Notengebung. Spannungsverhältnis zwischen neuer Lernkultur und tradierter Leistungsbeurteilung


Hausarbeit, 2019

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Merkmale der neuen Lernkultur

3. Grundlagen der Leistungsbeurteilung
3.1. Geschichtliche Entwicklung
3.2. Rechtliche Grundlagen

4. Kritische Betrachtung der tradierten Leistungsbeurteilung
4.1. Funktionen der Notengebung
4.2. Risiken der Notengebung

5. Bedeutung von Noten beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe

6. Alternative Methoden zur Leistungsbewertung
6.1. Lernentwicklungsbericht
6.2. Portfolio

7. Auswertung des Fragebogens

8. Zusammenfassung und Ausblick

9. Literaturverzeichnis
9.1. Buchquellen
9.2. Internetquellen

11. Anhang
11.1. Statistische Auswertung der Fragebögen

1. Einleitung

Unabweislich ist mit der Berufsrolle von Lehrerinnen und Lehrern1 aller Schulformen im allgemeinbildenden Schulsystem die Beurteilungsaufgabe verbunden (vgl. Bremer Erklärung, 2000, S.3). Diese Beurteilungsfunktion spiegelt sich insbesondere in der Notengebung und der Zeugniserteilung wider. Aufgrund der Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems, sowie dessen Selektions- und Zuteilungsfunktion, ist die Schule zu einem Ort geworden, an dem die Zensuren eine große lebensgeschichtliche Bedeutung tragen (Valtin 2002, S.11).

Noten stehen seit über hundert Jahren mal mehr, mal weniger in der Kritik. Ihr empirisches Fundament hat diese Kritik bereits in den 1970er Jahren durch Karl-Heinz Ingenkamp erhalten, der von einer „Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ (Ingenkamp 1971) spricht. Trotz Kritik und einiger Reformbemühungen wird die Leistungsbeurteilung immer noch überwiegend in Form von Zensuren vorgenommen (Jürgens 2010, S. 53).

In Anbetracht der sich zunehmend verändernden Lernkultur offenbart sich eine neue Ausgangslage. Die neue Lernkultur zeichnet sich durch eine zunehmende, auf die Heterogenität der Schüler abgestimmte Differenzierung aus. Auch der Bildungsplan strebt „differenzierte Lernangebote“ an (Bildungsplan 2016 Grundschule, Leitgedanken zum Kompetenzerwerb). Es stellt sich folglich die Frage, ob die traditionelle Leistungsbeurteilung in Form von Noten dieser, auf die Individualität der einzelnen Schüler abgestimmten, Pädagogik noch gerecht wird (Valtin 2002, S. 139; Böttcher 1999, S. 47). Erfordert eine differenzierte Unterrichtsgestaltung nicht eine ebenso differenzierte, also am Individuum ausgerichtete, Leistungsbeurteilung? Behindert die traditionelle Leistungsbeurteilung die Schulentwicklung inzwischen (Schratz 1995, S. 281ff. in Böttcher 1999, S. 69)?

Im Rahmen dieser Hausarbeit möchte ich den Spannungsbeziehungen und Widersprüchen zwischen der neuen Lernkultur einerseits und der tradierten Leistungsbeurteilung andererseits nachgehen. Darum erläutere ich zunächst, worin sich die neue Lernkultur auszeichnet. Nachdem ich die historische Entwicklung und die rechtlichen Grundlagen der Leistungsbeurteilung geklärt habe, diskutiere ich die Funktionen und die Risiken der Notengebung. Der Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe als der erste große Übergang in der Schullaufbahn eines jeden Schülers, der vielerorts mit der Notengebung verknüpft ist, wird ebenfalls thematisiert. Es stellt sich die Frage nach einer sinnvollen und für die Schüler förderlichen Bewertung. Ich möchte daher exemplarisch zwei alternative Möglichkeiten der Leistungsbeurteilung genauer darstellen und diese abwägen. Mithilfe eines Fragebogens habe ich untersucht, welche Einstellungen Grundschullehrer gegenüber Noten haben und inwiefern sie Alternativen zur Notengebung kennen und in ihrer Unterrichtspraxis einsetzen. Abschließend gebe ich eine Zusammenfassung der herausgearbeiteten Erkenntnisse und einen kurzen Ausblick.

