Das "unrettbare Ich" als Motiv in der Wiener Moderne?

Eine Analyse anhand Hermann Bahrs "Dialog vom Tragischen"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

13 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Der zeitliche Kontext der Wiener Moderne
2.2. Ernst Machs Begriff des „unrettbaren Ichs“
2.3. Der Einfluss des „unrettbaren Ichs“ auf die zeitgenössische Literatur
2.3.1. Hermann Bahr: „Das unrettbare Ich“

3. Schluss

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ende des 19. Jahrhunderts erlebten große Teile der Wiener Kultur und Gesellschaft einen bedeutenden Aufschwung. Die Wiener Moderne steht dabei bezeichnend für die großen Veränderungen und Fortschritte in der Politik, den Wissenschaften, aber vor allem auch in der Kunst und der Literatur. Der zeitliche Kontext spielt eine entscheidende Rolle, um zu verstehen, inwiefern Autoren und Literaten von den aufkommenden Strömungen in Ihrem Schaffen beeinflusst wurden. Daher werde ich diesen zu Beginn meiner Arbeit kurz erläutern. Unter anderem erlangten auch die Psychoanalyse und die Vorstellung eines „Ichs“, welches die Welt als eine Vielzahl von subjektiven Empfindungen wahrnimmt, eine große Bedeutung für viele junge Künstler. Viele Untersuchungen haben sich bisher mit der Psychoanalyse Freuds beschäftigt, von der ich das Thema dieser Arbeit bewusst abgrenzen möchte.

Der Begriff des „unrettbaren Ichs“, den der Physiker Ernst Mach in seiner „Analyse der Empfindungen“ im Jahr 1885 eingeführt hat, fasst die zeitgenössische Betrachtungsweise der Welt treffend zusammen. Diese Arbeit soll untersuchen, ob und wenn ja, inwiefern der Begriff des „unrettbaren Ichs“ als Motiv der Wiener Moderne betrachtet werden kann. Dazu wird Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen herangezogen. Ich werde dabei auch den Einfluss dieses Begriffs auf die Literatur der Zeit beleuchten, in der häufig Aspekte der Empfindungstheorie Machs wiederzufinden sind.

2. Hauptteil

2.1. Der zeitliche Kontext der Wiener Moderne

Wien erlebte um 1900 eine kulturelle Entwicklung, die die Literatur Österreichs und Europas nachhaltig prägen sollte. In der Literatur, der bildenden Kunst, sowie durch das aufkommende Medium Film entstand eine Vielfalt an neuartigen Werken, die vor dem Hintergrund etlicher politischer und gesellschaftlicher Veränderungen geschaffen wurden.

Das Österreich der Jahrhundertwende wurde durch zahlreiche Krisen zerrüttet. Die Niederlage gegen Preußen im Deutschen Krieg 1866 und die neu entstandene Doppelmonarchie Österreich-Ungarn standen dem Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat gegenüber. Auch der Antisemitismus verbreitete sich immer mehr und konnte sich in Wien in weiten Teilen der Gesellschaft etablieren. Bedenkt man, welch eine Unsicherheit und Skepsis in der Bevölkerung geherrscht haben muss, resultierend aus dem Misstrauen gegenüber Politik und Regierung, ist es umso bemerkenswerter, welch herausragende Texte diese Epoche hervorgebracht hat. Ingo Irsigler erklärt dies unter anderem so: „Darüber hinaus führte die politische Krisenzeit nicht nur zur Abwendung der Bürgerinnen und Bürger von der Politik, sondern zu einer gleichzeitigen Hinwendung zur Kultur“[1]. Die krisenhafte Gesamtsituation wird hier also sogar als gewissermaßen fördernd für die kulturelle Weiterentwicklung gesehen. Die damalige repressive Ausstellungspolitik trug ebenso dazu bei, dass viele junge Künstler sich gegen die vorherrschenden konservativen Werte auflehnten, was schließlich zur Gründung der Wiener Secession führte.

Auch der technische Fortschritt, der mit einem Wachstum der städtischen Bevölkerung einherging, war für die Menschen neuartig und unbekannt. Das städtische Leben war schnell, hektisch und führte durch ständig neue Sinneseindrücke zu einer Reizüberflutung. Dazu stand im Gegensatz das Ich als Individuum, welches in der kollektiven Masse unterzugehen drohte. Die inneren Vorgänge und Empfindungen des Subjekts kontrastierten mit den äußeren Eindrücken der Großstadt Wien, die das Individuum zu überfordern schienen. Dirk Niefanger bringt diesen Konflikt treffend auf den Punkt:

„Viele Phänomene begünstigen, daß [sic!] der Heimatverlust in der Moderne besonders bemerkbar wird und als geradezu kennzeichnendes Raumgefühl Eingang in die Diskurse der Moderne findet. Zu nennen ist die gesteigerte Mobilität […], der rasche Umbau der Städte, die Urbanisierung […]“[2].

Es wird also deutlich, dass die zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Konflikte maßgebend waren für das Aufkommen moderner Strömungen in Österreich und speziell in Wien. Im nächsten Abschnitt soll nun der Aspekt des krisenhaften Identitäts- und Ich-Begriffs anhand Ernst Machs Untersuchungen genauer erörtert werden.

2.2. Ernst Machs Begriff des „unrettbaren Ichs“

„Das Ich ist unrettbar. […] Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können“[3]. Zu dieser Erkenntnis gelangt der Physiker Ernst Mach 1885 in seiner „Analyse der Empfindungen“, in der er das Ich als eine unbeständige Summe von Empfindungen beschreibt. Aber warum ist das Ich deshalb unrettbar?

