Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
1. Thematische Einleitung
2. Methodik, Aufbau und Ziele dieser Arbeit
II Abriss über den Drogengebrauch im Kulturvergleich
1. Alkohol
2. Opium
3. Marihuana
III Die Rolle der moralischen Unternehmer
1. Regelsetzer
2. Regeldurchsetzer
3. Zusammenfassung
IV Wie Menschen zu Drogennutzern werden
1. Beckers drei definitive Vorbedingungen
V Drogengebrauch und soziale Kontrolle
1. Die soziale Kontrolle durch die Beschränkung des Nachschubs
2. Die soziale Kontrolle durch die Notwendigkeit der Geheimhaltung
3. Die soziale Kontrolle durch Moralität
VI Abschließende Betrachtung
1. Kritik an Howard Becker
3. Fazit
VIII Literaturverzeichnis
IX Anhang
Einleitung
Es gibt wenige kulturell und global-gesellschaftliche Themen und Problemfelder, die die Menschheit seit Anbeginn ihrer Geschichte so konsequent begleiten und umtreiben, wie die Haltung und der Umgang mit Drogen und ihren Konsumenten. Selten finden sich so viele divergierende polar gegensätzliche Aussagen aus allen sozialen Schichten und Epochen: „Opium heilt alles, außer sich selbst“ so ein lateinisches Sprichwort, der Ausspruch „Wer keinerlei Drogen braucht, kann der überhaupt gesund sein?“ wird dem Heilpraktiker Erhard Blanck zugeschrieben, Franz Schmidberger schreibt hingegen: „Jede Art von Droge ist ein Selbstbetrug, der irgendwann in Reue umschlägt“. Gleichzeitig bleiben Konsumenten illegaler Rauschmittel, trotz juristischer und sozialer Sanktionen in den meisten Ländern fester, mal mehr mal minder versteckter Bestandteil der Gesellschaften beziehungsweise ihrer Subkulturen, deren Studie sich unter anderem die Devianzsoziologie verschrieben hat.
Die Definition des Wortes Droge erscheint inkonsistent, wenn man sich ihrer genauen Verwendung bewusst wird: Jemand der krank ist bekommt Medikamente, jemand der gesund ist, nimmt Drogen oder Rauschmittel. Anhand dessen lässt sich erkennen, dass diese Form der Unterscheidung legitimen und illegitimen Verhaltens primär auf die Art der Handlung beziehungsweise ihrer Umstände abzielt, weniger auf die Substanz selbst.
Freilich muss man bei der Beschäftigung mit der Frage, warum die Gesellschaft einige Substanzen als Konsummittel verbietet und andere nicht, zwischen den verschiedenen Rauschmitteln, die sich in einer konkreten Gesellschaft in bestimmten Menge in Umlauf befinden, ihrem Gefahrenpotential sowie ihrer Wirkung unterscheiden. Doch die rein rationale Unterscheidung, nach denen Drogen über den Grad der Selbst- und Fremdschädigung sowie dem Abhängigkeitspotenzial klassifiziert werden, scheint in der Realität ins Leere zu laufen: Die Tabelle im Anhang (S. 23) zeigt eindeutig, dass nach jenen rational-wissenschaftlichen Argumenten im Sinne der in diesem Bereich dominierenden Disziplin der Medizin, Alkohol das Hauptziel von Verbotsaktivisten*innen sein sollte, während der Gebrauch “weicher“ psychoaktiver Substanzen toleriert werden müsste. Offensichtlich existieren also soziale Prozesse, innerhalb derer die Gesellschaften zu unterschiedlichen Bewertungen über einzelne Rauschmittel kommen und diese dann über die Institutionen in Gesetzesform gießen, welche dann erlaubtes und unerlaubtes Verhalten bezüglich des konkreten Konsums in Form klarer Regeln, Verbote und Sanktionen definiert. Diese Ausarbeitung konzentriert sich auf die Suche nach allgemeinen soziologische Gesetzmäßigkeiten und Prozesse, nach denen eine Substanz, die zuerst erlaubt ist, verboten wird und ihre Konsumenten damit zu Außenseitern und Abweichlern erklärt, die sanktioniert werden, sollten sie ihr Verhalten fortsetzen.