2. Merkmale der neuen Lernkultur

„Alle Wege führen nach Rom“, so lautet das bekannte Sprichwort, wenn es darum geht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Doch müssen wirklich alle Wege nach Rom führen?

Heterogene Lerngruppen stellen heutzutage für viele Lehrer eine zunehmend große Herausforderung bei der Gestaltung ihres Unterrichts dar. Der Umgang mit Heterogenität hat sich in den letzten Jahren als ein prioritäres Thema in der Schul- und Unterrichtsentwicklung etabliert (Fischer 2012, S. 151). Insbesondere in der Grundschule, einer Gesamtschule, kommen Kinder mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lernausgangslagen zusammen (vgl. Böttcher 1999 S. 10f., 40). Durch die zunehmende Inklusion werden die Klassen in ihren Merkmalsausprägungen noch individueller. Dennoch sollen alle Schüler gefördert werden. „Eine Schule für alle verstärkt also die Notwendigkeit von Differenzierung“ (Eberle 2011, S. 30). Die Schule muss somit wegkommen von einem Unterricht, der für alle Schüler zur gleichen Zeit das Gleiche anbietet, sondern sich dahingehend fortschreitend entwickeln, dass die Schüler individuelle Lernwege gehen und sinnvoll erscheinende Zielperspektiven erreichen, sodass eine positive Aufwand-Ertrags-Relation die Folge ist. Die Lehrperson soll sich somit nicht an der Handlungsmaxime „Lernen im Gleichschritt“ orientieren, sondern die „Schülerorientierung“ in den Vordergrund stellen (vgl. Jürgens 1995, S. 24ff.).

Sinn und Zweck des Unterrichts ist es nicht, ein homogenes Leistungsniveau innerhalb der Klasse herzustellen. Vielmehr geht es darum, allen Kindern einen Lernzuwachs und Lernerfolg zu ermöglichen. Folglich steht die individuelle Schülerbiografie im Vordergrund. Lernen ist ein komplexer und subjektiver Vorgang (Paradies/Linser 2001 S. 9). Um Klafkis Forderung nach Chancengleichheit nachzukommen, ist es erforderlich, sich mit dem jeweils individuellen Leistungsvermögen, sowie den unterschiedlichen Lerntypen, Begabungen, Interessen und Arbeitstempi der Schüler auseinanderzusetzen (vgl. Eberle/Kuch/Track 2011, S.1). Der Unterricht soll daher eine „Anpassung an die gegebene Situation [und] nicht an den Lehrplan“ sein (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2008, S. 336).

Voraussetzung für die individuelle Förderung ist deshalb eine genaue Lernstandanalyse. Damit jeder Schüler entsprechend seiner ihm zur Verfügung stehenden Fähigkeiten bestmöglich gefördert werden kann, ist es erforderlich, den Fokus verstärkt auf die individualbezogene Bezugsnorm zu richten (vgl. Preuß 1994, S. 13). Die Grundsätze des Förderns und Ermutigens sollen dahingehend umgesetzt werden, dass die Schüler zum eigenständigen Arbeiten bewegt werden (Peschel 2006, S. 170), oder wie Maria Montessori sagen würde, dass der Lehrer ihnen dabei hilft, es selbst zu tun (vgl. Montessori 1996, S. 51). Die Schüler lernen, die Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen und ihre „Stärken [zu] nutzen, um [ihre] Schwächen abzubauen“ (Kress 2011, S. 72). Im Zusammenhang mit der Differenzierung stehen also der handelnde Umgang mit den Lernmaterialien, das motivierte Lernen und der individuelle Lernerfolg.

Die Differenzierung lässt sich in die äußere und die innere Differenzierung gliedern. Die äußere Differenzierung umfasst Differenzierungskriterien wie Schulform, Schulprofil und Jahrgangsklasse. Zur inneren Differenzierung - auch Binnendifferenzierung genannt - gehören alle Maßnahmen, die den Umgang mit den vielfältigen Unterschieden der Schüler ermöglichen. Hierzu gehören die Differenzierung nach Lernvoraussetzungen, Lernstilen, Lerntempi, Lernzielen, Unterrichtsinhalten, Lerninteressen und Lernbereitschaft. Je heterogener die Lerngruppe ist, desto wichtiger ist die innere Differenzierung (vgl. Paradies/Linser 2001, S. 33f., 38 und Kress 2011, S. 70).

