In dieser Ausarbeitung wird die Bedeutung von Märchen für Kinder thematisiert. Märchen fungieren als Spiegel des menschlichen Lebens, dessen Bilder uns ein gewisses Bewusstsein über fremde und eigene Ansichten und mit der Welt einhergehende Beziehungen gestatten. Dahingehend erfahren wir Märchen, explizit im Kindesalter, als „Recht und Unrecht in extremer Form“ , indem wir unter Einbezug unseres Gedächtnisses, der Phantasie, Moral, Bildung und Erfahrung das Wesen des Märchens zu begreifen versuchen.
Dahingehend lässt sich sagen, dass jedes Märchen eine Moral impliziert, welche an das individuelle Lebens- und Weltverständnis appelliert und zur Herausbildung ethischen Bewusstseins beiträgt. Dabei gilt es das Phantastische des Märchens in voller Gänze zu durchdringen, sodass die eigentliche Geschichte einen Erfahrungsraum der Wertevermittlung und emotionaler Mimesis eröffnet und individuelle Lebensweisheiten, Dilemmata und Sehnsüchte zu bündeln versucht.
Kinder brauchen Märchen.
Bruno Bettelheim
Märchen fungieren als Spiegel des menschlichen Lebens, dessen Bilder uns ein gewisses Bewusstsein über fremde und eigene Ansichten und mit der Welt einhergehende Beziehungen gestatten. Dahingehend erfahren wir Märchen, explizit im Kindesalter, als „Recht und Unrecht in extremer Form“ 1, indem wir unter Einbezug unseres Gedächtnisses, der Phantasie, Moral, Bildung und Erfahrung das Wesen des Märchens zu begreifen versuchen. 2 Dahingehend lässt sich sagen, dass jedes Märchen eine Moral impliziert, welche an das individuelle Lebens- und Weltverständnis appelliert und zur Herausbildung ethischen Bewusstseins beiträgt. Dabei gilt es das Phantastische des Märchens in voller Gänze zu durchdringen, sodass die eigentliche Geschichte einen Erfahrungsraum der Wertevermittlung und emotionaler Mimesis eröffnet und individuelle Lebensweisheiten, Dilemmata und Sehnsüchte zu bündeln versucht. „Märchen werden [jedoch, H.F.] nicht als sie selbst gelesen, sondern als ‚Symbole’ interpretiert, die nicht für sich sprechen, sondern für etwas anderes einstehen.“ 3 Gewisse, die Lebenswelt der Rezipient/innen betreffende, symbolische Verwendungen, zeichnen sich meist durch tiefere Bedeutungen aus und werden dahingehend gezielt eingesetzt. Auf diese Weise können sie bestimmte Strukturen und Wahrnehmungen hervorbringen, die sich ausschlaggebend auf die Erfahrungswelt der Kinder auswirkt. Die Symbolsprache der Märchen muss somit als ein Ausdruck der inneren Gefühlswelt, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gedanken begriffen werden, welche alle Menschen in einem Merkmal vereint: dem Suchen nach einer sinnhaften, wertvollen Wahrheit. 4 Ein Wert ist in einem weiten Sinne zu begreifen: er kann sowohl eine Tugend, eine Pflicht, sowie eine ethische Idee oder Weltanschauung sein. Max Scheler behauptet, „Werte seien keine Eigenschaften von Dingen oder Menschen, obwohl sie an Dingen und Menschen angetroffen werden“ 5, sondern sind „klare, fühlbare Phänomene.“ 6 Dahingehend ist die Materie eines Wertes eine durch innere Anschauung erfühlte, objektive Qualität, welcher dann Apriorität zukommt, wenn sie in irgendeiner Weise verwirklicht wird. Die Erschließung von Märchen auf ganzheitlicher Basis geht dabei mit der Wertevermittlung einher und fokussiert des Weiteren die Anregung und den Einbezug der Phantasie der Kinder. „Phantasien stammen aus den innersten Schichten der Seele, dort, wo unsere tiefsten und geheimsten Sehnsüchte und Ängste leben.“ 7 Sie stellen sich als eine charakteristische Form der Geistesfähigkeit eines Menschen heraus, indem sie psychische Realitäten herausbilden. Dabei bewegt sich das Phantasieren ständig zwischen Träumen und hellwachem Bewusstsein. Diese Zustände ermöglichen den Prozess der Selbstbeobachtung anhand seitheriger Erfahrungen inkludierenden, nicht zwingend der Realität entsprechenden Vorstellungen. Dabei schaffen wir mit der Phantasie immer wieder neue Wirklichkeiten, die sowohl gefühlvoll, intuitiv als auch empfindend sind. 8
Sie, [die Phantasietätigkeit, H.F.], ist die faszinierende Möglichkeit, psychische Realitäten im subjektiv erlebten ‚Innenraum’ zu konstruieren und das, was wir im Außen als Realität erleben, zu transformieren und in Gedanken spielerisch probierend zu verändern.9