Hier bietet es sich an, auf einen Klassiker der Devianzsoziologie zurückzugreifen: Das Buch „Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance“ von Howard Becker. Der am 18. April 1928 in Chicago geborene Howard Saul Becker erlangt als Soziologe spätestens mit der Veröffentlichung dieses Werks internationale Beachtung und Berühmtheit (Vgl. Danko, S. 7 f.). Er ist bereits Jazzmusiker, als deren Mitgliedern gesellschaftlich noch etwas verruchtes anhaftet, denn ihre Arbeitssituation ist unsicher und die Örtlichkeiten, an denen sie spielen, selten respektabel. Ausgrenzende und rassistische Einstellungen gegenüber dieser Gruppe sind damals gängige soziale Praxis. Er verfasst mehrere wissenschaftliche Aufsätze über diese als „abweichend“ wahrgenommenen Gruppe, in denen auch der Marihuanagebrauch eine prominente Rolle spielt, bevor er sie 1963 in seiner ersten Monographie sammelt und durch einige weitere Untersuchungen und Überlegungen ergänzt. Heute gilt das Buch als Klassiker der Devianz- und Kriminalsoziologie; als „revolutionär“ (Dellwing 2014: 7) und „bahnbrechend“ (Joes/Knöbl 2010: 130). Im Jahr 2000 wird es in die Hauptwerke der Soziologie aufgenommen (Maeder 2000). Geprägt wird der junge Becker durch die Chicagoer Schule der Soziologe, sowie dem Symbolischen Interaktionalismus seines Mentors Herbert Blumer. Sein Untersuchungsansatz verschiebt, entgegen der zeitgenössischen Praxis, den Fokus vom abweichenden Individuum und der Untersuchung von Motivationen und Ursachen hin zur gesellschaftlichen Reaktion auf dieses als abweichend empfundenes Verhalten. Diese Herangehensweise wird durch die zentrale These seines Hauptwerkes deutlich: „Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen als solches bezeichnen“ (Becker 1963: 31). Allein die englische Originalfassung des Zitats bietet jedoch einen Zugang zum darauf aufbauenden „labeling approach“ (dt. Etikettierungsansatz): „The deviant is one to whom that label has successfully been applied; deviant behavior is behavior that people so label.“ (Becker, 1963, S. 29). Dagmar Danko (2015: 65) bezeichnet diese Herangehensweise als konsequente Anwendung des Thomas-Theorems: „Die Art und Weise, wie Menschen Situationen definieren, schafft eine Wirklichkeit mit realen Konsequenzen, und zwar unabhängig davon, ob die Einschätzung der Situation “richtig“ oder “falsch“ ist“ (ebd.).
Methodik, Aufbau und Ziele dieser Arbeit
Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich der Untersuchung von Drogennutzungen im kulturhistorischem Kontext, weil ohne eine solche beispielhafte Betrachtung der realen Zustände die Basis für tiefgreifende Analysen bezüglich dieser Form von Verhalten nur schwer zugänglich ist. Freilich kann dies im Rahmen dieser Ausarbeitung nur abrisshaft und komprimiert geschehen; es werden lediglich drei verschiedene Rauschmittel behandelt.
Im Hauptteil werden dann die folgenden konkreten Forschungsfragen in aufeinander aufbauenden Kapiteln behandelt: Welche soziale Dynamik sorgt für das Verbot von bestimmten Rauschmitteln? Wie konstituiert sich das komplexe Systems juristischer und gesellschaftlicher Sanktionen gegenüber Nutzern illegaler Rauschmittel und warum greifen Menschen trotz dieser Prozesse zum verbotenen Drogengebrauch? Als maßgebliche Quelle zur Beantwortung dieser Fragen dienen die Ansätze Howard Beckers, die stellenweise ins Verhältnis zu anderen Theorien gestellt und um einige eigenen Überlegungen ergänzt werden. Abschließend werden einige der zahlreichen Kritiken an Beckers Theorie gesammelt, bewertet und letztlich ein finales Fazit gezogen.
Abriss über den Drogengebrauch im Kulturvergleich
Der Rauschmittelkonsum als soziales Phänomen ist fast so alt wie die Menscheitsgeschichte selbst. Bereits für die Jungssteinzeit lässt sich der Genuss psychoaktiver Substanzen und Rauschmittel durch Menschen nachweisen (Richter 2015: 1214) und selbst im Tierreich lassen sich zahlreiche solcher bewussten und wiederholten Intoxikationen beobachten (Georgen 2017: 1). Dieser kurze Überblick über die kulturell-historische Geschichte des Drogenkonsums konzentriert sich auf drei konkrete Rauschmittel: Die weltweit verbreiteste Droge Alkohol, das insbesondere für die asiatische Historie bedeutsame Opium und eine der ältesten Rausch- und Heilpflanzen - Mariuhana.
