Die Theodizee in Kleists "Das Erdbeben in Chili"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Theodizeedebatte im 18. Jahrhundert
2.1 Leibniz' Theodizee
2.2 Der Umgang Kleists mit der Theodizee

3. Das Erdbeben in Chili - Kleists Verarbeitung der Theodizee
3.1 Die Gesellschaft St. Jagos im Kontrast zur Aufklärung
3.2 Die Funktion des (un-)glücklichen Zufalls
3.3 Privates und gesellschaftliches Übel
3.4 Die Strafpredigt nach dem Rückzug aus der Utopie

4. Deutung des Erdbebens

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Novelle Das Erdbeben in Chili ist als Kleists Beitrag zur Theodizeedebatte des 18. Jahrhunderts zu sehen. Dabei untersucht diese Ausarbeitung, inwieweit er den ursprüng­lichen Theodizeegedanken Leibniz‘ eingebunden bzw. dargestellt hat.

Insgesamt ist diese Arbeit in zwei Teile gegliedert. Zunächst erfolgt eine knappe Ausführung der Theodizeetheorie Gottfried Wilhelm Leibniz‘, die auch Heinrich von Kleist beeinflusst hat. Sein Umgang mit der von Leibniz aufgestellten Theorie wird folg­lich ebenfalls untersucht, bevor es zur Betrachtung der Umsetzung dieser Gedanken in seinerNovelle kommt, welche den zweiten Teil dieser Ausarbeitung bildet.

Hierbei werden diverse Erklärungsmuster und immer wieder auftretende Merk­male analysiert. Es wird die Frage geklärt, ob Kleist die Katastrophe in St. Jago mit einem tieferen Sinn behaftet hat und so den Theodizeegedanken Leibniz‘ in seiner Novelle wi­derspiegeln lässt oder ob sein Werk als eine Art Abrechnung zu sehen ist.

2. Die Theodizeedebatte im 18. Jahrhundert

Schon seit Anbeginn der Zeit beschäftigt sich die Menschheit in religiöser und philoso­phischer Hinsicht mit der Frage, wie die Geschehnisse der Welt und des eigenen Lebens mit der Existenz sowie der Güte Gottes zu vereinbaren sind. Gerade das Erdbeben von Lissabon am 01. November 1755, bei welchem knapp 30.000 Menschen ihr Leben verlo­ren und die Stadt fast komplett zerstört wurde, führte zu einer erneut drastischen Kon­zentration des literarischen, philosophischen und auch theologischen Fokus auf „das grundlegende Paradoxon zwischen dem Schöpfergott, der nur Gutes geschaffen hat, und dem existierenden Übel.“1 Denker und Schreiber aus aller Welt sahen sich dazu veran­lasst, sich erneut mit der von Leibniz formulierten Theodizeetheorie, welche im weiteren Verlauf näher erläutert wird, zu befassen.

2.1 Leibniz' Theodizee

Eine der wie bereits erwähnt am meisten diskutierten und bekanntesten Schriften ist die Theodizeetheorie von Gottfried Wilhelm Leibniz mit dem Titel Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal, welche er im Jahre 1710 veröffentlichte. Dabei setzte er sich mit der Fragestellung auseinander, inwieweit sich die Menschheit in der besten aller Welten befindet und das auf der Welt geschehende Übel in Verbindung mit der Güte Gottes zu bringen ist. Nach seiner Vorstellung hat „alles in der Welt, selbst das Böse und das Übel, letztlich seinen positiven Sinn [... ]; das Gute und die positive Sinnhaftigkeit sind ihr immanent.“2 Leibniz selbst glaubte daran, dass sich alles auf der Erde aus sogenannten Monaden zusammensetzt. Dies sind unspaltbare Kleinteile, welche Gott, der Schöpfer, selbst erschaffen hat. Da diese Monaden aufgrund ihrer Beschaffenheit ewig bestehen, können sie nicht zerstört werden oder verloren gehen. Jedoch streben alle diese Kleinteile nach absoluter Vollkommenheit, die nur Gott innehat, wodurch sie einem dynamischen Prinzip unterliegen und sich gerade an Gott als höchster Instanz orientieren.3 Im Allgemeinen ist der Mensch in seiner Existenz sowie Vernunft­begabung dem Abbild Gottes am nächsten, steht aber nicht auf einer Stufe mit diesem. Durch seine Unvollkommenheit besitzt er außerdem die Möglichkeit, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden.4 Die Existenz des letzteren hängt laut Leibniz damit zusammen, dass die Welt, so wie wir sie kennen, von Gott vorgegeben ist. Er hat sie auf harmonische Weise geordnet und somit die Beziehungen der einzelnen Monaden zueinander fest ver­ankert. Hierbei spricht Leibniz auch von der sogenannten prästabilisierten Harmonie. Dies bedeutet, dass alle Dinge und Geschehnisse bereits vorher fest geregelt sind. Das Übel existiert dabei insofern notwendigerweise, weil nichts Irdisches perfekt bzw. voll­kommen sein kann, da es sonst gottgleich wäre.

