Warum ist der Protagonist in "Open City" von Teju Cole ein "unreliable narrator"?


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2019

17 Pages, Note: 2,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Der gute Julius

2. Unreliable narrator

3.1. Julius als Erzähler
3.2. Metareflektionen
3.3. Selbstdarstellung
3.4. Julius als Antiheld

4. Versteckspiel

1.Der gute Julius

Julius, der erfolgreiche Psychiater. Julius, der gute Zuhörer. Julius, der hilfsbereite Wohltäter. Im Laufe des Werks Open City von Teju Cole zeichnet der Protagonist Julius verschiedene Bilder von sich selbst. Vorwiegend sind die Attribute, die er sich dabei selbst zuweist positiv und lassen ihn in einem guten Licht dastehen. Dabei fällt jedoch auf, dass dies einzig und allein durch seine Selbstreflexion und nicht durch Fremdkommentare geschieht. Er nimmt dabei die Gestalt eines auktorialen Erzählers an. Erst am Ende des Werkes offenbart er sich eindeutig als unreliable narrator. Dies verschlechtert die Glaubwürdigkeit der Attribute, die Julius sich selbst zugewiesen hat. Obwohl er sich selbst positiv darstellt, zeigt seine Unzuverlässigkeit und seine falsche auktoriale Sichtweise, dass „in someone else’s story, [Julius is] the villain“ (Cole, 243). Schlussendlich zeigt sich, dass Julius nie die gute Person war, die er zeigen will, sondern aus einer objektiven Sichtweise in vielerlei Hinsicht als Antiheld dasteht.

Beginnend mit einer Definition des Begriffes unreliable narrator nach Ansgar Nünning untersuche ich Julius im Hinblick auf seine Erzählweise, seine Metareflektionen, seine Selbstdarstellung und schlussendlich, wie sich Julius mit Moji als Antiheld charakterisiert.

2. Unreliable narrator

Julius zeigt seine narrative unreliability erst am Schluss des Werkes Open City. Mit dem Begriff unreliable narrator benannte zuerst Booth den Erzähler, dessen Glaubwürdigkeit vom Rezipienten angezweifelt wird. Ich arbeite mit dem englischen Begriff unreliable narrator, da die deutschen Übersetzungen unzuverlässiger und unglaubwürdiger Erzähler vage sind, und nicht synonym verwendet werden können. So entstehen weniger begriffliche Unklarheiten. Außerdem ist dies der von Booth, Nünning, Rimmon-Kenans und weiteren wichtigen Literaturwissenschaftlern benutzte Begriff.

Ansgar Nünning beschreibt den unreliable narrator als eine „Erzählinstanz[…], deren Perspektive im Widerspruch zum Werte- und Normensystem des Gesamttextes steht“ (Nünning, Unreliable narration, 17). Dabei entsteht aus dem Unterschied zwischen den Wertevorstellungen dieses unreliable narrators und dem Wissensstand des Lesers eine dramatische Ironie (Nünning, Unreliable narration, 17). Das bedeutet auch, dass als Bezugsgröße für das Erkennen eines solchen Erzählertyp der Gesamttext hinzugezogen werden muss.

Ein Erzähler ist dem Rezipienten gegenüber solange zuverlässig, bis er dem Rezipienten Anlass gibt, seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen (Nünning, Unreliable narration, 21). Dabei ist besonders wichtig der Zusammenhang zwischen expliziten Fremdkommentaren und der daraus resultierenden impliziten Eigencharakterisierung (Nünning, Unreliable narration, 18).

Einige typische Merkmale des unreliable narrators sind der Ich-Erzähler - ein homodiegetischer Erzähler mit interner Fokalisierung - und der „hohe Grad an Explizität, mit dem die Erzähler als konkret faßbare, personalisierbare Sprecher auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung in Erscheinung treten“ (Nünning, Unreliable narration, 6). Ein weiteres Kennzeichen sind auch die große Anzahl an „subjektiv gefärbten Kommentaren, interpretatorischen Zusätzen und weiteren persönlichen Stellungnahmen des Erzählers sowie von Leseranreden“ (Nünning, Unreliable narration, 6). Diese expliziten Kommentare werden dann zu impliziten Selbstcharakterisierungen. Hinzu kommt das Monologisieren des Erzählers, das meist den Erzähler selbst betrifft. Das letzte Merkmale ist der Unterschied zwischen der erzählten Geschichte, die der unreliable narrator vorträgt, und dem Geschehen, das sich der Rezipient durch implizite Zusatzinformationen erschließen kann und das dem Erzähler selbst meist nicht bewusst ist (Nünning, Unreliable narration, 6). Diese Merkmale müssen nicht alle und nicht gleichmäßig im Text auftreten.

