(Un-)Doing Differences im Unterricht

Eine ethnografische Studie


Masterarbeit, 2019

98 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Humandifferenzierung

3 Aktueller Forschungsstand

4 Ethnografieforschung
4.1 Selbstverständnis und Prinzipien
4.1.1 Gegenstandsbereich
4.1.2 Feldforschung
4.1.3 Methodenopportunismus
4.1.4 Verschriftlichungsprozess
4.2 Methodik und Forschungsprozess
4.2.1 Grounded Theory – Exkurs zur Datenanalyse
4.3 Umsetzung in der vorliegenden Studie

5 Humandifferenzierung im Unterrichtsgeschehen
5.1 Das Feld und seine Rahmenbedingungen
5.2 Differenzierungen aufgrund vermeintlicher Sprachbarrieren
5.3 Das Loben und Tadeln - Differenzierungen aufgrund von Störungen und Leistung
5.4 Der Fall Hüseyin – Wie erhält ein Kind einen Sonderstatus?

6 Abschließende Betrachtung

7 Anhang
7.1 Sitzplan der vierten Klasse
7.2 Stundenplan
7.3 Beobachtungsprotokolle
7.4 Kodierergebnis

8 Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einführung

„Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an“, sagte einst Theodor Fontane (1819 – 1898), deutscher Schriftsteller, Journalist, Erzähler und Theaterkritiker und griff schon damals die Relevanz von Gemeinschaft und Zugehörigkeit auf. Auch Pierre Bourdieu spricht zu Beginn seines Werkes Meditationen - Zur Kritik der scholastischen Vernunft beiläufig von den „unterschiedlichen Mitgliedschaften, Zugehörigkeiten, Involviertheiten“, durch die wir „in die Welt verwickelt“ seien (Bourdieu 2001, S. 18). Doch so nebenbei lässt sich dieses Bedürfnis nach Mitgliedschaft und Zugehörigkeit nicht abtun. Unser soziales Miteinander bezieht sich stets auf die Zugehörigkeiten der Individuen zu Gruppierungen und Subgruppierungen der Gesellschaft. Verschiedene Arten von Verbindungen, die „Ways of Belonging“ (Souza 1990), bilden den Grundstein der Sozialität. Für den Einzelnen bleibt dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit nicht folgenlos: "Das bei seiner Geburt organisch und administrativ singularisierte Menschenmaterial wird erst durch seine multiplen Zugehörigkeiten sozialisiert und individualisiert“ (Hirschauer 2017, S. 29).

Jedoch sehnen sich die Gesellschaftsmitglieder nicht nur nach Zugehörigkeit. Sie zeichnen sich zudem durch einen hohen Ordnungsbedarf aus, um sich rückwirkend selbst im System verorten zu können (Hirschauer 2014, S. 173). Das Konzept der Humandifferenzierung greift diese Mechanismen auf und versucht ihre Prozesse offenzulegen und aufzuzeigen, wie unterschiedliche Situationen verschiedene Differenzierungsrelevanzen zum Vorschein bringen. Im Rahmen schulischer Interaktionsgeschehen können Differenzierungen beispielsweise durch institutionell gegebene Strukturen, durch Materialien und Themen, durch Handlungen von Lehrkräften (LK) oder aber auch durch Reaktionen der Schülerinnen und Schüler (SuS) produziert, verstärkt oder minimiert werden.

Diese ethnografische Studie befasst sich mit den Humandifferenzierungen im Feld unterrichtlicher Situationen, die im Rahmen des Regelunterrichts einer vierten Grundschulklasse beobachtbar sind. Hierbei liegt der Fokus auf der Darstellung ausgewählter Fallbeispiele und der kleinschrittigen Analyse dieser Kategorisierungsprozesse entsprechend des Humandifferenzierungsansatzes nach Hirschauer (2017). Angelehnt an den aktuellen Forschungsstand sollen Differenzierungsverfahren so greifbar und als Reflexionsgrundlage des Lehrerhandelns handhabbar gemacht werden.

Der erste Teil dieser Arbeit wird zunächst eine theoretische Einführung in das Konzept des doing und undoing differences nach Hirschauer gegeben. Ein Einblick in die derzeitige Forschungslage in vor allem pädagogischen Settings schließt daran an. Anschließend wird das methodische Forschungsvorgehen entsprechend des gewählten ethnografischen Ansatzes näher beleuchtet.

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich folgend mit konkreten Fallbeispielen der durchgeführten Studie. Hier werden verschiedene Differenzierungsprozesse im Situationsgeschehen dargestellt, analysiert und ihre Wirkungen sichtbar gemacht und kritisch betrachtet.

In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

2 Humandifferenzierung

Beschäftigt man sich mit Hirschauers Ansatz der Humandifferenzierung, so werden Menschen „nach einer Vielzahl von Aspekten unterschieden und in Kategorien sortiert“, welche nach einer ganz eigenen Logik konstruiert werden (Hirschauer 2017, S. 7). Diese kategoriale Ordnung erfüllt zweierlei grundlegende Funktionen: zum einen geht mit ihr eine „Ordnungsleistung“ einher, durch die Individuen die Gesellschaft geordnet erleben können. Zum anderen resultiert daraus die Möglichkeit der „Selbstverortung“ im sozialen Gefüge. Die Akteure sind so in der Lage ihre Position in der Gesellschaft auszumachen und zu definieren (Hirschauer 2014, S. 173). Humandifferenzierung lässt sich demnach als „kulturelle Kategorisierung von Menschen“ beschreiben (Hirschauer 2017, S. 7).

„Die Effekte solcher Unterscheidungsprozesse werden alltagsweltlich als individuelle ‚Eigenschaften‘ von Personen und ihre Aggregation als gegebene Menschensorten wahrgenommen: Menschen sind im Alltagsverständnis einfach unterschiedlich“ (Hirschauer 2017, S. 8).

Beispielsweise lassen sich Menschen entsprechend ihrer Ethnizität, Religion oder ihres Geschlechts in verschiedene Kategorien unterscheiden. „Gerade in modernen, meritokratischen Gesellschaften ist aber auch die Klassifikation nach individueller Leistung von Bedeutung“ (Hirschauer 2017, S. 8). Hierbei handelt es sich nur um einige prägnante Unterscheidungskategorien, die sich in der modernen Gesellschaft finden lassen. Im schulischen Kontext gibt es beispielsweise auch, für den gesamtgesellschaftlichen Kontext, deutlich marginalere Unterscheidungen: nach lauten und leisen, nach sportlichen und unsportlichen oder nach intelligenten und weniger intelligenten Kindern. Bereits diese kurze Aufzählung möglicher Kategorien zeigt die Komplexität dieses Gebiets auf. Die Vielzahl an Unterscheidungsmöglichkeiten setzt an verschiedensten Merkmalen eines Individuums an. Zum einen dienen Körper als Ansatzpunkte für Differenzierungen, zudem können auch Tätigkeiten oder Güter wichtige Differenzierungsmerkmale darstellen. Ebenso kann die Verweildauer in einer bestimmten Kategorie stark variieren. Abhängig von der Situation und dem Kontext kann eine Differenzierung bereits fest etabliert oder nur sehr flüchtig angelegt sein. „Geschlecht oder Rasse werden als lebenslang konstante Eigenschaften erwartet, während Alter immanent transitorisch ist und bei Nationen und Klassen mit Mobilität systematisch gerechnet wird“ (Hirschauer 2017, S. 8).