Ziel einer modernen Grundschule soll sein, den Schülern „Lernkompetenz“ zu vermitteln (Böttcher 1999, S. 35). Die Schüler sollen selbstständig und handlungskompetent werden, sodass sie ihren Platz in der zunehmend komplexen Welt finden, diese verstehen und aktiv mitgestalten können. Die heutige Gesellschaft kann nicht als homogene Einheit funktionieren, sondern profitiert von vielen Individuen, die auch als solche erzogen werden müssen (Peschel 2011, S. 165).

Auch das soziale und das moralische Lernen werden berücksichtigt. Eine realistische Zielsetzung und somit eine Passung von Aufgabenniveau und Schülerkompetenzen ermöglicht neben der fachlichen Förderung eine motivationsförderliche Kausalattribution und damit eine selbstwertdienliche Affektbilanz (Ding 2013, S. 99). Es wird dem Schüler dadurch erleichtert, einen Zusammenhang zwischen seiner eigenen Anstrengung und dem Ergebnis zu erkennen, was präventiv gegen eine erlernte Hilfslosigkeit wirken kann und den Schüler stattdessen in seinen Selbstwirksamkeitserfahrungen stärkt und das Vertrauen in die eigene Handlungskompetenz steigert.

Aus dem alten Leistungsbegriff, bei dem das Leistungsprodukt – ein möglichst messbares Ergebnis – und der Leistungsvergleich im Vordergrund standen, ist ein neuer pädagogischer Leistungsbegriff geworden, bei dem die Prioritäten auf dem individuellen Lern- und Entwicklungsprozess, dem Grundsatz der Ermutigung und der Orientierung an der sozialen Dimension des Lernens und Leistens liegen (Bartnitzky 1986 in Olechowski/Rieder 1990, S. 59).

Fehler werden in der neuen Lernkultur als ein „unverzichtbarer Bestandteil von Lernprozessen“ aufgefasst (Böttcher 1999, S. 40). Die Strategie, wie mit den Fehlern umgegangen wird, ist das Entscheidende (Valtin 2002, S. 39). Häufig werden Lehrformen verwendet, bei denen die Schüler selbstverantwortlich und selbstentdeckend lernen, sodass sich die Lehrperson gezielt mit einzelnen Schülern beschäftigen kann. Der Lehrer fungiert daher nicht als Belehrer, sondern als Lernbegleiter, -beobachter und -berater. Dies erfordert eine „hohe Beratungskompetenz der Lehrkraft“ und ist im Umfang nicht zu unterschätzen (Aregger/Waibel 2008, S. 13).

Gelingt dies, so ist das Resultat ein „effektives und effizientes Lernen“ (Aregger/Waibel 2008, S. 45). Die Schüler sollen über ihren eigenen Lernprozess nachdenken und so die Selbstreflexion erlernen. Erfolgt ein differenzierter Unterricht, so ist auch eine differenzierte, individuelle Rückmeldung notwendig, was der oftmals verpflichtenden Notengebung widerspricht.