Grundsätzlich unterscheidet Leibniz hierbei drei Gruppen von Übel. Erstens nennt er das metaphysische Übel, womit er die Imperfektion allen Lebens beschreibt. Aus die­sem entspringt das zweite Übel, das physische. Dieses ist für die Schmerzen und das Leid verantwortlich. Die dritte Gruppe bildet das moralische Übel, welches in Form der Sünde auftritt. Dabei ist die Sünde laut Leibniz von Gott gewollt und insbesondere notwendig, da der Schöpfer selbst bei der Erschaffung der irdischen Wesen diese mit dem Geschenk der Freiheit ausgestattet hat. Das Laster soll letztendlich dem übergeordneten Ziel helfen, Gutes zu leisten.5 Dabei ist zu betonen, dass Gott das Übel nur zugunsten weitaus bedeu­tenderer Zwecke zulässt, es aber nie selbst verursacht.

Wie bereits erwähnt, verwendet Leibniz in seinen Ausführungen oft den Begriff der prästabilisierten Harmonie. Dieser Ausdruck und der damit verbundene Umstand, dass Gott, die oberste und somit vernünftigste Instanz, jedes Ereignis im Voraus plant und nichts ohne hinreichenden Grund geschehen lässt, führen unvermeidlich zum Aus­druck der besten aller Welten. „[Gott] hat die möglichen Welten überdacht und die beste von allen erwählt.“6 Leibniz begründet die Geschehnisse der Welt folglich auf teleologi­sche Weise und versucht, sie aus einem optimistischen Blickwinkel zu bewerten.

2.2 Der Umgang Kleists mit der Theodizee

Auch Heinrich von Kleist beschäftigte sich im Laufe seines Lebens mit der Frage der Theodizee. In seiner Jugendzeit, die stark vom optimistischen Grundgedanken der Auf­klärung geprägt war, setzte er sich unter anderem mit den teleologischen Ansätzen Leib­niz' auseinander. Dabei glaubte Kleist selbst daran, dass Gott als gerechter Schöpfer nach feststehenden Gesetzen über die Erde waltet, wobei sich diese Einstellung letztendlich auch in einigen seiner Schriften zeigt:

[Die] Gottheit [wird] die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst un­auslöschlich in unsrer Seele erweckt hat. [... ] [Eine Gottheit] voller Güte und Weisheit, [welcher] die Menschen alle gleich nahe am Herzen [liegen].“ Dabei werden wir Menschen nie unglücklich sein, wenn „die Grundsätze des Edelmuts, der Gerechtigkeit, der Menschenliebe, der Standhaftigkeit, der Bescheidenheit, der Duldung, der Mäßigkeit, der Genügsamkeit usw. unerschütterlich und unaus­löschlich in unsem Herzen verflochten [sind]. [... ] Da waltet ein großes unerbitt­liches Gesetz über die ganze Menschheit, dem der Fürst wie der Bettler unterwor­fen ist. Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe.7

Diese Ansichten veränderten sichjedoch mit zunehmendem Alter. Durch das Stu­dium unterschiedlichster philosophischer Ansätze sowie diverser privater Probleme, die unter anderem seine Ausbildung betrafen, befand sich derjunge Kleist in einer epistemo­logischen Krise. „Die Säule, an welcher [er sich] sonst in dem Strudel des Lebens hielt, [wankte].“8 Getrieben von einer im Inneren herrschenden Diskrepanz sah er sich mit dem Gedanken konfrontiert, dass es doch nicht Sinn des menschlichen Lebens sei, nach Ver- vollkommung zu streben. Vor allem die philosophischen Ausführungen Kants, gipfelnd im Werk Kritik der reinen Vernunft, in welchem er die Erklärung weltlicher Geschehnisse trotz unzureichender menschlicher Erkenntnisse kritisiert, rüttelten stark an Kleists Welt­bild. Die nun fehlende Gewissheit, dass das Leben einen tieferen Zweck bzw. ein größeres Ziel habe, versetzten Kleist in eine schwere Orientierungslosigkeit.