Alkohol
Der Genuss ethanolalkoholhaltiger Getränke hat eine lange Tradition. In Zentralasien wird bereits um 6000 v. Chr. Weinbau betrieben, in Mesopotamien wird seit 3000 v. Chr. Bier gebraut (Erowid 2008). Die weit verbreitete Auffassung, bis zum Ende des Mittelalters habe aufgrund von Ängsten vor Verunreinigungen kaum jemand Wasser getrunken, während der Konsum von sterilen Alkoholika gängige Alltagspraxis war, ist zwar nicht völlig falsch, aber verkürzt (Vgl. Sachße 1980: 32f.): Das Trinken von Wasser ist schon damals etwas so gewöhnliches, dass es im Gegensatz zur Bier- und Weinkultur kaum schriftliche Erwähnung findet. Tatsächlich gilt Wassertrinken aber auch als Zeichen von Armut, als „Stigma des populus vulgaris“ (Spode 1993: 46) und so durchdringen Bier und Wein als Genuss-, Nahrungs- und Heilmittel, letzteres vorallem in Form von Brandwein, (Legnaro 1982: 157) in (aus heutiger Sicht) rauen Mengen alle gesellschaftlichen Schichten. Alkohol ist gesellschaftlich fest integriert, Selbst- und Rauschkontrolle quasi unbekannt. Dennoch folgt der Konsum einigen Regeln und war in ein spirituelles, religiöses oder kulturelles Normensysem eingebettet. So wird beispielsweise das exessive individuelle Betrinken verboten, während es in der Gruppe zur Pflicht erhoben wird, um eine kollektive Identität herzustellen (Spode 1993: 17). Zu den ersten Mäßigkeitsbewegungen gehören Mitglieder der klerikalen und aristokratischen Schichten (Legnaro 2000: 10), deren Bemühungen aber erfolglos bleiben. Erst als zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert Urbanisierung, Arbeitsteilung sowie die Durchsetzung abstrakter Rechts- und Geldbeziehungen der Gesellschaft strukturelle Umwälzungen unterwerfen, verändert sich die Wahrnehmung des Alkoholkonsums. Die Erfindung und Verbreitung der mechanischen Uhr reformiert den natürlich Tages- und Jahresrythmus der Gesellschaft hin zu einem mathematisch exakten; „dieser erfordert Disziplin, Zeitökonomie, (...) Tüchtigkeit und Erwerbsstreben“ (Sachße 1980: 37). Mit Max Weber gesprochen handelt es sich um eine beginnende „Rationalisierung der Lebensführung“. Die Bedeutung individueller Affektkontrolle wächst immer weiter und mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität und Interdependenz sozialer Beziehungen wird die mangelnde Nüchternheit zu einem strukturellen Problem (Spode 1993: 62); Trunkenheit wird zu einem irrationalen Verhalten innerhalb einer rationalen Welt. Physische Folgen des ungemäßigten Alkoholkonsums, wie die sinkende Arbeitsleistung, geraten in den Fokus der Aufmerksamkeit (Spode 2005: 94). Gleichzeitig wird erstmals eine ursächliche Beziehung hergestellt zwischen dem Verfall der Ordnung, Moral und Sitten, sowie Kriminalität auf der einen und Trunkenheit auf der anderen Seite. Durch die allmähliche Alphabetisierung der Bevölkerung und Prominenter Fürsprecher des „rechts Maßes“ wie Martin Luther verbreiten sich diese neuen Werte in der Gesellschaft. (Vgl. Schabdach 2009: 43 ff.). Kaffee, Tee und Tabak verdrängten Alkohol langsam aus seiner dominierenden Rolle. Soziale Kontrollen werden ausgebaut und Alkohol so als legitimes, aber reguliertes Konsumgut gesellschaftlich eingehegt. Nur das Aufkommen einer klassischen Drogenpanik und die folgende kurzeitige Prohibition in den USA unterbrechen diesen Prozess. Heute unterliegt der Verkauf alkoholhaltiger Getränke in den meisten Ländern zwar gewissen Regulativen, ausgenommen vom mehrheitlich muslimischen Ländern und einigen wenigen US-Staaten aber keiner absoluten Prohibition mehr. Auch deshalb ist es heute das mit Abstand weit verbreiteste und mehrheitlich akzeptierteste Rauschmittel der Welt.
Opium
„Nichts riecht so wenig dumm wie Opium. Vielleicht noch etwa der Zirkus und ein Hafen“, soll Pablo Picasso um 1920 seinem Dichterfreund Jean Cocteau erklärt haben; Cocteu wiederum schreibt in einem Buch 1929: „Der Alkohol bewirkt Anfälle von Wahnsinn. Das Opium ruft Anfälle von Weisheit hervor“ (Leipold 2009: S. 1). Zu diesem Zeitpunkt steuerte die lange Traditionsgeschichte des Betäubungsmittels bereits seinem Ende endgegen; Ende des Jahres wird der Missbrauch in Deutschland mit dem ersten Opiumgesetz unter Strafe gestellt.