Die Erschließung der Welt tritt also durch den Einsatz an Phantasie, Ideen und schöpferischen Kräften, sowie durch das konstruktive Weiterentwickeln von Wertvorstellungen in Kraft. Märchen bilden sich demnach als mimetische Erzeugnisse der menschlichen Phantasie heraus. Hierbei ist aber nicht nur die Rede von unser materiellen, sondern auch der mentalen Welt der Erfahrungen und der uns meist unbewussten Welt der Handlungsmotive. 10 Mimetische Handlungsweisen beschreiben ein gewisses Verständnis und die Verkörperung der umgebenden Welt. Dabei nimmt der Begriff Mimesis Bezug auf die „Nachahmung der Handlungen einer Person durch eine andere.“ 11 Daraus resultierend versucht der Mensch aus beobachteten Verhaltens- und Handlungsweisen Bezüge zum Vorbild und seiner eigenen Person herzustellen, sodass die Mimesis „Brücken zwischen Innen und Außen, auf denen ein Hin und Her, eine lebendige Bewegung möglich wird“ 12 schlägt und somit fundamental die Orientierung an Anderen, die Selbstgestaltung und die soziale Verbundenheit beeinflusst. Dahingehend herrscht oft die Meinung vor, dass die Bildung von Kindern über die kreative Nachahmung von Verhaltensweisen erfolgt. Gerade durch Märchen werden vermeintlich positiv oder negativ beladene Verhaltens- und Handlungsweisen kolportiert, welche von den Kindern auf das eigene Leben übertragen, angenommen, nachgeahmt oder abgelehnt werden. Dabei überlässt das Märchen „es der Phantasie des Kindes, ob und wie es das, was die Geschichte vom Leben und vom Wesen des Menschen erzählt, auf sich selbst beziehen will.“ 13 Aus jenen Märchen, die den prinzipiellen Gedankengängen der Kinder entsprechen, können wertvolle Überzeugungen und einhergehende Bezüge für das Weltverständnis geschöpft werden.
Das Märchen sei in großem Maße das Ergebnis allgemein bewußter und unbewußter Inhalte, geformt vom Bewußtsein nicht eines bestimmten Menschen, sondern vieler Menschen, die darin übereinstimmen, was sie als universelle menschliche Probleme und als wünschenswerte Lösungen sehen. 14
Eine besondere und notwendige Vermittlungsposition von Selbsterkenntnis und Weltverständnis innerhalb der Märchen nimmt das Wunderbare bzw. das Zauberhafte ein. Dabei gilt die Zauberei als etwas Unerreichbares und Mächtiges, wodurch plötzlich Personen versteinert werden, die Prinzessin aus dem hundertjährigen Schlaf erwacht oder Tiere sich in Menschen verwandeln.15 Über den Spaßfaktor hinausgehend und eher eine psychologische Sicht einnehmend, bildet das Zauberhafte die Voraussetzung zum Phantasieren und dem Erkennen einer anderen wundersamen Wirklichkeit. Anhand des Glaubens an Märchen und dessen Übersinnlichkeit, können die Kinder ihr Phantasievermögen intensiver ausschöpfen und verstärkter verschiedene Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten imaginieren. „Eine freie Phantasie bleibt nicht in der Destruktivität stecken, sondern sucht nach Möglichkeiten der Veränderung und nach Wegen zum Handeln.“ 16 Dadurch entwickelt sich ethisches Bewusstsein, welches nicht nur Mitleiden, Hinwendung oder Vertrauen mit sich zieht, sondern auch einen gewissen Perspektivwechsel auslöst und etwas zum seelischen Gleichgewicht der Kinder beiträgt. „Für sie sind die Märchen leibhaftige Wirklichkeit. (...) So können [sie, H.F.] ihre Weltsicht bestätigen und damit Sicherheit und Orientierung geben.“ 17 Märchen fördern also die Persönlichkeitsentwicklung und sind für Kinder insofern bedeutsam, indem sie Berührungspunkte mit Wahrheiten und Problemen schaffen, Identifikationsangebote und Interpretationsspielraum bieten, sowie eine kathartische Wirkung, durch das stellvertretende intrinsische Entwickeln einer Figur, erzielen.18 Die zentrale Position innerhalb eines Märchens nimmt demnach die Aufgabe ein „sich aus kindlicher Passivität und Unmündigkeit zu befreien, in der Verwirklichung der Eigenständigkeit den göttlichen Entwurf zu spüren und sein Leben neu auszurichten.“ 19 Ein ermutigendes Beispiel für die aktive Bewältigung vorherrschender Schwierigkeiten und das Erfahren von Zuversicht und Vertrauen unter Einbezug der Realität des Lebens ist „Der Froschkönig“. Das Märchen gilt als ein Paradebeispiel der Schilderung der Reifung anhand des Identifikationsobjekts der Königstochter. Hierbei entspricht die goldene Kugel der Welt der Kindheit, des Spiels, der Unschuld und dem Gleichgewicht aller Kräfte. Diese kindliche Umgebung kehrt sich im Laufe des Märchens, anhand eines Vorgangs der Ablösung und einer Entwicklung der Persönlichkeit, zum Erwachen des Selbst.