3. Grundlagen der Leistungsbeurteilung

3.1. Geschichtliche Entwicklung

Zensuren und Zeugnisse sind in ihrer Entstehung nicht in erster Linie pädagogische Instrumente gewesen, sondern wurden überwiegend durch ihre gesellschaftliche Aufgabe der Selektion und die Funktion, Berechtigung zu erteilen, geprägt (vgl. Ingenkamp 1985 in Jürgens 2010, S. 61). Insgesamt lässt sich sagen, je größer die soziale Mobilität in der Gesellschaft wurde, umso bedeutsamer wurde auch die Auslesefunktion der Schule und umso gewichtiger wurde die Beurteilungsfunktion des Lehrers. Wenn auch die Anzahl der verwendeten Ziffernstufen variierte, so prägte dennoch stets die Ziffernskala das Bild. Lediglich im Mittelalter erhielten die Schüler noch keine Ziffernnoten. Nichts desto trotz wurden die Schüler bereits zu dieser Zeit entsprechend ihrer Leistung in eine Rangordnung gebracht, wovon beispielsweise die Sitzordnung im Unterrichtsraum abhängig war. Während im 16. Jahrhundert eine sechsstufige Notenskala üblich war, war ab 1850 eine dreistufige Notenskala weit verbreitet, bei der lediglich zwischen „über dem Mittelmaß“, „Mittelmaß“ und „unter dem Mittelmaß“ unterschieden wurde. Ab dem Jahr 1900 gab es mehrere Benotungsvarianten, die sich auch in den einzelnen Bundesländern und sogar in den Fächern unterschieden. Es wurden siebenstufige, aber auch vierstufige Skalen verwendet. Das heute in Deutschland übliche sechsstufige Zensurensystem wurde 1938 im Reichsgebiet und 1954 für das gesamte Bundesgebiet eingeführt (vgl. Lissmann 1997, S. 39f.).

Mit der Leistungsbeurteilung ist die Pädagogische Diagnostik verknüpft. Die Geschichte der Pädagogischen Diagnostik ist eine Geschichte der Spannungen zwischen ihrer pädagogischen und gesellschaftlichen Aufgabe. Dieser „doppelsinnige Charakter“ spiegelt sich auch in der von Ingenkamp verfassten Definition wieder (Jürgens 2010, S. 56). Die Pädagogische Diagnostik soll demzufolge „sowohl individuelles Lernen optimieren als auch im gesellschaftlichen Interesse Lernergebnisse feststellen und den Übergang in verschiedene Bildungswege nach vorgegebenen Kriterien verbessern. Zur Erreichung dieser Ziele werden diagnostische Tätigkeiten ausgeübt, mit deren Hilfe bei Individuen und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden.“ (Ingenkamp 1988, S. 11).

Geschichtlich betrachtet hat der Begriff der Leistungsbeurteilung somit einen zunehmend spannungsgeprägten Charakter, der das Resultat aus den teilweise widersprüchlichen Aufgaben aus gesellschaftlicher und pädagogischer Sicht ist.

3.2. Rechtliche Grundlagen

Die grundlegenden Regeln für die Beurteilung von Schülerleistungen sind in der Schulordnung für öffentliche Grundschulen, die am 10. Oktober 2008 in Kraft trat, und der Notenbildungsverordnung (Verordnung des Kultusministeriums über die Notenbildung) des Landes Baden-Württembergs verankert. Die Notenbildungsverordnung wurde am 5. Mai 1983 erlassen und trat am 1. August 1984 in Kraft.

Grundlage der Leistungsbewertung in einem Unterrichtsfach sind laut §7 der Notenbildungsverordnung alle vom Schüler im Zusammenhang mit dem Unterricht erbrachten Leistungen. Die Leistungen werden nach dem Grad des Erreichens von Lernanforderungen beurteilt. Die Beurteilung berücksichtigt den individuellen Lernfortschritt der Schüler, ihre Leistungsbereitschaft und auch die Lerngruppe, in der die Leistung erbracht wird (§34 Schulordnung für öffentliche Grundschulen). Die Schule soll laut §33 durch „individuelle Anforderungen, die dem jeweiligen Entwicklungsstand der […] Schüler angemessen sind, die Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit und das Erreichen von Leistungen [fördern]. Ermutigung, Bestätigung, Lernhilfe und Lernkontrolle sind Grundlagen für ein zielgerichtetes Lernen“. Die Leistungsfeststellung und -beurteilung erfolgen in pädagogischer Verantwortung der Lehrkräfte. Die Leistungen sind als Schritte und Resultate im Lernprozess zu sehen. Besondere Belange von behinderten Schülern oder von Schülern mit Lernstörungen sind zu berücksichtigen (§33 (4) Schulordnung für öffentliche Grundschulen).