Doch auch die Funktionen von Humandifferenzierungen sind vielseitig. Abwertung und Idealisierung lassen sich beispielsweise in der „generelle(n) Bevorzugung des Wir gegenüber den Anderen “ finden, wohingegen bei Leistungsunterscheidungen eine Skalierung entsprechend der ‚besseren‘ und ‚schlechteren‘ Personen die „binäre wir/die-Opposition“ ersetzt (Hirschauer 2017, S. 8). Die Zuordnung zu einer Kategorie bringt somit immer ein Korrelat zu anderen Menschen mit sich und erfüllt damit ebendiese Vergleichsfunktion. Dies kann positive oder aber negative Assoziationen mit den Vergleichspersonen erzeugen.

Ungeachtet der aufgezeigten Komplexität von Prozessen der Humandifferenzierung, greift die standardisierte Sozialforschung die klar abgrenzbaren alltagsweltlichen oder bürokratischen Kategorien auf und „selektiert die Mitglieder ihrer Stichproben als Träger bestimmter Eigenschaften“ (Hirschauer 2017, S. 9). Diese scheinbar unhinterfragte Übernahme

„alltagsweltlicher in wissenschaftliche Kategorien geht wie selbstverständlich davon aus, dass entsprechende Gruppen (wie Ethnien, Geschlechter oder soziale Milieus) existieren und behandelt die Zugehörigkeiten zu ihnen als Identitäten“ (Hirschauer 2017, S. 9).

Im soziologischen Kontext lassen sich ‚Eigenschaften‘ als Mitgliedschaften zu bestimmten Kollektiven erklären. Dies zieht nach sich, dass sie nicht bloß individuell zuzuordnen sind. Menschen mit gleichen (oder ähnlichen) Attributen werden so zu Exemplaren sozialer Gebilde gemacht. Diese Ausgangsvorstellung missachtet zwei wichtige Abweichungen vom Ansatz der Humandifferenzierung nach Hirschauer. Zum einen geht der soziologische Ansatz von statischen Eigenschaftszuschreibungen aus. Die Humandifferenzierung hingegen fokussiert Differenzierungsprozesse anstelle statischer Eigenschaftszuschreibungen oder kollektiver Zugehörigkeiten. Erst diese Prozesse erzeugen Kategorien und Mitgliedschaften. Genauer gesagt, liegen „die Praktiken, die eine Zugehörigkeit ausweisen, die Klassifikationsprozesse, die sie zuweisen, die polarisierenden Maßnahmen, die Kategorien auseinanderhalten“ (Hirschauer 2017, S. 9) im Fokus des Ansatzes nach Hirschauer und zeigen die Prozesse, die dem doing differences zugrunde liegen. Zum anderen stellt die These der Koexistenz mehrerer Mitgliedschaften eine weitere Unterscheidung zu den Eigenschaftsannahmen der Soziologie dar. „Individuen haben Mitgliedschaften in Humankategorien ja nicht einzeln und isoliert, sondern immer mehrere parallel, gleichzeitig und kombiniert, sie haben sie immer schon als Mehrfachzugehörigkeit “ (Hirschauer 2017, S. 9).

Um nun diese Prozesse und Mehrfachzugehörigkeiten aufzudecken, beschäftigt sich Hirschauer mit dem Konzept des doing und undoing differences. Ausgangspunkt für seine Annahmen bildet das praxeologische Konzept nach West & Fenstermaker (1995), die mit dem doing differences die Grundannahme verfolgen, „dass alle soziale Differenzierung praktiziert werden muss, also Teil einer Vollzugswirklichkeit ist, wobei Individuen weder als Akteure noch als Träger von Identitäten, sondern als bloße Vermittler sozialer Praxis betrachtet werden“ (Hirschauer 2017, S. 11; Hirschauer 2014, S. 182). West & Fenstermakers Ansatz erklärt zudem die „Gleichzeitigkeit der Produktion von Differenzen“ (Hirschauer 2014, S. 182). Diese Herstellungsprozesse können verschiedene Gestalten annehmen. So kann einerseits eine bestimmte Diät aufgrund der religiösen Motivation eine Differenz aufbauen, oder auch ein Kleidungsstil die Zugehörigkeit zu einer Gruppierung aufzeigen. Die Bandbreite von doings ist nicht klar eingrenzbar (Hirschauer 2017, S. 11). Mit der Auffassung, dass Unterscheidungen und somit auch Zugehörigkeiten aktiv hergestellt und vollzogen werden (doing X), erweitert Hirschauer das Konzept von West & Fenstermaker um die These, dass diese Praktiken auch unterlassen oder gar zurückgezogen werden können. Dieses „ undoing X liegt etwa vor, wenn eine individuell naheliegende Unterscheidung (z.B. nach Ethnizität) normativ inhibiert oder eine interaktiv vollzogene Unterscheidung zurückgewiesen oder ignoriert wird“ (Hirschauer 2017, S. 11). Es besteht also die grundlegende Möglichkeit Kategorisierungen abzulehnen und somit zu negieren. Akteure haben dadurch die Option Differenzierungen zu erzeugen oder diese zurückzuziehen, sie aufrechtzuerhalten oder sie fallenzulassen. Zudem besteht aber auch die Chance, Unterscheidungen gar nicht erst vorzunehmen, sie eben nicht stattfinden zu lassen. Dieser Prozess, der dem doing gegenüber steht, lässt sich als not doing X beschreiben, indem etwas anderes (Y) getan wird (Hirschauer 2017, S. 11). „Jedes doing einer Unterscheidung trägt das undoing – die Verdrängung und Negation – anderer Unterscheidungen schon in sich“ (Hirschauer 2017, S. 12).

Für die Forschung sichtbar sind auf den ersten Blick nur Prozesse des doing differences. Das undoing lässt sich für den Beobachter nur feststellen, wenn es eine „Phase der Unterscheidungsnegation“ gibt, folglich einen Moment in dem eine Differenz ungeschehen gemacht wird (Hirschauer 2014, S. 183).

Das Verständnis, dass Differenzierungen von jedem Individuum selbst produziert werden, verdeutlicht die mikroperspektivische Handlungsseite des Ansatzes. Zu jedem erdenklichen Zeitpunkt wählen Individuen aus einem Pool konkurrierender Kategorien sinnhafte Verhaltensweisen aus und stellen so Humandifferenzierungen her (Hirschauer 2017, S. 12; Hirschauer 2014, S. 183).

Desweiteren ist zu beachten, dass Differenzierungen Wechselwirkungen mit sich bringen können. Einige beeinflussen sich, sei es negativ oder positiv, wohingegen andere sich folgenlos begegnen. „Manche [...] verstärken sich gegenseitig, andere neutralisieren sich, viele kreuzen sich im Sinne einer gegenseitigen Brechung“ (Hirschauer 2014, S. 185). So kann man einerseits von Differenzverstärkungen und andererseits von Differenzminimierungen sprechen, die durch die „Skalenverschiebung von Differenzierungslinien“ entstehen (Hirschauer 2014, S. 185f.). Folglich sollte man Humandifferenzierung nicht nur sukzessiv betrachten, sondern auch der Gleichzeitigkeit von Kategorisierungen Rechnung tragen, um das volle Ausmaß von Differenzierungen greifen zu können (Hirschauer 2017, S. 13).