Für Mach ist das Ich kein Subjekt mit einer stabilen Identität, sondern es ist wandelbar. Uns erscheint es nur so, als wäre das Ich von beständiger Natur, da die Wandlung sich nur langsam vollzieht. Im Grunde ist das Ich als ein Komplex von Empfindungen, Gedanken und Gefühlen, kurz, von inneren Vorgängen, zu verstehen. Als sogenannte Elemente bezeichnet Mach jene inneren und äußeren Empfindungen, aus denen sich Körper und Ich zusammensetzen: „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). […] Die Elemente bilden das Ich“[4]. Das Ich ist also deshalb unrettbar, weil es aufgrund seiner sich fortlaufend wandelnden Bestandteile jegliche Kontinuität und Ich-Identität abgesprochen bekommt. Unterschiede verschiedener Subjekte bestehen einzig in der verschiedenen temporären Zusammensetzung der Elemente und in den persönlichen Erinnerungen, durch die wir uns an unser vorheriges Ich erinnern können. Machs Auffassung des Ichs ist augenscheinlich durch eine Dynamik geprägt, die sich auch in den Erkenntnismöglichkeiten des Subjekts wiederfindet: Wir können ausschließlich durch unsere Sinnesorgane zu Erkenntnissen über die Welt gelangen, die ebenfalls auf Empfindungen beruhen, denn Mach unterscheidet nicht zwischen inneren und äußeren Vorgängen[5].

Die Empfindungstheorie Machs und die darin konstatierte Ich-Krise waren nicht nur ein bedeutender Beitrag zur zeitgenössischen Forschung, sondern sie manifestierten sich außerdem sowohl in der Kunst, als auch in der Literatur. Das „unrettbare Ich“ kann also als eine Thematik beziehungsweise als ein Motiv bezeichnet werden, welches die Stimmung in der damaligen Gesellschaft prägnant beschreibt. Dazu schrieb Werner Jung Folgendes:

„In Wissenschaft, Kunst und Literatur kommt es […] zu Inszenierungen des Abschieds: vom Ich, das sich in Stimmungen verflüchtigt und somit unrettbar geworden ist (Ernst Mach), das nur mehr als ein Fragment erscheint (S. Freud) und in eine gewaltige Krise der Erkenntnis und der Ausdrucksfähigkeit (Hugo v. Hofmannsthals Chandos-Brief) gestürzt worden ist“[6].

Wichtig ist hier, dass Machs Theorie nicht gleichbedeutend mit der Psychoanalyse Freuds verstanden wird. Die Psychoanalyse ist eine psychologische Theorie und Behandlungsform, während sich die hier untersuchte Theorie des Physikers Mach mit Empfindungen und Wahrnehmungen befasst.[7] Sowohl Freud, als auch Mach erlangten durch ihre Lehren große Berühmtheit. Das Innenleben der Menschen rückte weiter in den Fokus der Betrachtungen und fand wie erwähnt bei vielen Autoren Einzug in deren Schaffensprozess. Joachim Thiele schreibt Mach deshalb eine bedeutende Rolle zu:

„Im Österreich der Jahrhundertwende wurde Mach als ein Autor geschätzt, dem es gelungen war, Empfinden und Geisteshaltung der Epoche exakt wiederzugeben. In der ‚Analyse der Empfindungen‘ fanden viele ihre eigenen Auffassungen über den Zusammenhang der Dinge der Umwelt und die Rolle des Ich ausgedrückt“[8].

[...]


[1] Irsigler, Ingo u. Orth, Dominik: Einführung in die Literatur der Wiener Moderne. 1. Aufl. Darmstadt: wbg Academic, 2015, S. 8.

[2] Niefanger, Dirk: Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Bd. 128. 1. Aufl. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1993, S. 251.

[3] Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 9. Aufl. Jena: Gustav Fischer Verlag, 1922, S. 20.

[4] Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 9. Aufl. Jena: Gustav Fischer Verlag, 1922, S. 19.

[5] vgl. Irsigler, Ingo u. Orth, Dominik: Einführung in die Literatur der Wiener Moderne. 1. Aufl. Darmstadt: wbg Academic, 2015, S. 51.

[6] Jung, Werner: Das Ich im Schnittpunkt der Erinnerung. In: Literatur als Geschichte des Ich. Hrsg. von Eduard Beutner u. Ulrike Tanzer. 1. Aufl. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2000, S. 336.

[7] Hier könnte in einer weiteren Arbeit genauer darauf eingegangen werden, inwiefern sich die Psychoanalyse Freuds und Machs „Analyse der Empfindungen“ unterscheiden. Dies würde hier jedoch zu weit führen.

[8] Thiele, Joachim: Zur Wirkungsgeschichte der Schriften Ernst Machs. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 20/1966, H.1, S.118-130.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Das "unrettbare Ich" als Motiv in der Wiener Moderne?
Untertitel
Eine Analyse anhand Hermann Bahrs "Dialog vom Tragischen"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
2,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
13
Katalognummer
V508613
ISBN (eBook)
9783346068514
ISBN (Buch)
9783346068521
Sprache
Deutsch
Schlagworte
motiv, wiener, moderne, eine, analyse, hermann, bahrs, dialog, tragischen, Wiener Moderne, Unrettbare Ich, Hermann Bahr
Arbeit zitieren
Emanuel Arzig (Autor:in), 2018, Das "unrettbare Ich" als Motiv in der Wiener Moderne?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/508613

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