„Der allgemeine Wirkungseffekt von unreliable narration besteht daher oftmals in einer fortschreitenden, unfreiwilligen Selbstentlarvung des Erzählers“ (Nünning, Unreliable narration, 6). Meist ist der Erzähler am Anfang noch nicht als unzuverlässig zu erkennen, sondern erst durch bestimmte Handlungen oder Kommentare. Oftmals zeigt sich auch erst am Ende des Buches die fehlende Glaubwürdigkeit, wobei aber bei erneutem Lesen des Textes eine andere Sichtweise entsteht, da der Rezipient bereits Zusatzinformationen hat.

Im Gegensatz dazu gelten auktoriale Erzähler, die Einblick in das Bewußtsein aller Figuren haben, gleichzeitig an mehreren Schauplätzen präsent sein können und Überblick über den gesamten vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handlungsverlauf haben, aufgrund dieser fiktionalen Privilegien von vorneherein als vertrauenswürdig. (Nünning, Unreliable narration, 9)

Das bedeutet, dass die eingeschränkte Sichtweise des unreliable narrators im Gegensatz zu diesem auktorialen Erzähler zu seiner Unglaubwürdigkeit beiträgt. Dabei kann jedoch die Darstellung der erzählten Geschichte durch den unreliable narrator zuverlässig sein, seine Kommentare und Interpretationen aber fragwürdig. Es kann also einerseits die fiktionale Darstellung der Tatsachen angezweifelt werden, andererseits aber auch – durch eine normative Diskrepanz – die Interpretation dieser Darstellung (Nünning, Unreliable narration, 12). Dies zeigt sich in den graduellen Skalierungen der unreliability (Nünning, Unreliable narration, 13).

3.1. Julius als Erzähler

Erst in den letzten Kapiteln erkennt der Rezipient die Unglaubwürdigkeit von Julius Selbstdarstellung wirklich. Dabei fallen bei erneutem Lesen des Buches mit diesem Wissen viele Ungereimtheiten und Falschaussagen auf. Der Grund, warum dies aber beim ersten Mal nicht auffällt, ist Julius Erzählart. Der Protagonist ist nach Genette ein homodiegetischer Erzähler mit interner Fokalisierung.

I covered the city blocks […] and the subway stations served as recurring motives in my aimless progress. The sight of large masses of people hurrying down into underground chambers was perpetually strange to me, and I felt that all of the human race were rushing, pushed by a counterinstinctive death drive, into movable catacombs. (Cole, 7)

Julius erzählt die Handlung von Open City aus seiner Sichtweise. Seine Gedanken und Reflektionen sind sehr ausführlich, er beschreibt seine Spaziergänge und seine Erlebnisse nur aus seinem Blick. Er ist im Werk Open City der einzige Erzähler, deshalb gibt es keine anderen Erzähler, mit denen wir seine Aussagen vergleichen können. Julius ist aber kein typischer homodiegetischer Erzähler mit interner Fokalisierung. Stattdessen erinnert seine Erzählweise immer wieder an einen auktorialen Erzähler, der in jede Figur hineinblicken kann und deren Gedanken und Erlebnisse kennt. Er versucht seine Sicht aus einer Vogelperspektive darzustellen, befindet sich selbst aber am Boden (Clark, 187).

„The very structure of the novel demands that readers retrospectively reassess and question the surfaces they have already read, through layers of accrued meaning and interpretation.” (Clark, 183) Durch eben diese retrospektive und auktorial anmutende Erzählweise zeigt Julius bereits Anzeichen eines unreliable narrators. Denn er selektiert seine Erzählung und überdenkt diese bevor er sie dem Rezipienten vorträgt. Open City ist achronisch aufgebaut, zwar gibt es eine chronologische Haupthandlung, die aber immer wieder von Kindheitsgeschichten oder zu einem früheren Zeitpunkt stattfindende Treffen mit bestimmten Personen durchzogen werden. Da er die Geschichten dieser Personen reflektiert, entsteht eine weitere retrospektive Erzählebene, bei der der Rezipient die Handlung nicht erfährt, sondern eine überarbeitete Version nachträglich erhält.