Für Hirschauer reicht es nicht, Differenzierungen als stattfindende Kategorisierungen zu fassen. Vielmehr interessiert ihn, wie an Humandifferenzierungen angeschlossen wird, „ob es also in deren Verlauf zur Wiederaufnahme einer Unterscheidung kommt, so dass ihre soziale Relevanz aufgebaut wird“ (Hirschauer 2017, S. 12f.). Er verfolgt das Ziel einer transdisziplinären theoretischen Perspektive auf „die Herstellung, Überlagerung und Außerkraftsetzung verschiedener kultureller Differenzierungen des gesellschaftlichen Personals“ (Hirschauer 2014, S. 188). Hierfür genügt es nicht den bloßen Moment einer Kategorisierung, sei es perzeptiv oder sprachlich vollzogen, festzuhalten, vielmehr interessieren ihn die daran anknüpfenden Prozesse. Werden vorangegangene Unterscheidungen nicht erneut aufgegriffen, so finden diese bis auf Weiteres nicht statt und verbleiben stattdessen in einer Art „Stand-by-Modus“. Dies ist etwa mit Mitgliedschaften in einer Organisation, beispielsweise einem Verein, in dem die Zugehörigkeit auf einer Skala von stark bis gering variieren kann, vergleichbar. Genauso wechseln auch sozial konstruierte Migliedschaften „situativ, feldspezifisch und historisch“ (Hirschauer 2017, S. 12f.).

Die empirische Forschung setzt sich vor diesem Hintergrund besonders mit der Frage auseinander, wann und wo welche Differenzierungen in Kraft treten. Doch auch damit einhergehende Fragen wie beispielsweise „welche zugeschriebene Zugehörigkeit ist wann und wie lange auch affektiv besetzt?“ oder „wie spielen doing und undoing difference ineinander?“ (Hirschauer 2017, S. 13), müssen näher betrachtet werde.

Die aktuelle Forschung beschäftigt sich auch gerade in pädagogischen Kontexten mit Differenzierungsmechanismen und beobachtet unter dem Fokus festgelegter Kategorien die zugrundeliegenden Prozesse. Entsprechende Einblicke in die derzeitige Forschung werden im folgenden Kapitel dargestellt.

3 Aktueller Forschungsstand

Forschungen entsprechend der Annahme von Mehrfachzugehörigkeiten im Kontext von Humandifferenzierung wurden lange – besonders von Forschungsfeldern um einzelne, prominente Differenzierungen (wie etwa Ethnicity, Race und Gender Studies) – missachtet oder nur marginal thematisiert. Derzeit wird dieser Aspekt „nachholend unter dem Konzept der ‚Intersektionalität‘ behandelt“ (Hirschauer 2017, S. 9f.).

Das Augenmerk liegt hierbei vor allem auf den Ungleichheitseffekten, die das Zusammenwirken verschiedener ausgewählter Differenzen entlang ihrer Kreuzungspunkte für die Akteure eines Feldes haben. Demnach wird zwar der Gleichzeitigkeit von Humandifferenzierung Rechnung getragen, der Bandbreite der großen Diversität jedoch mit zwei starken Reduktionen begegnet. Zum einen fokussieren sich Forschungsarbeiten in diesem Bereich ausschließlich auf Ungleichheitseffekte. Andererseits werden nur die großen Differenzkategorien berücksichtigt. „Sieht man empirisch genauer hin, werden neben der großen Trias sozialer Ungleichheit (sex/race/class) jedoch zahlreiche weitere Differenzierungslinien erkennbar“ (Hirschauer 2017, S. 9f.). Gerade diese vielschichtigen Aufspaltungen von Differenzierungen stellen Teilsysteme der Gesellschaft dar. Die „ differenzierungstheoretische Tradition der Soziologie“ greift die Vielzahl an Differenzierungslinien auf und erkennt an, dass Mehrfachzugehörigkeiten einen sehr elementaren Sachverhalt darstellen. Akteure der modernen Gesellschaft sind dementsprechend nicht mehr primär in Klassen zu sortieren. Vielmehr entsteht ihre Individualität am ‚Schnittpunkt sozialer Kreise‘ (Simmel, 1992 Zitat nach Hirschauer 2017, S. 9f.).

Pädagogische Theorien und Analysen beschäftigen sich schon seit langer Zeit mit der Konstruktion von Differenz in pädagogischen Feldern. Doch erst seit den 1970er Jahren rückt dieses Phänomen auch in den Blick der erziehungswissenschaftlichen Forschung. „Nach der Wende zum dritten Jahrtausend wurden sie zum Brennpunkt erziehungswissenschaftlicher Auseinandersetzung“ (Tervooren et al. 2014, S. 9).

In dem Werk Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern. Internationale Entwicklungen erziehungswissenschaftlicher Forschung (Tervooren et al. 2014) stellen die Herausgeber unter anderem Phänomene, Konstruktionen und Produktionen von Differenzen in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern dar. Im Kontext schulischer Bildung werden hierbei wissenschaftliche Beiträge von Yaliz Akbaba, Ira Schumann, Beatriz Ballestín und Bettina Fritzsche präsentiert. „Die Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich [...] auf der theoretischen, der methodologischen und empirischen Ebene mit den Herausforderungen der Konstruktionen von Differenz“ (Tervooren et al. 2014, S. 15).

Im Artikel von Yaliz Akbaba liegt das Augenmerk der ethnografischen Arbeit auf dem Handlungsrepertoire der Schülerinnen und Schüler zur Bewältigung ethnischer Differenzmarkierungen (Akbaba 2014, S. 275). Die zugrundeliegende Studie geht von dem Phänomen aus, dass sich aus der Anerkennung der Differenz Ethnie ein strukturelles Dilemma ergibt. Denn, „aus der Absicht, Differenz zu berücksichtigen“ (Akbaba 2014, S. 276) ergibt sich einerseits die Gefahr, bereits Zuschreibungen vorzunehmen und dadurch andererseits wiederum gewisse Dominanzverhältnisse zu bestätigen. Akbaba nimmt hierbei Prozesse des doing ethnicity in den Blick seiner Forschung und geht davon aus, dass ethnische Zugehörigkeit eine soziale Konstruktion darstellt (Akbaba 2014, S. 276). Im Rahmen seines Dissertationsprojekts[1] analysiert Akbaba mithilfe eines Beobachtungsprotokolls unterrichtliche und andere schulische Situationen, welche er mittels der „Kodierungsmethoden der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1998 [sic!]) und mit theoretischer Sensibilität in theoretische Kontexte übersetzt“ (Akbaba 2014, S. 277). Ergebnis der ethnografischen Studie ist die Feststellung eines vielfältigen Handlungsrepertoires seitens der Schülerinnen und Schüler.

„Das Repertoire, mit hergestellter Differenz umzugehen, verläuft jenseits einer dichotomen Einteilung in missachtende Differenzblindheit und ausgrenzende Differenzdramatisierung. Differenzmarkierungen werden aufgenommen und fortgeschrieben, eigenmächtig ausdifferenziert, und in Bewertungssituationen umgedeutet oder ausgesetzt. Negativzuschreibungen werden umgewandelt, Stereotypen ironisiert, Kategorien dekonstruiert, und zusammen ergeben sich Inklusionsstrategien, die in differenzsensiblen Kontexten Gleichsein herstellen“ (Akbaba 2014, S. 287).

Auch die Forschungsarbeit von Schuman beschäftigt sich mit dem Umgang mit Differenzen bezogen auf die Differenzkategorien behindert – nichtbehindert und versucht die Frage zu beantworten, wie diese Unterscheidung von Individuen des schulischen Feldes erzeugt wird. In dieser Arbeit bewegt sich Ira Schumann im Feld einer integrativen Gesamtschule (Tervooren et al. 2014, S. 18). Eine derartige Studie, die die exakten Mechanismen der Humandifferenzierung hinterfragt, durch die Kategorisierungen immer wieder erzeugt werden und so die reflexive Praxis des Lehrpersonals unterstützen kann, „scheint notwendig, wenn unter dem Etikett der Inklusion nicht wieder (neue) segregierende Praktiken stattfinden sollen“ (Schumann 2014, S. 309).