Bei Opium (oder Mohnsaft) handelt es sich um den getrockneten Milchsaft des Schlafmohns, der sowohl oral aufgenommen als auch geraucht werden kann. Die Wirkstoffe umfassen über 40 verschiedene Alkaloide, darunter Morphin, Codein und Thebain; durch Synthese lässt sich außerdem Diacetylmorphin gewinnen, besser bekannt unter dem Namen Heroin (Vgl. Rätsch 1995: S. 98f.).
Als Nutzpflanze findet der Schlafmohn im Süden Europas bereits um 6000 v. Chr. Verwendung (Bakels 1982: 11 ff.). Als „Pflanze der Freude“ bezeichnen es die Sumerer (Vgl. Rätsch 1995: 96 f.), im antiken Griechenland wird es für kultische und medizinische Zwecke und als Symbol für den Schlafgott Hypnos genutzt. Als Rauschmittel nutzen es ausgiebig die wohlhabenden Schichten des Römischen Reiches, bevor das frühe Christentum seine Verwendung als Sünde deklariert. Bis zum Ende des Mittelalters bleibt es vor allem als Schmerzstiller in Verwendung.
(Vgl. Leipold 2009: 1 f.): Im China der Neuzeit werden die teuren Tabakblätter dann mit dem günstigen Opium gestreckt; beide Pflanzen werden damals maßgeblich von westlichen Kolonialmächten exportiert, vor allem von der britischen East India Company. Da sich der Wirkmechanismus durch Inhalation drastisch verstärkt und ein hohes Abhängigkeitspotential aufweist, ist das Land bald übersäht mit Opiumhöhlen, in denen sich Millionen Abhängige bis in die Bewusstlosigkeit rauchen; der volkswirtschaftliche Schaden ist immens. Entgegen aller Bemühungen des chinesischen Kaisers forciert Großbritanien die (teilweise inoffizielle) Einfuhr, um die damaligen Exportsdefizite auszugleichen. Letztlich setzt das britische Königreich im Ersten (1839 - 1842) und Zweiten Opiumkrieg (1856-1860) die Öffnung der Märkte und Duldung des Opiumhandels gewaltsam durch. Heimkehrende Soldaten und Händler bringen die Pflanze anschließend auch in Form des alkoholisch gelösten Laudanum in die westlichen Länder (Vgl. Leipold 2009: 2). Heroin ist einige Jahre später in fast jeder Apotheke als Hustensaft erhältlich. Im deutsch-französischen Krieg werden zahlreiche Verwundete mit Morphin behandelt und schnell abhängig. Als auch das Rauchen und Spritzen von Heroin unter Drogennutzern Gewöhnung findet, formieren sich erste Proteste von Medizinern. Die Opiumhöhlen in Europa und Nord-Amerika laufen den puritanischen Vorstellungen des Bürgertums zu dieser Zeit bereits seit längerem zuwider, doch auf Grund der weitreichenden gesellschaftlichen Verbreitung von Opiaten kommt es erst Ende der zwanziger Jahre zu einem Verbot; die Bayer AG produziert und exportiert Heroin aber noch bis 1931. Die Nationalsozialisten nutzen später vor allem Methamphetamin als Aufputschmittel für die Wehrmacht; da Opium jedoch wie vielen anderen Drogen kein Kriegsnutzen zugesprochen wird, bieten sie schnell eine rasstisch geprägte Propaganda gegen die Pflanze auf, verschärfen die Strafen und räumen 1944 das von vielen Chinesinnen und Chinesen bewohnte St. Pauli Viertel. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominiert Heroin die illegalen Märkte, Rohopium verliert hingegen an Bedeutung.
Heute ist Afghanistan Hauptanbauland; 7000 Tonnen werden hier jährlich geerntet. Das enorme Ausmaß des Konsums bis ins frühe 20. Jahrhundert wird vor allem durch die Tatsache deutlicht, dass sich die globale Produktion seit dem um 70 Prozent verringert hat (ebd).
Mariuhana
Während der Begriff Cannabis alle Teile der weiblichen Hanfpflanze bezeichnen kann bezieht sich Marihuana in der Regel ausschließlich auf die hartzhaltigen weiblichen Blüten (Vgl. Herer 2008: 17 ff.): Haschisch ist hiervon abzugrenzen, er besteht aus dem reinen, gepressten Hart der Pflanze. Grundsätzlich differenziert man zwischen Cannabis Sativa, das eine eher aktivierende, psychedelische Wirkung hat und dem sedierenden Cannabis Indica, deren Wirkspektrum sich aus den unterschiedlich hohen Konzentrationen der Cannabinoide ergibt. Hauptwirstoff ist das Tetrahydrocannabinol (THC). Auch das Öl und die Pollen können als Rauschmittel verwendet werden. In allen Ländern mit einer Cannabis-Prohibition, so auch in Deutschland, ist es das am häufigsten verwendete illegale Rauschmittel (UNODC 2017: 11 ff.).