About two hundred years later, when a young man from the Fort Orange area came down the Hudson and settled in Manhattan, he decided he would write his magnum opus on an albino Leviathan. The author […] called his book The Whale; the subtitle, Moby-Dick, was added only after the first publication. (Cole, S. 51)

Julius erzählt eine Geschichte über einen gestrandeten Wal und danach diese Fakten über Herman Melville, als wäre er selbst dabei gewesen. Er vergisst dabei seine Quelle oder seine nicht existente Verbindung mit dieser Geschichte zu erwähnen. Stattdessen entnimmt er seine Person und seine Sichtweise dieser kurzen Erzählung völlig und wirkt mehr wie ein Geschichtsbuch, welches das Geschehen exakt wiedergibt.

To my right sat a man whose full attention was on Octavias Butler’s Kindred, and to his right, a russet-haired man leaned forward in his seat and read The Wall Street Journal. His natural expression was delirious, which gave him the aspect of a gargoyle, but when he straightened up, he had a handsome profile. (Cole, 45)

Die genauen Beschreibungen seiner Umgebung und seiner Mitmenschen lassen den Rezipienten hier vergessen, dass Julius diese Informationen rein durch eine zweiminütige Beobachtung während einer Zugfahrt erlangt hat. Die Kommentare wirken, als wäre die Person ein alter Bekannter und er würde seine Gewohnheiten schon lange kennen. Denn wie sonst sollte Julius wissen, wie der natürliche Gesichtsausdruck des Lesenden aussieht. Gleichzeitig versucht er auch die Unbekannten einzuordnen, ihre Herkunft und Sprache herauszufinden. Dabei identifiziert er mehrere Personen falsch (Sollors, 236) und zeigt wieder wie oberflächlich er ist.

Besonders auffällig an seiner Erzählweise ist, dass Julius sehr lange keine Merkmale des unreliable narrators zeigt. Statt der subjektiv gefärbten Kommentare sind seine Beschreibungen oft neutral und ohne Emotion. Diese Passivität zeichnet ihn auch als Antiheld aus (Wulff, 442). Das Beziehungsende mit Nadège beschreibt Julius nur kurz und ohne Anmerkungen. „It was painful, this breaking apart, but it surprised neither of us.”(Cole, 24) Er nennt zwar den Schmerz, den beide dadurch erfahren, geht aber nicht auf seine eigenen Emotionen und Gedanken ein. „Open City experiments with a flat, nearly affectless tone in its depiction of Julius’s dissociated mind.“ (Vermeulen, 45) Julius vermeidet emotionales oder anregendes Erzählen. Stattdessen entsteht eine Leerstelle, in der wir nichts über seine weiteren Handlungen erfahren. Die beschriebene Handlung beginnt am nächsten Abend. „The following evening, on the train, I saw a cripple dragging his broken leg behind him as he moved from car to car.” (Cole, 24) Er springt zu einer komplett anderen Handlung und ignoriert das Schlussmachen einfach. Erst wesentlich später geht er erneut auf Nadège ein, aber erzählt rekursiv von vergangenen Ereignissen, wie dem Besuch undokumentierter Immigranten (Cole, 60f.). Es zeigt sich jedoch, dass er nicht so unbetroffen davon ist, wie er es darstellt, denn er träumt auch über sie (Cole, 177) und ruft sie nach Dr. Saitos Tod zuerst an (Cole, 184).

Ein weiterer interessanter Indikator für sein Auftreten als auktorialer Erzähler ist die Absenz von direkten Reden. Es gibt keine Anführungszeichen oder Absätze für Dialoge, stattdessen wird der Text als Fließtext dargestellt.

The first thing he asked, perhaps aware that I was with the Welcomers, was if I was Christian. I hesitated, then told him I supposed I was. Oh, he said, I’m happy about that because I am Christian too, a believer in Jesus. So, will you please pray for me? (Cole, 64)

3.2. Metareflektionen

Julius gibt nicht nur seine eigene Geschichte wieder, sondern auch die der Personen, die er auf seinem Weg trifft. „Open City engages in a self-conscious struggle to decenter the single narrative perspective to which it confines itself.” (Vermeulen, 45) Zu den Figuren, die eine andere Sichtweise bringen sollen, gehören u.a. Saidu, Dr. Saito und der Schuhputzer. Julius gibt deren Lebensgeschichten und Weisheiten für den Rezipienten wieder, er „gave voice to another’s words.” (Cole, 6)

