentität im Kindergartenalter
Hochschule
Hochschule RheinMain
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
24
Katalognummer
V504086
ISBN (eBook)
9783346052568
ISBN (Buch)
9783346052575
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Krappmann, Böhnisch, Butler, Bewältigungstheorie, Geschlechtertheorie, Soziologische Theorie
Arbeit zitieren
Carsten Friebis (Autor:in), 2015, Jungen ohne Väter. Entwicklung der Geschlechteridentität im Kindergartenalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/504086

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