Auch Schumann erhob die Daten für ihr Dissertationsprojekt durch teilnehmende Beobachtung in drei mehrwöchigen Feldphasen und wertete die dabei entstehenden Beobachtungsprotokolle aus. Ihr zunächst auf die Handlungen der Schülerinnen und Schüler gelegter Fokus zeigte schnell, dass institutionelle Praktiken und das Verhalten der Lehrkräfte nicht aus den Beobachtungen zur Herstellung von Differenz herauszudenken war (Schumann 2014, S. 295f.). Eher hatten diese Bereiche großen Einfluss auf die Differenzierungsprozesse unter den Schülerinnen und Schülern.

Schumann arbeitet durch ihre Beobachtungen heraus, dass die Kinder mit Förderbedarf bereits durch eine klare strukturelle Unterscheidung in Außenklasse und „normale“ Heimatklasse segregiert wurden. Dieser Umstand und der damit einhergehende Unterschied in der Ausstattung der Räumlichkeiten, Materialien und auch der Klassengröße legte damit das Fundament für weiterführende Differenzierungsprozesse. Auch die unterschiedliche inhaltliche Differenzierung in verschiedenen Unterrichtssituationen, einerseits gemeinsamer Unterricht der zwei Klassenformen und andererseits getrennter Unterricht, trug zur Herstellung von Differenzen bei. Hierdurch rückte der besondere Unterstützungsbedarf der Kinder der Außenklasse im gemeinsamen Unterricht in den Fokus. In einem Fall ging dies sogar so weit, dass die Lehrkraft die Aufgaben eines Schülers fast vollständig selbst übernahm und ihm so jegliche Fähigkeiten abschrieb. Eine andere Form der Differenzherstellung erfolgte über Ausnahmen und Sonderregelungen. Diese Art der Differenzierung konnte beispielsweise im Sportunterricht mehrfach beobachtet werden. In einem gemeinsamen Spiel wurde auch hier den Kindern ein gewisser Unterstützungsbedarf zugeschrieben, sodass die Lehrkräfte die Spielregeln für die Kinder der Außenklasse anpassten, während alle anderen Kindern die normalen Spielregeln befolgen mussten (Schumann 2014, S. 296ff.).

Eine andere prägnante Situation, die Schumann in ihrem Bericht darstellt, zeigt den Umgang der Schülerinnen und Schüler der Heimatklasse mit bereits vollzogenen Differenzierungen seitens der Lehrkräfte. Bei der Herstellung von Schablonen erhielt ein Schüler der Außenklasse Unterstützung, indem die Lehrkraft seine Schablone anfertigte und ihm die Arbeit dafür vollständig abnahm. Sie ermöglichte ihm ein ebenso genaues Ergebnis zu erzielen, wie die anderen Kinder, sodass er etwaigen Stigmatisierungen aufgrund seiner eingeschränkten Fähigkeiten bei der Präsentation der Ergebnisse entging. Die Lehrkraft sprach ihm in diesem Fall die Fähigkeit dies selbst zu schaffen ab und schuf gerade dadurch eine Entwertung und Stigmatisierung des Jungen. Der Junge reagierte auf sein fertiges Produkt, indem er es den anderen Kindern an den Gruppentischen präsentierte (Schumann 2014, S. 300).

„Zu erwarten wäre nun eine Zurückweisung Stefans gewesen, aber erstaunlicherweise wenden sich die anderen Kinder ihm zu und er erhält nur positive Reaktionen. Paradoxerweise lässt sich aber gerade diese Zuwendung, die er für sein Handeln erhält, als Ausdruck fehlender Anerkennung lesen: Stefan als gleichwertiges Gegenüber anzuerkennen, hätte Widerspruch gegen seine Regelverletzung bedeutet. Die Nachsicht, mit der er behandelt wird, verfestigt dagegen seinen Status als Nicht-Zugehöriger“ (Schumann 2014, S. 300).

Diese beispielhaften Auszüge aus Schumanns Studie zeigen deutlich wie Humandifferenzierungen auf verschiedene Weisen erzeugt und durch die Akteure des Feldes weiter verstärkt oder geschwächt werden können. Dies korreliert mit den Ergebnissen von Akbaba.

Auch die im Folgenden präsentierte Studie beschäftigt sich mit den Differenzproduktionen, die im Kontext des unterrichtlichen Geschehens an einer Grundschulklasse beobachtbar sind. Sie macht sich zum Ziel, die eben bereits angerissenen, verschiedenen Einflussfaktoren der Humandifferenzierung anhand ausgewählter Beispiele zu verdeutlichen und kritisch zu betrachten und so den Forschungsstand zu derartigen Phänomenen auszuweiten.

4 Ethnografieforschung

Die Auseinandersetzung mit Humandifferenzierungen im Kontext Schule bedarf einer tiefen Durchdringung des Feldes und seiner Akteure, um einerseits Differenzierungsprozesse sichtbar zu machen, andererseits jedoch auch grundlegende Phänomene des Feldes aufzudecken. Hierfür bietet sich der Ansatz der Ethnografieforschung an, welche in diesem Kapitel näher beleuchtet wird. Wie auch schon in den präsentierten Studien von Schumann und Akbaba wurde in der hier vorliegenden Arbeit mit einem ethnografischen Forschungsansatz und der teilnehmenden Beobachtung mit Anlegung von Beobachtungsprotokollen vorgegangen. Nachfolgend wird daher zunächst das Selbstverständnis und die Prinzipien der Ethnografieforschung kurz dargestellt und anschließend die methodischen Vorgehensweisen und Werkzeuge, die in dieser Studie verwendet werden, erläutert.

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der Forschungsansatz eine analytische „Beschreibung fremder (oder eigener) kultureller Praktiken, mit dem Ziel, diese so zu repräsentieren, dass die Leserschaft ein Bild von diesen Praktiken oder kulturellen Lebensformen gewinnen kann“ (Breidenstein et al. 2015, S. 7), verfolgt. Eben darauf zielt auch diese Forschungsarbeit ab, indem sie an ausgewählten Phänomenen der alltagsweltlichen Geschehnisse im unterrichtlichen Kontext von Schule Humandifferenzierungsprozesse greifbar zu machen versucht.

4.1 Selbstverständnis und Prinzipien

Die Ethnografieforschung entspringt einerseits der Ethnologie und andererseits der Soziologie des 20. Jahrhunderts und ist eng mit dem europäischen Kolonialismus verknüpft (Breidenstein et al. 2015, S. 13). Zu dieser Zeit begaben sich Forscher in fremde Kulturen und versuchten sie und ihre Praktiken zu beschreiben und zu verstehen. Daraus entstand der Anspruch eines Perspektivenwechsels, um fremde Kulturen erst greifbar machen zu können.

„Anstelle einer Vereinnahmung [...] des Fremden, bei der europäische Kategorien und Erklärungsmuster dem Gegenstand ethnozentrisch übergestülpt werden, soll in Erfahrung gebracht werden, was die fremde Kultur für die Fremden selbst ist“ (Breidenstein et al. 2015, S. 18).

Der Begriff Ethnografie stellt also eine Form von „Kulturbeschreibung“ dar (Breidenstein et al. 2015, S. 31), folglich eine Darstellung dessen, was bestimmte Akteure in bestimmten Feldern aus verschiedenen Motiven heraus tun oder auch nicht tun. Die Ethnografieforschung kann daher als „synchrone Begleitung lokaler Praktiken“ (Breidenstein et al. 2015, S. 41) beschrieben werden. Indem der Ethnograf ein Feld betritt und sich diesem hingibt, erhält er die Möglichkeit Erkenntnisse darüber zu sammeln.