Hanf gilt als eine der ältesten Nutzpflanzen der Welt; die medizinische Nutzung ist im chinesischen Raum bereits für ca. 2600 v. Chr. datiert, der älteste Fund ist eine Grabbeigabe aus dem Jahr 700 v. Chr. (Jiang 2006: 414 ff.). Bis in die 1920er ist es, meist in Form alkoholischer Extrakte, eines der am häufigst verschriebenen Medikamente, vor allem bei rheumatischen und bronchialen Erkrankungen sowie bei Epilepsie (Herer 1994: 146 ff.). Erst auf der zweiten Opiumkonferenz am 19. Februar 1925 wurde Cannabis vor allem auf Drängen Ägyptens Heroin und Kokain gleichgestellt und alle drei Substanzen verboten.
Ab 1936 forcieren Regierungsmitglieder und verschiedene Lobbyorganisationen unter Führung der Hearst Corporation eine rassistisch geprägte Propaganda gegen Marihuana. Zahlreiche Filme zeigen sie als „Droge der Perversen, siechenden Untermenschen, geistlosen Negern und mexikanischen Immigranten“ (Herer 1994: 149). Kritiker und Zeitgenossen merken immer wieder an, dass diese Kampagnen zum einen die für die gescheiterte Alkoholprohibition zuständigen Behörden erhalten, zum anderen Hanf als günstigen Ausgangsstoff für die Papierproduktion unterbinden solle. Ein Jahr später wird Marihuana verboten. Lediglich im Zweiten Weltkrieg wurde der Hanfanbau in den USA für Uniformen und Verbandszeug kurzzeitig wiederaufgenommen.
Heute drücken sich die divergierenden Haltungen und Bewertungen von Marihuana vor allem in den teilweise grundsätzlich verschiedenen rechtlichen Bestimmungen der Länder aus. Unter anderem in den Niederlanden, Uruguay, Colorado und Washington unterliegt der Verkauf und Konsum staatlichen Auflagen, ist aber legal. In den meisten anderen Staaten findet auf Grundlage des internationalen Opiumgesetzes noch immer keine Differenzierung zu anderen verbotenen Rauschmitteln statt; in Oklahoma drohen bei Besitz gar 150 Jahre Haft (Schbdach 2009: 12). Gleichzeitig ist es das Rauschmittel mit der größten Legalisierungsbewegung. Die jüngste Gesetzesänderung fand am 26.06.2018 in Luxemburg statt, allerdings bezieht sie sich ausschließlich auf den medizinischen Gebrauch der Pflanze (Knodt 2018: 1).
Ohne Frage kann diese kurze Zusammenfassung des kulturhistorischen Gebrauchs von Alkohol, Opium und Marihuanna nur einen Überblick verschaffen; jede Substanz könnte in einer eigenen Arbeit unter manigfaltigen Gesichtspunkten behandelt werden. Darüber hinaus gewinnen heute synthetische Party- und Designerdrogen immer mehr an Bedeutung. In vielen US-Staaten dopen Studierende ihre Lern- und Arbeitsleistung mit dem auf Amphetaminsalzen basierenden, verschreibungspflichtigen Medikament Adderall (Vgl. Heal 2013). Chemische Rauschmittel sind außerdem fester Bestandteil der Techno- und Electromusikszene.
Festzuhalten ist, dass der allgemeine Rauschmittelgebrauch schon immer Teil der Menschheitsgeschichte st. Künstler und Freischaffende nutzen sie zur Muse, Arbeiter und Bauern als Ausgleich für harte Arbeitsbedingungen, Soldaten und Extremsportler zur Leistungssteigerung oder Traumatherapie und Partygänger zur Maximierung ihres Vergnügens. Historisch gewandelt hat sich vorrangig der gesellschaftliche Blick auf den Rauschmittelgebrauch, wobei sich gerade in der Ära der aufkommenden Industrialisierung, die mit dem Wandel kollektiver Identitäten einhergeht, ein sozial konstruiertes System aus legitimen und illegitimen Drogen konstituiert, das sich nur langsam wandelt, da es sich selbst reproduziert.