Der Verlust der Kugel bedeute, daß der Königstochter die kindliche Welt und der Lebenssinn entglitten seien, anstelle von Harmonie träten Spaltung und Zerrissenheit. Die Suche nach der Kugel bedeute das Bemühen um Erkenntnis. Die Tochter werde unter dem Druck der Forderungen des Frosches zum ersten Mal aktiv und leiste die Auseinandersetzung mit der Welt und ihrem Gegenüber.20
Die Mimesis des Märchens unterstützend, werden innerhalb der Geschichte zentrale Werte und eine Moral kolportiert, welche an das direkte Lebens- und Weltverständnis der Lesenden appelliert und einen Erfahrungsraum der Wertevermittlung eröffnen. Die im Froschkönig vermittelten ethischen Werte sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, die sich substanziell an die vermittelte Moral „Was du versprochen hast, musst du auch halten“ koppeln. Hierbei nimmt der König die Erzieherrolle des Identifikationsobjektes ein, indem er die Gewissensbildung der Königstochter durch das Hervorbringen einer Moral positiv beeinflusst. Die Schlüsselszene des „Froschkönigs“ bildet jene, in der die Königstochter den Froschkönig mit in ihr Bett lassen soll und sich Wut, Zorn und
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1 Awersson, Olga: Märchen. Vermittler von Selbsterkenntnis und Weltverständnis. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2006, S. 33.
2 vgl. Karimi, Edith: Mimetische Bildung durch Märchen. Phantasie, Narration, Moral. Münster: Waxmann Verlag GmbH 2016, S. 11.
3 Kaminski, Winfrid: Vom Zauber der Märchen. Ein pädagogischer Leitfaden zu den Sammlungen der Brüder Grimm. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1997, S. 95.
4 vgl. Schieder, Brigitta: Märchen. Nahrung für die Kinderseele. Einführung in den ganzheitlichen Umgang mit Märchen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996, S. 13.
5 Pieper, Annemarie: Einführung in die Ethik. 6. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag 2007, S. 244.
6 ebd.
7 Heger, Prof. Dietmar: Überlegungen zu: Phantasie in der Entwicklung. In: Märchen in Erziehung und Unterricht heute. Band 2. Didaktische Perspektiven. Hohengehren: Schneider Verlag Hohengehren 1997, S. 59.
8 vgl. ebd. , S. 66-68.
9 ebd., S. 69.
10 vgl. Karimi 2016, S. 11.
11 ebd., S. 20.
12 ebd., S. 21.
13 Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, S. 56.
14 Lange, Günter (Hrsg.): Märchen. Märchenforschung. Märchendidaktik. Band 2. Hohengehren: Schneider Verlag Hohengehren 2004, S. 98.
15 vgl. Awersson 2006, S. 29.
16 ebd, S. 31.
17 Lutz, Christiane: Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 89.
18 vgl. Geister, Oliver: Kleide Pädagogik des Märchens. Begriff-Geschichte-Ideen für Erziehung und Unterricht. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013, S. 93-94.
19 Lutz 2016, S. 96.
20 Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm. Entstehung-Wirkung-Interpretation. Berlin: de Gruyter 2008, S. 5.
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- Helene Fraas (Author), 2019, Die Bedeutung von Märchen für Kinder. Wie tragen sie zum Aufbau einer Identität bei?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/511392
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