„So, will you please pray for me? I told him I would, and began to ask him how things were at the detention facility. Not so bad, not as bad as it could be, he said.” (Cole, 64) Hier ist zwar deutlich ein Gespräch zwischen zwei Personen – Saidu und Julius - erkenntlich, der Dialog ist aber indirekt durch Julius wiedergegeben. Es ist im ganzen Werk Open City keine einzige direkte Rede zu finden. Stattdessen lässt Julius es als Erzähler wirken, als würde er die Geschichten der anderen Personen erzählen und hätte diese selbst erlebt. In Wirklichkeit hat er aber nur das Wissen, das ihm sein Gesprächspartner gegeben hat. Dadurch sind sogar die Fremdkommentare anderer Person beeinflusst und können nicht ohne genaue Untersuchung hinzugezogen werden um Julius zu analysieren. Vielmehr muss der Rezipient bei jeder Geschichte, die Julius von einer anderen Person erfährt, miteinbeziehen, dass diese nur durch Julius reflektiert wird. Bei den Gesprächen fällt auf, dass die Erzählweise von anfänglichem Dialog zu einem Monolog des Gesprächspartners wird.

During the war, he said, I committed many poems to memory. I suppose that expectation is gone from the schools now. I saw the change during the time I was at Maxwell, how the later generations that came in had little of this preparation. […] (Cole, 13)

Hier monologisiert Dr. Saito über die Schulzeiten. Julius selbst schließt sich aus dem Gespräch völlig aus. Nicht nur dadurch, dass er auf keine Fragen oder Aussagen. antwortet, sondern auch da er keine Kommentare zu dem Gesagten von sich gibt. Er gibt nicht einmal seine Gedanken wieder.

He collapses all the stories he hears and retells them in his own affectively flat, unhurried, unidirectional univocality. At the same time, he freely and invasively diagnoses, deconstructs, and symptomatizes any and all narratives that are not his own. (Clark, 189)

Julius gibt offen zu, dass er sich die Geschichten, die er erzählt, teilweise aus Bruchstücken und Mutmaßungen zusammenreimt oder Dinge ausschmückt. Deshalb sind seine Aussagen zwar sehr gut ausgebaut, aber nicht immer glaubhaft.

In these conservations, as I now recall them, he did almost all the talking. I learned the art of listening from him, and the ability to trace out a story from what was omitted. (Cole, 9)

Der Rezipient kann aber selbst kaum bis gar nicht entscheiden, welche Geschichten er so gestaltet hat, da nur die Sichtweise von Julius gegeben ist.

At times, it seemed as though he was talking more to himself, but he suddenly asked a direct question and, interrupted from my own little train of thought, I scrambled for an answer. (Cole 14)

Dr. Saito wirkt im Dialog als würde er Selbstgespräche führen. Das Werk Open City ist jedoch ein reines Selbstgespräch von Julius. Dieser versucht aber das zu verdecken indem er wie ein auktorialer Erzähler spricht und seinen Monolog damit unkenntlich macht. Denn besonders durch diese andauernden Monologe zeichnet sich ein unreliable narrator aus (Nünning, Unreliable narration, 18).

Open City ist aus vielen dieser Metareflektionen aufgebaut. Diese handeln dabei hauptsächlich über Gräueltaten, Menschenrechtsverletzungen oder Rassismus (Vermeulen, 44). „Julius sounds […] the depths of others‘ traumas as he skates over the surface of his own. He cannot consume or confront his own story. But he can collect, catalog, and ventriloquize those of others.” (Clark, 193) Er scheitert aber daran, aus diesen Geschichten zu lernen oder einen positiven Nutzen zu ziehen (Vermeulen, 43f.), stattdessen reflektiert er diese ziellos.

[...]

Fin de l'extrait de 17 pages

Résumé des informations

Titre
Warum ist der Protagonist in "Open City" von Teju Cole ein "unreliable narrator"?
Université
University of Augsburg
Cours
Proseminar englische Literaturwissenschaft
Note
2,7
Auteur
Année
2019
Pages
17
N° de catalogue
V507585
ISBN (ebook)
9783346059642
ISBN (Livre)
9783346059659
Langue
allemand
Mots clés
Open City, Teju Cole, Unreliable Narrator, Ansgar Nünning, Unzuverlässiger Erzähler, Flaneur
Citation du texte
Lea Jell (Auteur), 2019, Warum ist der Protagonist in "Open City" von Teju Cole ein "unreliable narrator"?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/507585

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