Die Rolle der Moralischen Unternehmer
Der vorrangegangene Abriss über den Drogengebrauch ist auch deshalb sinnvoll, weil es eine banal anmutende Tatsache verdeutlicht: In der frühen Menschheitsgeschte befinden sich die Individuum in einer Art drogenpolitischen Naturzustand, innerhalb dessen die einzelnen Rauschmittel noch keinerlei Kontrollen und ihre Konsumenten keiner Sanktionen unterworfen sind. Doch wer genau bestimmt nun wirklich, welche Substanzen verboten werden und welche weiter ungeregelt in unserem Alltag verbleiben? Es scheint eine dringende Vorbedingung zu geben, die eine entsprechende Regelsetzung beziehungsweise Beschränkung zur Folge hat und innerhalb dieses Prozesses nicht auf eine bestimmte Substanz oder ein Verhalten als Ziel beschränkt ist. Auffällig ist, dass sich die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen mehr auf die Regelbrecher als auf die Regelsetzer- und Durchsetzer konzentrieren. Becker weist aber darauf hin, dass wir abweichendes Verhalten und Außenseiter „als Konsequenz eines Interaktionsprozesses zwischen Menschen ansehen (müssen), von denen einige im Dienst eigener Interessen Regeln aufstellen und durchsetzen, Regeln, welche andere erfassen, die ihrerseits im Dienst eigener Interessen Handlungen begehen, die als abweichend abgestempelt werden“ (1973: 135) Hier ist es sinnvoll, seine Theorie des Moralischen Unternehmers („moral entrepreneur“) aufzugreifen, dessen Begriff er von Joseph R. Gusfield abgeleitet hat. Becker unterscheidet die moralischen Unternehmer in Regelsetzer und Regeldurchsetzer (Vgl. Becker 1973: 133 ff.):
Regelsetzer
Wenn ein Individuum in seiner Gesellschaft Zustände vorfindet, mit denen es nicht einverstanden ist oder die es sogar energisch ablehnt, wie zum Beispiel den Konsum, Verkauf und/oder Besitz von Rauschmitteln, hat es zwei Möglichkeiten: Entweder es tut gar nichts, akzeptiert den Zustand, findet sich damit ab oder hofft, dass sich der Sache ein anderer annimmt. Es kann sein Wirken aber auch darauf konzentrieren, diesen Zustand zu verändern, in dem es dafür eintritt, entsprechende Regeln aufzustellen oder bereits vorhandene zu verschärfen. Ein solcher Regelsetzer kann sich zum Beispiel für das Verbot von bestimmten Drogen aussprechen, die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnen (historisch gar homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen) oder die Todesstrafe für Schwerverbrecher*innen oder Kinderschänder*innen fordern. An diesen Beispielen wird bereits deutlich, dass solche Regeln klassischerweise traditionell motiviert, das heißt konservativ-rückwerts gewandt und oft auf Sanktionen ausgelegt sind. Aber auch progressive Bewegungen wie die Anti-Sklavereibewegeung, die Bewegung für Frauenrechte, strengere Auflagen für die Finanzbranche und andere weitere lassen sich durch dieses Modell beschreiben. Scheerer (1986: 133 ff.) ergänzt die letztere, progressive Gruppe in der Debatte um den Begriff des Atypischen Moralunternehmers.
Becker greift zur Beschreibung des Regelsetzers den Begriff des Kreuzfahrers (Gusfield 1963: 22) von Scheerer für die Regelsetzer auf, weil diese ihre Mission als heilig empfinden: „(der Kreuzfahrer) geht mit einer absoluten Ethik vor; was er sieht, ist wahrhaft und total schlecht, ohne Einschränkung. Jedes Mittel ist Recht, um es aus dem Weg zu räumen. Der Kreuzfahrer ist leidenschaftlich und gerecht, häufig selbstgerecht“ (Becker 1973: 133). Es geht also nicht darum, anderen die eigene Moralvorstellung aufzuzwingen. Der Regelsetzer ist fest überzeugt, seine Regelungen seien zum Wohle aller. So kann ein Verbot von bestimmten Rauschmitteln zum Beispiel mit der Proklamation von Gesundheitsfahren legitimiert werden. Eine Sucht würde für den Regelsetzerein Krankheitsbild darstellen, welches die Betroffenen an einem „wahrhaft guten Leben“ hindert. Andere Argumente, die bereits bei der amerikanischen Abstinenzbewegung des 19. Jahrhunderts zum tragen kamen, können eine verbesserte wirtschaftliche und soziale Lage sein. Gleichzeitig können eben diese Kriterien und Motivationen bei anderen Substanzen keine Anwendung finden, da die andere Substanz sich nicht im aktuellen Aufmerksamkeitsfokus des Regelsetzers befinden. Vielleicht ist er der Meinung, andere Substanzen wären eine geringere Bedrohung, weil sie (tatsächlich oder subjektiv) weniger Konsumenten haben, für weniger schädlich oder kulturell ligitimiert befunden werden. Eine kritische Bewertung solcher Kreuzzüge als wünschenswert oder verhältnismäßig ist eine rein subjektive Angelegenheit.