Der „Erkenntnisstil des Entdeckens“ (Breidenstein et al. 2015, S. 13) fordert den Forscher auf das Feld unvoreingenommen zu betreten, es tief zu durchdringen und sich von ihm im Forschungsprozess leiten zu lassen. Besonders die Offenheit gegenüber dieses Prozesses und des Feldes fordert den Ethnografen auf sich selbst zum Forschungsinstrument zu machen und das methodische Konzept der Ethnografieforschung zu verkörpern (Breidenstein et al. 2015, S. 37). „Charakteristisch für die Fragestellung der Ethnografie ist daher ihre anfängliche Nicht-Festgelegtheit und Offenheit“ (Breidenstein et al. 2015, S. 47). Genauer gesagt wählt die Ethnografieforschung zunächst nur ein Forschungsfeld aus, in dem sie sich bewegen will. Das Forschungsinteresse und eine exakte Forschungsfrage ergeben sich erst durch die Auseinandersetzung mit dem Feld und seinen Akteuren.

Feldaufenthalte sind sehr vielseitig und können daher unterschiedliche Formen annehmen. Zum einen kann sich der Forschende auf eine soziale Situation konzentrieren, die in einem bestimmten Setting an einem ausgewählten Ort stattfindet. Zum anderen kann sich der Ethnograf auch den Akteuren eines Feldes anschließen und ihnen innerhalb des Feldes folgen und sie so an verschiedene Plätze des Feldes begleiten. Auch kann ein Feldaufenthalt gar nicht erst mit einer expliziten Lokalität in Verbindung zu bringen sein, sondern sich eher durch einen „Praxis-Zusammenhalt“ auszeichen, „der in seiner geographischen Streuung an spezifischen Orten stattfindet“ (Breidenstein et al. 2015, S. 49). Im Fall der hier vorliegenden ethnografischen Studie lässt sich der Feldaufenthalt auf explizite Unterrichtssituationen einer ausgewählten Klasse reduzieren. Demnach sind die Grenzen des Feldes klar zugeschnitten. Einerseits können nur Schülerinnen und Schüler der ausgewählten Klasse sowie dort unterrichtende Lehrende berücksichtigt werden. Andererseits steckt die Institution Grundschule, genauer gesagt stattfindende unterrichtliche Geschehnisse, den klaren Rahmen des Feldes ab. Auch die grundlegenden Konzepte der Schule, räumliche und materielle Gegebenheiten wirken in die Beobachtungen der Praktiken des Feldes hinein. Außerunterrichtliche Ereignisse sind in dieser Studie nicht berücksichtigt.

Die Organisation des ethnografischen Forschungsvorgehens lässt sich als eine Art Trichter beschreiben. Der Forschende betritt zu Beginn der Forschungsarbeit unvoreingenommen und ohne exakte Zielvorstellungen das Feld. Im weiteren Verlauf verdichten sich die Beobachtungen, sodass am Ende der Arbeit eine Analyse sehr spezifischer Situationen erfolgt. „Diese Organisation des Forschungsprozesses wird häufig explorativ, das heißt suchend und erkundend genannt; man kann sie auch als überraschungsoffen bezeichnen“ (Breidenstein et al. 2015, S. 39). Dieser Selektionsprozess wird vom Feld mitbestimmt und maßgeblich geleitet.

Ethnografien arbeiten, wie viele andere qualitative Forschungsansätze, mit einem rekursiven, zirkulär ablaufenden Design. Im Detail lässt sich der Forschungsprozess durch die Wiederholung einzelner Schritte beschreiben, die immer wieder auf sich selbst angewand werden. Betritt der Forschende zunächst das Feld, um dieses zu beschreiben, so zieht er sich anschließend aus diesem wieder zurück, um erste Erkenntnisse festzuhalten und zu verdeutlichen. Anschließende Feldzugänge werden so schrittweise vertieft und spezifiziert, indem wiederkehrende Distanzierungen die Foki der Arbeit immer weiter zuschneiden (Breidenstein et al. 2015, S. 45). „Rekursives Design meint also, dass verschiedene Schritte der ethnografischen Forschung wiederholt auf sich selbst angewandt werden und dass diese Selbstanwendung den ethnografischen Forschungs- und Erkenntnisprozess anleitet“ (Breidenstein et al. 2015, S. 45). Weiter lässt sich die Ethnografie durch vier Markenzeichen näher beschreiben (Abb. 1), die im Folgenden kurz dargelegt werden. Diese sind (1) die sozialen Praktiken als Gegenstand der Ethnografieforschung, (2) die Feldforschung als Ermöglichung andauernder und unmittelbarer Erfahrungen, (3) der Methodenopportunismus als integrierter Forschungsansatz und (4) das Schreiben als Versprachlichung der Ergebnisse (Breidenstein et al. 2015, S. 32).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Markenzeichen der Ethnografie (Breidenstein et al. 2015, S. 32)

4.1.1 Gegenstandsbereich

Die Ethnografieforschung ist „zwischen den Mikro-phänomenen der Interaktions-analyse und den Makro-phänomenen der Sozialstruktur-analyse komplexer Gesell-schaften angesiedelt“ (Breidenstein et al. 2015, S. 32). Das bedeutet, dass der Fokus nicht auf den einzelnen Individuen des Feldes, sondern vielmehr auf Situationen liegt - „Einheiten, die über eine eigene Ordnung und Logik verfügen“ (Breidenstein et al. 2015, S. 32). Demnach beschäftigt sich der Ethnograf besonders mit den im Feld vollzogenen Praktiken und versucht implizites Wissen, das diese Situationen leitet, sichtbar zu machen und so Teilhabe an der Introspektion dieser sozialen Situationen zu erlangen. Durch die Darstellung feldspezifischer Praktiken versucht der Forschende Handlungsprobleme und deren Handlungskoordination zu explizieren (Breidenstein et al. 2015, S. 33 und 42).

Um eben diese Situationen beobachten zu können begibt sich der Forschende in das Feld und versucht dieses zu durchdringen. Die Ethnografieforschung verfolgt hierbei zudem das Prinzip der Mimesis, indem sie von „Nachahmung und Angleichung“ geleitet den Gegenstand näher untersucht (Breidenstein et al. 2015, S. 39).

4.1.2 Feldforschung

„Die zentrale Prämisse des methodischen Zuschnitts der Ethnografie ist die Feldforschung, das persönliche Aufsuchen von Lebensräumen“ (Breidenstein et al. 2015, S. 33). Durch diesen Zugang erhält der Forschende die Möglichkeit, die Individuen des Feldes in ihrer „natürlichen Umwelt“ beobachten zu können. So kann authentisches Datenmaterial gesammelt werden.

Soziale Felder lassen sich folglich als Umgebungen beschreiben, in denen etwas geschieht, auch „wenn kein wissenschaftlicher Beobachter anwesend ist“ (Breidenstein et al. 2015, S. 33).

Die Feldforschung wird besonders durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Sie ermöglicht dem Forschenden eine „Unmittelbarkeit der gesuchten Forschungserfahrung“, indem der Ethnograf Erfahrungen aus erster Hand machen kann und so die soziale Wirklichkeit des Feldes auf direktestem Wege zu fassen bekommt. Außerdem zeichnet sich die Feldforschung durch ihren großen zeitlichen Aufwand aus. In der Regel betreten Ethnografen das Forschungsfeld für einen langen Zeitraum, um einen größtmöglichen Realitätskontakt herzustellen (Breidenstein et al. 2015, S. 33). Die so über einen längeren Zeitraum entstehende „Akkumulation von Felderfahrungen schafft [...] ein umfangreiches Kontext- und Hintergrundwissen“ (Breidenstein et al. 2015, S. 34).