Wir können [mit dem Verstände] nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr - und alles Be­streben ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist ver­geblich.9

Diese innere Zerrissenheit ist auch in Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili zu erkennen. Dabei verändert erjedoch diverse Fakten des tatsächlich stattgefundenen Erd­bebens von 1647. Beispielsweise ereignet sich sein Beben am Tag, anstatt in der Nacht. Andererseits liefert er in seiner Novelle keine detailliertere Beschreibung des Unglücks­ortes, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Katastrophe auch an einem anderen, belie­bigen Ort hätte passieren können. Dies lässt zumindest die Hypothese offen, ob es Kleist nur um das Erdbeben an sich oder viel eher um die Erschütterung der Welt und die damit einhergehende Theodizeediskussion ging.10 In seiner Novelle präsentiert er dem Leser die Welt als „gebrechliche Einrichtung“11, welche die Unerklärbarkeit der Entscheidungen Gottes, denen die Menschheit ausgeliefert ist, immer wieder auf unterschiedliche Weise hervorhebt.

3. Das Erdbeben in Chili - Kleists Verarbeitung der Theodizee

Im Mittelpunkt der Debatte bezüglich der Theodizeefrage im 18. Jahrhundert stand vor allem Literatur, die sich mit der Thematik des Erdbebens beschäftigte. Begründen lässt sich dies, da „sich doch hier die Sinnwidrigkeit, die 'schreiende Willkür' des Zufalls auf ein Naturphänomen, das stärker noch als alle Erscheinungen des moralischen Übels [...] über Sinn oder Sinnlosigkeit der (physischen) Beschaffenheit der Welt grübeln läßt und ausdrücklich die Frage nach einer ausgleichenden Gerechtigkeit stellt.“12

Daher nimmt auch Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili gerade im Hinblick auf die breit geführte Kontroverse eine besondere Rolle ein. Aufgrund seiner innerlichen Zerrissenheit und auch wegen der realen Katastrophe in Lissabon, konstruiert Kleist in seinem Werk eine Welt, in der sich das Liebespaar Jeronimo und Josephe immer wieder in gesellschaftlichen sowie auch persönlichen Katastrophen vorfindet, welche - kleinere zwischenzeitliche Lichtblicke ausgenommen - im Untergang des Paares enden. Dadurch betont Kleist die Rätsel Gottes, welche in seiner erschaffenen ,,gebrechliche[n] Einrichtung“13 vorzufinden sind. Diese sind durch unterschiedliche, teils konträre Muster zu erklären, die im Verlauf der Novelle vorgestellt und im Folgenden ausgearbeitet wer­den.

[...]


1 Scheske, Ulrike: Die Erschütterung der Welt - Eine Interpretationvon Heinrichvon Kleists „Das Erdbe­ben in Chili“ unter dem Aspekt der Theodizeedebatte des 18. Jahrhunderts. Grin-Verlag: Norderstedt 2008, S. 3.

2 Ciemnyiewski, Gregor: Kampf um Sinn. Theodizee in Kleists Erzählungen. GCA-Verlag: Herdecke 1999, S. 7.

3 Vgl. Anonym: Der Theodizeegedanke in Kleists „Das Erdbeben in Chili“. Die beste aller möglichen Wel­ten im Angesicht des Todes. Grin-Verlag: Norderstedt 2016, S. 3. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden im laufenden Text durch Nennung der Sigle TG und der Seitenzahl belegt.

4 Vgl. Loretz, Johann-Georg: Der arme Heinrich. Kleist. Eine Einführung in sein Leben und seine Werke. Odilia: Domach 1997, S. 88.

5 Vgl. Scheske (2008): S. 4.

6 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee von der Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. In: ders.: Philosophische Schriften. Band 2.1 und 2.2. Hrsg. Und übersetzt von Wolf­gangHerring. Darmstadt 1985, S. 384.

7 Semder,Helmut: HeinrichvonKleist. SämtficheWerkeundBriefe. DTV:München200t, S. 30t-307.

8 Ebd., S. 625ff.

9 Ebd., S.631ff.

10 Vgl. Anonym: Das Theodizee-Motiv in Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“. Grin-Verlag: Nor­derstedt 2001, S. 3. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden im laufenden Text durch Nennung der Sigle TM und der Seitenzahl belegt.

11 Ledanff, Susanne: Kleist und die „beste aller Welten“. Das Erdbeben in Chili - gesehen im Spiegel der philosophischen und literarischen Stellungnahme zur Theodizee im 18. Jahrhundert. In: Kleist-Jahrbuch (1986), S. 127.

12 Ledanff 1986: S. 127.

13 Ebd., S. 126.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Theodizee in Kleists "Das Erdbeben in Chili"
Hochschule
Universität Mannheim
Note
1,7
Autor
Jahr
2019
Seiten
24
Katalognummer
V512128
ISBN (eBook)
9783346088390
ISBN (Buch)
9783346088406
Sprache
Deutsch
Schlagworte
theodizee, kleists, erdbeben, chili
Arbeit zitieren
Marcel Brand (Autor:in), 2019, Die Theodizee in Kleists "Das Erdbeben in Chili", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512128

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