Die verbale Beurteilung ist in Baden-Württemberg bislang lediglich in der Orientierungsstufe vorgeschrieben. Am Ende der ersten Klassenstufe soll ein Zeugnis ausgestellt werden, in dem das Lern- und Arbeitsverhalten, die Lernbereitschaft und Lernentwicklung, Fähigkeiten und Schwierigkeiten, besondere Interessen und das Sozialverhalten verbal beschrieben werden. Auch nach dem ersten Halbjahr der zweiten Klassenstufe findet eine verbale Beurteilung statt. Im zweiten Halbjahr gibt es zusätzlich Noten für die Fächer Deutsch und Mathematik. Da Bildung eine Sache der einzelnen Bundesländer ist, dauerte es bis zum Jahr 1978 bis alle Bundesländer diese Empfehlung der Kultusministerkonferenz von 1970 umgesetzt haben. Ab dem dritten Schuljahr werden in der Regel Noten erteilt. In der dritten und vierten Klasse werden die Leistungen nach dem sechsstufigen Notensystem mit den Noten „sehr gut", „gut", „befriedigend", „ausreichend", „mangelhaft" oder „ungenügend“ bewertet. Den Noten werden laut §34 der Schulordnung für öffentliche Grundschulen folgende Definitionen zugrunde gelegt: sehr gut (1) = eine Leistung, die den Anforderungen in besonderem Maße entspricht; gut (2) = eine Leistung, die den Anforderungen voll entspricht; befriedigend (3) = eine Leistung, die im Allgemeinen den Anforderungen entspricht; ausreichend (4) = eine Leistung, die zwar Mängel aufweist, aber im Ganzen den Anforderungen noch entspricht; mangelhaft (5) = eine Leistung, die den Anforderungen noch nicht entspricht; ungenügend (6) = eine Leistung, die den Anforderungen nicht entspricht und kaum Grundkenntnisse erkennen lässt. Der Begriff „Anforderungen“ bezieht sich dabei jeweils auf die durch den Bildungsplan geforderten Kompetenzen. Auf Beschluss der Gesamtkonferenz und im Einvernehmen mit dem Schulelternbeirat kann in der dritten Klassen für das erste Halbjahr oder für das ganze Schuljahr die Beurteilung weiterhin ausschließlich verbal erfolgen (§34 (3) Schulordnung für öffentliche Grundschulen). Das Jahreszeugnis der vierten Klasse enthält einen Vermerk, ob der Schüler das Ziel der Grundschule erreicht hat.

4. Kritische Betrachtung der tradierten Leistungsbeurteilung

Um beurteilen zu können, ob die Notengebung eine geeignete und zeitgemäße Beurteilungsform ist und ob sie der neuen Lernkultur noch gerecht wird, ist es notwendig, sowohl die Funktionen als auch die Risiken der Notengebung genauer zu betrachten und gegenüberzustellen.

4.1. Funktionen der Notengebung

Noten und Notenzeugnisse haben Tradition. Jeder ist mit ihnen aus der eigenen Schulzeit vertraut. Sie sind ein Maßstab im Bewusstsein des Menschen. Hellmut Becker geht sogar soweit, dass er sagt, „Noten sind eine nicht wegdenkbare Konditionierung unseres Denkens und Fühlens – auch wenn wir sie für falsch, für schädlich, für widerlegt halten“ (Becker/ Hentig 1983, S. 138). Noten ermöglichen eine „einfache Anschauung einer sonst komplizierten Beziehung“ und befriedigen gleichzeitig das Bedürfnis nach Einordnung (Becker/Hentig 1983, S. 138). Sie geben dem Schüler eine Orientierung, inwiefern er die Lernziele erreicht hat und wie er im Vergleich zur Lerngruppe abgeschnitten hat (Rieder 1990, S.66). Hierfür ermöglicht eine Note, also eine zahlenmäßige Einstufung auf einer Notenskala von eins bis sechs, einen leichten Überblick.

Zudem ist das Bedürfnis jedes Einzelnen nach Bestätigung kaum abzuweisen. Die Note quittiert und bescheinigt die erbrachte Leistung. Die Berichtsfunktion bezieht sich hierbei nicht nur auf den Schüler selbst, sondern gibt auch den Eltern und der Schulleitung eine Auskunft über den Leistungsstand des jeweiligen Schülers (vgl. Valtin 2002, S. 20).