Diese Anhäufung von Wissen entsteht dabei nicht allein durch einen durch wechselnde Passivität und Aktivität ausgezeichneten Feldaufenthalt. Vielmehr wird feldspezifisches Wissen durch das Zusammenspiel verschiedener Methoden generiert.

4.1.3 Methodenopportunismus

„Die Ethnografie ist keine Methode. [...] Man kann sie eher als einen integrierten Forschungsansatz bezeichnen. Dieser kombiniert Beobachtungen mit Interviews, technischen Mitschnitten und Dokumenten aller Art. [...] Die teilnehmende Beobachtung bildet allerdings das Zentrum der Ethnografie“ (Breidenstein et al. 2015, S. 34).

In welcher Art und Weise der Forschende sich mit seinem Feld auseinander setzt ist vom spezifischen Feld abhängig. So variieren die erzeugten Datentypen je nach Situation und Forschungsinteresse. Im Regelfall nutzt der Ethnograf eine Kombination verschiedener Methoden, um bestmögliche Ergebnisse erzielen zu können. Die Nutzung multipler Datentypen erhöht die Komplexität des Forschungsgegenstands, da der Forschende unterschiedliche Blicke auf das Feld erlangt (Breidenstein et al. 2015, S. 34f.).

Zudem ist die Annahme von zentraler Bedeutung, „dass die meisten sozialen Ereignisse nicht singulär sind, sondern sich wiederholen. Dies entlastet Ethnografen von der Verpflichtung alles auf einmal zu dokumentieren“ (Breidenstein et al. 2015, S. 76).

Vor allem das Schreiben markiert dabei einen wichtigen Schritt im wissenschaftlichen Forschungsprozess.

4.1.4 Verschriftlichungsprozess

Die Besonderheit des Schreibens liegt darin, dass bereits im Notieren von Beobachtungen feldspezifische Phänomene sprachlich erschlossen werden. Viele Situationen liegen oft noch in keiner sprachlichen Form für den Beobachter vor, sodass diese erst durch die Beschreibung in Worte gefasst werden (Breidenstein et al. 2015, S. 35).

Ein Großteil der alltagsweltlichen, sozialen Wirklichkeit „existiert [...] unterhalb der Schwelle der Sprache. Viele soziale Phänomene sind nicht nur unaussprechlich, sondern stimmlos, sprachlos, stumm. Das aber heißt, sie müssen erst sozialwissenschaftlich zur Sprache gebracht werden“ (Breidenstein et al. 2015, S. 35). Gerade eigens durch den Beobachter verfasste Notizen sind hier von besonderer Bedeutung.

Diese basieren nicht auf Tonbandaufzeichnungen und stellen somit bloße Abschriften dar, vielmehr ist die eingesetzte „Beobachtersprache bereits hochgradig interpretativ, analytisch und kommunikativ gegenüber möglichen Lesern“ (Breidenstein et al. 2015, S. 36).

4.2 Methodik und Forschungsprozess

Beachtet man nun all diese Markenzeichen der Ethnografie, ergibt sich ein Grundgerüst anhand dessen die Forschungsarbeit betrieben werden kann. Das Vorgehen dieser Studie orientiert sich am Grundverständnis der Ethnografieforschung als rekursives Design mit zirkulären Zügen. Durch wiederkehrende Feldkontakte mit anschließenden Rückzugsphasen wurde der Zugang gewonnen und ein stetiger Zuschnitt auf spezifische Phänomene des Feldes ermöglicht.

Methodisch beschränkt sich diese Forschungsarbeit auf die teilnehmende Beobachtung, unterstützt durch einerseits Beobachtungsnotizen und andererseits Tonaufnahmen. Im Folgenden wird der explizite Umgang mit der teilnehmenden Beobachtung, den dabei entstehenden Notizen und der zusätzlichen Datengewinnung mittels Tonaufnahmen beschrieben (Breidenstein et al. 2015). Abschließend wird der analytische Prozess im Umgang mit Fallbeispielen kurz erläutert.

Unter ‚Beobachtung‘ lassen sich zunächst alle Wahrnehmungen fassen, die mittels der menschlichen Sinne aufzunehmen sind.

„Beobachten ist also die Nutzung der kompletten Körpersensorik des Forschenden: das Riechen, Sehen, Hören und Ertasten sozialer Praxis. Aber auch der soziale Sinn der Forscherin, ihre Fähigkeit zu verstehen, zu fokussieren, sich vertraut zu machen, fällt in ihre Aufnahmekapazität. Und schließlich gehört zu einer ethnografischen Beobachtungshaltung auch eine Distanzierung vom sinnlich Erfahrenen, die nach fortlaufender Explikation und Reflexion verlangt“ (Breidenstein et al. 2015, S. 71).

Die teilnehmende Beobachtung geht also davon aus, dass die Forschungsperson sich unmittelbar dem Feld und seinen Akteuren aussetzt. Dies bedeutet, dass die Person sich selbst, mit Körper und Geist, der Gesamtheit der Persönlichkeit und der eigenen sozialen Situation, in das soziale Feld hineinbegibt, um Daten zu gewinnen. Diese Kopräsenz und Gleichörtlichkeit des Forschenden mit den Akteuren des sozialen Feldes zeichnet die teilnehmende Beobachtung in besonderem Maße aus (Goffman 1996 Zitat nach Breidenstein et al. 2015, S. 40). Die hier beschriebene Gleichörtlichkeit zielt auf die Annahme ab, dass forschungsrelevante Phänomene sich nur in situativer Präsenz zeigen, „man nur als Anwesender in der Lage ist, die Selektionen nachzuvollziehen, die für die Teilnehmer relevant sind“ (Breidenstein et al. 2015, S. 40).

Jede erdenkliche soziale Situation lebt von aktiven Selektionsmechanismen. „Selektivität ist vielmehr eine Eigenschaft, die jedem sozialen Geschehen eigentümlich ist, eine Leistung, die alle Situationsteilnehmer routinemäßig voneinander erwarten“ (Breidenstein et al. 2015, S. 40). Diese Mechanismen sichtbar zu machen und zu zeigen, welche Handlungen (seien es sprachliche, figurative oder materialistische) die Individuen in entsprechenden Situationen auswählen und welche gleichzeitig abgelehnt werden, sind Aufgabe des teilnehmenden Beobachters. Deutlich wird hier bereits der Anspruch an den Beobachter, einerseits aktiv das Geschehen zu verfolgen und ein Teil der Situation zu sein (going native) und andererseits diese Beobachtungen festzuhalten. Der zweite Schritt der Distanzierung vom Geschehen (coming home), in der der Forschende sich von den Erfahrungen eines Teilnehmers befreit, nimmt eine ebenso grundlegende Position in der teilnehmenden Beobachtung ein, wie die Hingabe zum Feld (Breidenstein et al. 2015, S. 42).

Im Rahmen der wechselnden Näherung und Distanzierung vom Feld erhebt die Ethnografie den Anspruch, dass der Forschende seine Beobachtungen schrittweise forciert. In diesem Fall bedeutet Fokussierung, „dass die Wahrnehmung allmählich intensiviert, justiert und auf den Punkt konzentriert wird. Fokussierung kann dabei thematisch, zeitlich, räumlich oder personal angelegt werden“ (Breidenstein et al. 2015, S. 78).