Becker macht aber auch auf eine zentrale soziale Problematik aufmerksam (Vgl. Becker 1973: 135): Die Regelsetzer entstammen in der Regel den oberen Rängen der Schichten und arbeiten Regelungen für die unter ihnen stehenden aus, die ihnen ein besseres Leben ermöglichen sollen, gleichwohl ob es ihnen Recht ist oder nicht. Die Handlung der Regelsetzer funktioniert also im „Top-Down-System“, was auch bedeutet, dass die Regelsetzer „die Macht, die sie aus der Legitimität ihrer moralischen Position ableiten, noch um jene Macht verstärken, die sie aus ihrer höheren Position in der Gesellschaft ableiten“ (ebd).
Für einen aussichtsreichen Kreuzzug benötigt der Regelsetzer Unterstützer. Diese müssen die Intentionen ihres Anführers aber nicht unbedingt teilen: So unterstützten einige Industrielle die amerikanische Alkoholprohibition, weil sie von der Annahme ausgehen, auf diese Weise fügsamere Arbeitskräfte zu erhalten. In anderen Ländern wie in Deutschland handelt man dagegen genau umgekehrt: Der Lohn wird zur Zeit der Industrialisierung teilweise in Schnaps ausgezahlt, weil die Industriellen hoffen, die Arbeiter würden so ihre präkeren Arbeitsbedingungen verdrängen (Vgl. Nolte 2007: 47). Das erste Risiko, dass der Regelsetzer also eingehen muss, ist die Verfälschung seiner Motive und Ziele, die bereits mit dem aller ersten Unterstützer besteht.
Das zweite Risiko tritt mit dem Erfolg des Kreuzzuges ein (Vgl. Becker 1973: 136 f.): Regelsetzer sind sind primär am Regelinhalt interessiert, die Mittel zur Durchsetzung sind nachrangig. Die erdachten Regeln werden in Form von Gesetzen durch die Legislative gültig, welche von Experten ausgearbeitet werden. Der Regelsetzer übergibt sein Anliegen also dem Gesetzge- beungsprozess und damit Parlamentariern, Rechtsanwälten, Richtern, Regierungsstellen, vieler Arten von Experten und Lobbyisten. Es überrascht wenig, dass der Regelsetzer mit den dann verabschiedeten Gesetzen oft nicht zufrieden ist, da auch hier eine Vielzahl äußerer Einflüsse auf die Idee der Regel einwirkt.
Solche Gesetzgebungen werden in der Regel dann verabschiedet, wenn in der Bevölkerung ein Klima der Angst herrscht, das durch entsprechende Zwischenfälle ungeregelter Taten erzeugt wird (Vgl. Becker 1973: 137 f.): Durch die mediale Verarbeitung des Problems erreichen die Botschaften in moderner Zeit jedes Wohnzimmer und können auch vermeindliche Einzelfälle zur Ankündigung einer Welle weiterer Katastrophen erklären und so den Eindruck einer ständigen Bedrohungssituation erzeugen. Bürger beginnen damit, die Notwendigkeit einer Regelung oder ihrer Verschärfung zu begreifen und ergreifen unter Umständen auch eigene Schutzmaßnahmen. Diese Maßnahmen können sich im Rahmen einer „Selbstermächtigung“ der Bürger bewegen (beispielsweise Razzien durch selbsternannte Bürgerwehren), welche den Staat drängen, diesen Handlungen mit eigen, staatlichen Regeln zu begegnen und damit überflüssig zu machen, um die institutionelle Autorität zu bewahren.
Regeldurchsetzer
Auf einen erfolgreichen Kreuzug und der Aufstellung neuer Regeln folgt die Bildung regeldurchsetzender Organisationen und damit seine Institutionalisierung (Vgl. Becker 1973: 140 f.): Auch wenn teilweise die bestehenden Ämter und Beamten die Durchsetzung dieser Regeln umsetzen, werden in der Regeln neue Gruppen Regeldurchsetzer gebildet. Becker beschreibt die Transformation dieses Regelsetzer-und-Durchsetzer-Systems in einem prägnanten Vergleich: „Genauso wie sich radikale politische Bewegungen in organisierte politische Parteien verwandeln und eif- rige religiöse Sekten zu abgeklärten religiösen Bekenntnisgruppen werden, so ist das schließliche Ergebnis eines moralischen Kreuzuges eine Polizeistreitmacht“ (Becker 1973: 141) Dies ist der entscheidende Moment bei der Schöpfung neuer Außenseiter und erfordert, sich soziologisch mit den Motiven, Interessen und Handlungen der Polizei auseinanderzusetzen.