Außerdem sind die Noten ein Indikator für den Erfolg und die Effektivität des Unterrichts und können für die Lehrperson eine Rückmeldung für die zukünftige Unterrichtsgestaltung sein (vgl. Rieder 1990, S. 66). Die Noten haben daher auch eine „Evaluationsfunktion“ (Jürgens 2010, S. 77).

Desweiteren sind die Selektions- und Berechtigungsfunktion wesentliche Funktionen der Notengebung. Die Schüler können anhand ihrer Noten klassifiziert werden und ihren Leistungen entsprechenden Institutionen zugeteilt werden. Die Berechtigungsfunktion ist insbesondere dann von essentieller Bedeutung, wenn es um die Wahl der weiterführenden Schulart oder die Studien- beziehungsweise Ausbildungswahl geht. Die Noten dienen daher der Zuweisung von Bildungs- und Berufschancen und scheinen „gerade bei der sozial- gesellschaftlichen Positionszuweisung sehr zweckdienlich zu sein“ (Ziegenspeck in Kutscher 1977, S. 37). Die Leistungsbeurteilung übernimmt also eine Allokationsfunktion und kann sich auf den beruflichen Werdegang des Schülers auswirken. Die Schüler werden dadurch bereits in der Schule an die Leistungsorientierung unserer Gesellschaft gewöhnt und lernen auch mit Konkurrenz umzugehen. Diese Qualifizierungsfunktion der Noten ist von großer Bedeutung in Anbetracht der komplexen, hoch entwickelten und arbeitsteiligen Gesellschaft. Die Schülerbeurteilung erfüllt in diesem Sinne eine „Vorsorgefunktion für den Erhalt des Staates“ (Lissmann 1997, S. 18).

Das moderne Bildungswesen ermöglicht jedem Schüler durch eigene Lernanstrengungen den sozialen Aufstieg (vgl. Valtin 2002, S. 11). Der Ausblick auf eine gute Note oder darauf besser abzuschneiden – sei es, besser als beim vorherigen Mal oder als die übrigen Mitschüler - kann die Schüler anspornen und zum Lernen motivieren. Die Motivation bezieht sich hierbei vor allem auf die extrinsische Motivation der Schüler und weniger auf die intrinsische, sachorientierte Motivation (Rieder 1990, S. 67). Zudem kann sich ein „gesunder Konkurrenzkampf“ positiv auf das Lernverhalten auswirken und eine Leistungssteigerung fördern. Noten können also als Belohnung, Arbeitsanreiz und Selbstbestätigung fungieren. Sie haben somit auch eine pädagogische Funktion – Noten motivieren und disziplinieren. Die Disziplinierung bezieht sich insbesondere auf leistungsunwillige Schüler (Zielinski 1975 in Jürgens 2010, S. 64). Die Schüler werden durch eine schlechte Note nicht nur alarmiert, sondern lernen dadurch auch die Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen. Mit einer guten Note ist häufig auch eine soziale Anerkennung von Seiten des Lehrers, der Mitschüler und der Eltern verknüpft (vgl. Lissmann 1997, S. 19f.).

Die Note reduziert gewissermaßen die Komplexität der Gesamtleistung des Schülers, sodass dieses Bewertungssystem zeitsparend und ökonomisch ist. Aus Sicht des Lehrers erfordern Noten keinen großen Schreibaufwand. Sie lassen sich übersichtlich in einem Notenbuch notieren und regelmäßig festhalten. Die Entwicklung der Noten und der Vergleich zu den Mitschülern sind auf einen Blick erkennbar. Auch Prognosen, also Erwartungen im Hinblick auf den weiteren Lernprozess, lassen sich oftmals schnell ableiten.

4.2. Risiken der Notengebung

„Wenn Noten rezeptpflichtig wären, hätte man sie schon lange aufgrund ihrer Nebenwirkungen vom Markt genommen.“ Diese Aussage ist in der Öffentlichkeit des Öfteren hörbar, wenn es um die Risiken, Gefahren und Nachteile der Notengebung geht. Durch die gängige Beurteilungspraxis wird viel Kontraproduktives hervorgebracht (Böttcher 1999, S. 68). Besonders die Kritik von Ingenkamp, der von der „Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ sprach, sorgte in den 1970er Jahren für Aufsehen in der Literatur.