Um die teilnehmende Beobachtung bestmöglich zur Datengewinnung nutzen zu können, sollten vier Maßnahmen zur Distanzierung umgesetzt werden. Zunächst sollten forschende Personen eine gefestigte professionelle Identität mit sich bringen, die dem Ethnografen erlaubt „auch in Feldern mit mächtigen Selbstbeschreibungen, hohem Konversionssog oder starken Vereinnahmungstendenzen einen kühlen sozialwissenschaftlichen Relativismus aufrechtzuerhalten“ (Breidenstein et al. 2015, S. 43). Ist diese Identität gesichert, stellt sich im Zuge des Feldkontaktes zunächst die Aufgabe eine für das Feld akzeptable Beobachterrolle zu etablieren. Diese sollte einerseits von jeglichen Handlungszwängen entlasten und andererseits Möglichkeiten der (Selbst-)Beobachtung und Dokumentation schaffen. Die dabei entstehende Verschriftlichung der Beobachtungen stellt bereits die dritte Maßnahme der Distanzierung dar. Die ständig erzeugten Notizen dienen als Protokolle und generieren somit Datenmaterial, welches anschließend weiter verarbeitet wird (Breidenstein et al. 2015, S. 43). Der vierte und damit letzte Schritt stützt sich auf das rekursive Design der Ethnografieforschung. Die „reflexive analytische Durchdringung“ der eigenen Erfahrungen beruht auf den „rhythmischen Unterbrechungen der Präsenz im Forschungsfeld durch Phasen des Rückzugs [...]: Dem going native ist ein coming home entgegenzusetzten“ (Breidenstein et al. 2015, S. 44).

Mit den bereits erwähnten Beobachtungsnotizen, die der Forschende im Rahmen des Feldaufenthaltes anfertigt, gehen bestimmte grundsätzliche Annahmen einher. Zunächst ist das Anlegen von Notizen „eine elementare Dokumentationstätigkeit mit vergleichsweise primitiver Technik: Stift und Notizblock“ (Breidenstein et al. 2015, S. 86). Zudem ist schon durch die Annahme von ständig stattfindenden Selektionsprozessen in sozialen Interaktionen davon auszugehen, dass auch der Forschende aus einer Vielzahl beobachtbarer Phänomene die für ihn zunächst relevantesten auswählt und festhält. Diese Selektivität ist „oft eine unverzichtbare Leistung von Notizen: der fokussierende Beobachter kann auch in Situationen sinnvolle Notizen machen, wo das Tonbandgerät nur überkomplexes und unverständliches Material liefern würde“ (Breidenstein et al. 2015, S. 87). Dieses Phänomen der Hyperkomplexität der gewonnenen Daten lässt sich auch gerade auf diese Studie anwenden. In einer Situation mit Frontalunterricht, in der die Lehrkraft Informationen präsentiert und Schülerinnen und Schüler geordnet darauf reagieren, lassen sich Tonmitschnitte sehr wohl nutzen. Sobald dieser Unterricht jedoch zu Gruppenarbeitsphasen mit zahlreichen, verschiedenen Unterhaltungen wechselt, ist ein Aufnahmegerät nicht mehr in der Lage relevante von irrelevanten Phänomenen zu unterscheiden.

Auch für den Beobachter ist es zunächst oft nicht leicht auszumachen, welche Phänomene für die Forschungsarbeit gegebenenfalls relevant sind und welche im späteren Verlauf möglicherweise an Relevanz verlieren. Aufgrund dieser Tatsache lautet die „Maxime früher Beobachtungsphasen [...]: im Zweifelsfall aufschreiben“ (Breidenstein et al. 2015, S. 89). Beschreibungen in solch frühen Momenten der Forschungsarbeit strukturieren spätere Schritte bereits vor und helfen dabei herauszuarbeiten, welche Ereignisse, Individuen und Situationen größerer Aufmerksamkeit bedürfen (Breidenstein et al. 2015, S. 89).

In dieser Studie wurden neben Feldnotizen zudem Tonmitschnitte ausgewertet. Diese „ Gesprächsmitschnitte etwa sind unverzichtbar, wenn man sich für Kommunikationsprozesse in einem Feld interessiert“ (Breidenstein et al. 2015, S. 90). Ein Beobachter ist zwar in der Lage Situationen beschreibend festzuhalten, oft fehlt jedoch die Zeit exakte Wortwechsel zu konservieren. Diese Aufgabe können Aufnahmen übernehmen, indem „soziale Ereignisse zeitgleich, detailreich und relativ deutungsfrei“ (Breidenstein et al. 2015, S. 90) festgehalten werden. So kann zur späteren Datenanalyse wiederholt auf diese Aufzeichnungen zurückgegriffen werden. Diese Form der Entlastung der körpereigenen Beobachtungskapazität erleichtert es dem Forschenden, sich auf die Gegebenheiten des Feldes einzustellen (Breidenstein et al. 2015, S. 90).

Doch auch das durch Tonaufnahmen generierte Datenmaterial bedarf einer Angleichung an die Schriftlichkeit der anderen Datenformen. Daher werden Tonaufnahmen überwiegend transkribiert (Breidenstein et al. 2015, S. 91).

Im Prozess dieser Studie wurden dabei nicht alle Aufnahmen in ihrer Vollständigkeit in schriftliches Datenmaterial umgewandelt. Nur die für ausgewählte Fallbeispiele notwendigen Sequenzen wurden verschriftlicht und so für die Auswertung handhabbar gemacht. Die Analyse der ausgewählten Fallbeispiele erfolgte mithilfe des Theoriemodels der Grounded Theory (GT). Unter Berücksichtigung der theoretischen Sensibilität wurden die Beobachtungssequenzen kodiert und kleinschrittig analysiert. Dieses Vorgehen wird im nächsten Abschnitt kurz umrissen.

4.2.1 Grounded Theory – Exkurs zur Datenanalyse

Die Grounded Theory (GT), begründet von Anselm Strauss und Barney Glaser, stellt einen qualitativ-sozialwissenschaftlichen Ansatz in der Forschung dar, der zur systematischen Sammlung und Auswertung von Daten herangezogen wird (Breuer et al. 2019). Dieser ist nicht expliziter Bestandteil der Ethnografieforschung, wird jedoch in dieser Arbeit zur Auswertung der Daten herangezogen.

Für die hier vorliegende Arbeit ist im Besonderen das Kodierverfahren nach der GT von Bedeutung, wie auch der Begriff der theoretischen Sensibilität. Diese zwei ineinandergreifenden Grundgedanken und Vorgehen in der Grounded Theory werden folgend näher bestimmt.

Der Ansatz der GT stützt sich, wie der Name bereits sagt, auf eine gewisse Bodenständigkeit, das sogenannte Prinzip des Grounding. Die Daten-Begründetheit der GT erwartet, dass theoretische Strukturen im Auswertungsprozess direkt, also ungefiltert, aus den erhobenen Daten hervorgehen sollen (Breuer et al. 2019, S. 160). Der Begriff der theoretischen Sensibilität bringt hier jedoch einen weiteren Faktor in die Auswertung hinein. So soll die Auswertung zwar einerseits datengebunden vollzogen werden, andererseits erfolgt durch die Deutung der Daten ein Hineintragen bestimmter „ vorgängiger Konzepte, Schemata, Strukturen, Annahmen, Theorien etc.“ (Breuer et al. 2019, S. 160). Für dieses Hineinbringen schon vorherrschender Überzeugungen und Annahmen ist nun die theoretische Sensibilität essentiell. Das „Vorhandensein eines Deutungshintergrunds als erforderliche Voraussetzung der Forschenden“ (Breuer et al. 2019, S. 160) darf nicht unhinterfragt, also nicht ohne reflexive Betrachtung erfolgen. „Im Begriff der theoretischen Sensibilität manifestiert sich gewissermaßen die logische Paradoxie des Grundgedankens der Grounded Theorie “ (Breuer et al. 2019, S. 160).