Bei dieser Betrachtung unterstellt Becker, die Regeldurchsetzer seien in der Regel nicht am Inhalt der Regeln, sondern ausschließlich an ihrer Durchsetzung interessiert (Vgl. Becker 1973: 141 ff.). Er identifiziert zwei wesentliche Interessen des Regeldurchsetzers, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll: Zum einen muss er die eigene Existenz, d.h. ihre Notwendigkeit rechtfertigen, zum anderen ist er bestrebt, die Achtung seiner Autorität jener zu erlangen, mit denen er zu tun hat.
Das erste Interesse, die Rechtfertigung der eigenen Existenz, führt in ein Dilemma, unter dem auch unter anderem auch Gewerkschaften und Parteien in ihren Sphären leiden: Nehmen wir an, der Regeldurchsetzer arbeitet optimal und effektiv; die Regelverstöße nehmen ab und erreichen einen Nullpunkt, dann hat der Regeldurchsetzer seine eigene Überflüssigkeit herbeigearbeitet. In seinem Selbsterhaltungsinteresse und besonders bei der Forderung finanzieller Mittel ist der Regeldurchsetzer also zu einem Spagat gezwungen, innerhalb dessen er einerseits nachweist, dass das Problem von Regelverstößen nach wie vor besteht und damit finanzielle Mittel sowie der Erhalt seines Postens unerlässlich ist, andererseits muss er Erfolge vorweisen, die bestätigen, dass Verstöße adäquat verfolgt werden und das Problem der Regelverstöße auf eine Lösung zusteuert.
Das zweite Interesse, die Wahrung seiner Autorität, ist unerlässlich, um dem Regelsetzer die Bearbeitung seiner Aufgaben zu erleichtern, deswegen verteidigt er diese wehement. Becker betont, dass ein guter Teil seiner Tätigkeit daher nicht der Regeldurchsetzung gewidmet ist, sondern der Erzwingung dieser Achtung von Menschen, die im jene verwehren. Um als abweichend klassifiziert zu werden genügt es also bereits, dem Regeldurchsetzer Missachtung entgegen zu bringen, weil dies wiederum für sich als Regelbruch behandelt wird. In der Regel ist die Achtung der Autorität innerhalb der Gesellschaft anerkannt und wird deshalb nur selten in Frage gestellt. Verhält sich ein von Regeldurchsetzern kontrolliertes Individuum respektlos und unkooperativ, treffen ihn Sanktionen. William A. Wesley (1953: 39) hat in einem Interview nachgewiesen, dass Respektlosigkeiten, die in ihren konkreten Fällen oft keine Straftat oder Ordnungswidrigkeiten darstellen, von Polizeibeamten oft mit Anstachelungen begegnet wird, die das Subjekt zu Verhalten oder Äußerungen treiben sollen, für das konkrete rechtliche Sanktionen vorgesehen sind. Dieser Verteidigungsmechanismus gilt umso mehr, wenn die Autorität des Regeldurchsetzers vor anderen Beobachtern in Frage gestellt wird.
Der Regeldurchsetzer weiß genau, dass er die Problematik nie in Gänze lösen kann und priorisiert und sysematisiert seine Arbeit; die absolute, allgemeine Regeldurchsetzung birgt also das Element der Unverfügbarkeit. Einige Menschen verfügen über genug politischen oder ökonomischen Einfluss, um der Regeldurchsetzung zu entgehen, in dem sie juristisch spezialisierte Kräfte konsultieren, die in den Vereinigten Staaten als „fixer“ bezeichnet werden und durch Verfahrenfragen, Manipulation und Bestechung dafür sorgen, dass das Gerichtsverfahren eingestellt wird und sich stattdessen mit einem anderen Fall beschäftigt, der oft einen Amateur zum Täter hat (Vgl. Becker 1973: 144). Es überrascht also nicht, dass „professionelle Regelbrecher“, seien es nun Diebe, Gewalttäter oder Drogennutzer, deutlich seltener gefasst, verurteilt und als abweichend klassifiziert werden, als Amateure - wohl auch, weil die Überführung von Amateuren quantitativ eine weit größere statistische Erfolgsquote ermöglicht (z.B. Wenn man sich als Regeldurchsetzer zwischen der Verfolgung eines großen Fisches oder 50 kleiner entscheiden muss). Diese Tatsache berührt auch das öffentliche Bild des Drogennutzers, weil mit ihm wesentlich weniger Menschen aus den oberen Schichten verbunden werden, als dies tatsächlich der Fall ist.
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- Arbeit zitieren
- Julian Faber (Autor:in), 2019, Die Devianz des Drogenkonsums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/511911
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