Schüler fordern Transparenz im Urteil. Doch das, was bei der Leistungsbeurteilung in Form von Noten geschieht, ist alles andere als transparent. Die Leistung des Schülers wird auf eine einzige Zahl der sechsstufigen Ordinalskala komprimiert und die dahinter steckende Leistung somit verschleiert. Die Individualität der Schüler wird dabei außer Acht gelassen. Die Note sagt weder etwas über die Stärken und Schwächen in bestimmten Teilbereichen aus, noch bietet sie dem Schüler Wege und Möglichkeiten an, die Leistung zu steigern und eventuell vorhandene Leistungsdefizite gezielt zu beheben (vgl. Fischer 2012). Oft wird die Note als ein allgemeiner Appell wie „Du musst mehr tun“ oder „Gut gemacht“ aufgefasst (Böttcher 1999, S. 76). Die aufklärende Rückwirkung und Einsicht des Lernenden, die ein entscheidend wichtiger Punkt im Lernprozess ist, kann die Zensur folglich nicht erfüllen (Jürgens 2010, S. 66). Ob die Schüler also wie von der Kultusministerkonferenz gefordert, „eine bewusste, reflexive Einstellung zum eigenen Lernen […] gewinnen“, ist fraglich (KMK Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule 1970, S. 5).

Auch das Zustandekommen der Note, also die Antwort darauf, ob die Anstrengung, der Lernfortschritt oder das Endergebnis beurteilt wird, bleibt oft unklar. Eine Note ist daher zwar kompakt, aber sehr informationsarm und undifferenziert. Nicht nur der Schüler selbst, sondern auch die Eltern erhalten kein annähernd vollkommenes Leistungsbild ihres Kindes.

Fehler gelten im Sinne der neuen Lernkultur als ein integrativer Bestandteil von Lernprozessen (Leitz 2014, S. 35). Es gilt also, Fehler als Lernchance zu nutzen anstatt zu vermitteln, dass sie etwas Verwerfliches sind. Empfinden Schüler Scham oder haben sie Schuldgefühle, so stört dies den Lernprozess.

Insbesondere die schullaufbahnlenkende Auslesefunktion der Zensuren hat drastische Auswirkungen auf das Verhalten der Schüler (vgl. Valtin 2002, S. 11; Kutscher 1977, S. 50). Noten und Zeugnisse werden weniger als individuelles Feedback aufgefasst, sondern eher als eine Einstufung in die Leistungshierarchie der Klasse. Dies provoziert geradezu zu einem konkurrierenden Verhalten (Böttcher 1999, S. 47). Sachbezogenes Interesse und der Wunsch, persönlichen Bildungsgewinn zu erreichen, wird früher oder später durch taktisches Wahl- und Lernverhalten ersetzt (Böttcher 1999, S. 135). Der Wettbewerb unserer hoch selektiven Gesellschaft ist bis in den Klassenraum hinein spürbar. Die Schüler werden eher zum Konkurrieren als zum Kooperieren angehalten. Im Berufsleben angekommen werden dann plötzlich von den Arbeitgebern Fähigkeiten wie Teamfähigkeit, Projektfähigkeit und kooperatives, arbeitsteiliges Arbeiten verlangt (vgl. Fischer 2012, S. 18; Paradies/Linser 2001, S. 40). Diese Sozialkompetenzen gehen durch die ständige, wenn auch unterschwellige, kontinuierliche Präsenz der Noten im Unterricht unter.

[...]


1 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlechter.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Notengebung. Spannungsverhältnis zwischen neuer Lernkultur und tradierter Leistungsbeurteilung
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
34
Katalognummer
V507527
ISBN (eBook)
9783346063830
ISBN (Buch)
9783346063847
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Noten, neue Lernkultur, Leistungsbeurteilung, Notenbegung, tradierte Leistungsbeurteilung, Kritik an Noten, Nachteile an Noten, Funktionen von Noten, Funktionen der Leistungsbeurteilung, Leistungen beurteilen, Leistungsbewertung, Lernkultur, Grundschule
Arbeit zitieren
Heike Fuhrmann (Autor:in), 2019, Notengebung. Spannungsverhältnis zwischen neuer Lernkultur und tradierter Leistungsbeurteilung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/507527

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