In der Auswertung muss folglich gewährleistet werden, dass die gewonnenen Informationen aus den erhobenen Daten hervorgehen und eventuell vorliegende Präkonzepte des Forschenden reflektiert behandelt werden.

Das Kodierverfahren als Herzstück der Grounded Theory geht daher nach einem genauen Prinzip vor, um die theoretische Sensibilität zu sichern.

„Die Grundidee dabei ist die des sehr genauen Betrachtens, In-Augenschein-Nehmens und Interpretierens der Daten, um daraus abstrakte/theoretische Konzepte zu gewinnen, zu destillieren. Das geschieht mit offenem Blick – wenn auch nicht ohne präkonzeptuell geprägte theoretische Sensitivität, die im Idealfall selbst-reflexiv durchgearbeitet wurde und fortlaufend mit begleitender Aufmerksamkeit bedacht wird“ (Breuer et al. 2019, S. 248f.).

Ausgangspunkt dieser Analyse stellen die erhobenen Daten dar, die bereits versprachlicht, also verschriftlicht in Form von Protokollen und Transkripten vorliegen. Einzelne Textabschnitte werden in einem detaillierten Vorgehen in Kodes und Kategorien sortiert. Die so entstehenden Bausteine „werden in Folgeschritten im Detail analysiert, hinsichtlich ihres theoretischen Bedeutungsgehalts elaboriert, verdichtet und zueinander in Beziehung gesetzt“ (Breuer et al. 2019, S. 249). So entsteht ein gegenstandsbezogenes, systematisches Gesamtmodell.

Das Kodieren kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Beispielsweise können bereits bestehende Kategoriensysteme auf den Datensatz angewandt werden. In der Grounded Theory-Methode hingegen bestehen zu Beginn des Kodierungsprozesses noch keine Kategorien. Diese „werden erst im Laufe des Auswertungsschritts gefunden, erfunden, konstruiert und ausgearbeitet“ (Breuer et al. 2019, S. 249). Die Kategorienbildung folgt zweierlei Grundprinzipien. Zum einen sollen sie datengetrieben, also im bottom-up Prozess gebildet werden. Zum anderen erfolgt eine kritisch-systematische Auseinandersetzung im top-down Prozess, indem bereits vorliegendes Wissen auf den Datensatz angewandt wird (Breuer et al. 2019, S. 252). Gerade in der Anfangsphase der Kodierung sollte „dem Assoziationsfeld, den eigenen gedanklichen Spielräumen und dem kreativen (Gruppen-) Prozess möglichst wenige Grenzen gezogen werden“ (Breuer et al. 2019, S. 251). So können auch zunächst irrelevant oder eher abwegig erscheinende Interpretationen neue Blickweisen auf die Daten eröffnen (Breuer et al. 2019, S. 251). Diese Auseinandersetzung mit dem empirischen Material stellt die Grundlage der kognitiven Aufarbeitung dar, sodass „einzelfallübergreifende, verallgemeinernde, typisierende Charakteristika ge-/ erfunden und sprachlich benannt werden“ (Breuer et al. 2019, S. 251). Bei der Formulierung der Kategorien ist von besonderer Bedeutung, dass diese nicht aus Paraphrasierungen der erhobenen Daten geformt werden. Stattdessen sind Begriffe zu wählen, die ein allgemeineres oder gar abstrakteres Niveau erfassen, als aus den Daten hervorgeht (Breuer et al. 2019, S. 251f.).

4.3 Umsetzung in der vorliegenden Studie

Der Ansatz der Ethnografieforschung zur Erhebung der Daten, kombiniert mit dem Auswertungsvorgehen der Grounded Theory, stellen die methodische Basis der nachfolgenden Studie dar. In mehreren Feldkontakten wurden zunächst Beobachtungsnotizen während der teilnehmenden Beobachtung im Unterricht einer vierten Klasse erstellt, Tonbandaufnahmen zur Fixierung von Aussagen angelegt und so der zugrundeliegende Datensatz erhoben. Der Feldkontakt bezog sich hierbei auf die Gesamtheit aller Unterrichtsfächer in der vierten Klasse entsprechend des Stundenplans (Anhang S. II). Teilweise wurden ganze Schultage der Klasse begleitet. In manchen Fächern, wie beispielsweise Sport und Deutsch, erfolgten jedoch auch Einzelbesuche, ohne die vorherigen und nachfolgenden Geschehnisse zu berücksichtigen.

Die Übersetzung der Notizen hin zu den im Anhang befindlichen Beobachtungsprotokollen erfolgte in Kombination mit den festgehaltenen Tonaufnahmen. In für die Auswertung relevanten Situationen wurden Gespräche exakt transkribiert, um den Verlauf der Interaktion so genau wie möglich darstellen und anschließend analysieren zu können.

Bei der Analyse der Differenzierungsprozesse im Unterrichtsgeschehen der vierten Klasse der untersuchten Grundschule ergaben sich einige Phänomene, die im nachfolgenden Kapitel im Detail dargestellt werden. Diese handlungsgesteuerten Differenzierungsprozesse werden kritisch betrachtet, um das Handeln der Lehrenden anschließend reflektieren zu können.

Aus Datenschutzgründen sind sämtliche Namen vorkommender Personen und Einrichtungen geändert, sodass keinerlei Rückschlüsse erfolgen können.

5 Humandifferenzierung im Unterrichtsgeschehen

Wie bereits in den in Kapitel 2.1 kurz dargestellten Studien, erweisen sich Prozesse der Humandifferenzierung, also des doing und undoing von Differenzen im pädagogischen Kontext, als eine große Komponente des Lehrerhandelns. Diese Humandifferenzierungsprozesse können oft unreflektiert erfolgen und nicht als Teil der Unterrichtsplanung mitgedacht sein. Ziel dieser Studie ist es, einige dieser Phänomene aufzudecken und ihre Entstehung samt ihrer Einflussfaktoren im Detail zu analysieren, um einen anschließenden reflektierten Umgang mit ihnen zu ermöglichen.

Dieses Kapitel wird zunächst das untersuchte Feld und dessen Grundverständnis näher beschreiben, um sich anschließend mit einigen konkreten Differenzierungsphänomenen zu befassen.

5.1 Das Feld und seine Rahmenbedingungen

Im Rahmen der Studie wurde eine mehrwöchige Datenerhebung in einer vierten Klasse einer Göttinger Grundschule vorgenommen. Die Schule selbst fasst etwa 100 Schülerinnen und Schüler und elf Lehrkräfte. Grundsätzlich lässt sich ein sehr gemischtes Kinderklientel vorfinden. Sowohl Kinder, deren Familien seit Jahren im Ortskreis wohnen, als auch Kinder aus Familien mit Flüchtlings- oder Migrationshintergründen, Kinder mit Lernschwierigkeiten, als auch Kinder mit hoher Begabung werden hier parallel unterrichtet, spielen und sozialisieren sich gemeinsam in den Pausenzeiten.

[...]


[1] Der Titel des Dissertationsprojekts lautet: „Anforderungsambiguitäten und Umgangsstrategien von Lehrerinnen und Lehrern mit selbst- oder fremdzugeschriebenem Migrationshintergrund.

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
(Un-)Doing Differences im Unterricht
Untertitel
Eine ethnografische Studie
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,8
Autor
Jahr
2019
Seiten
98
Katalognummer
V508013
ISBN (eBook)
9783346081193
ISBN (Buch)
9783346081209
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Differenzierung, doing differences, Studie, Humandifferenzierung, Schule, Grundschule, Interaktion
Arbeit zitieren
Lisa Donath (Autor:in), 2019, (Un-)Doing Differences im Unterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/508013

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