Mehr als Mauer und Stasi. Die Berliner Erinnerungslandschaft zur DDR


Master's Thesis, 2009

113 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Einleitung
Thema und Fragestellung
Theoretische Bezugspunkte
Zur Wahl des Forschungsfeldes
Literaturlage
Aufbau der Arbeit

Teil 1: Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
1.1 Gedächtnis und Geschichte in der Sozialanthropologie
1.2 Das kollektive Gedächtnis nach Halbwachs
1.3 Das kommunikative und kulturelle Gedächtnis der Assmanns
1.4 Lieux de mémoire
1.5 Das Gedächtnis im Raum
1.6 Orte der Erinnerung als touristische Attraktionen
1.7 Erinnerungen und Diskurse

Teil 2: Forschungsprozess
2.1 Datenerhebung
2.2 Vom Feld zum Text

Teil 3: Forschungskontext
3.1 Das Neue Berlin
3.2 Die DDR im wiedervereinten Deutschland
3.3 Erinnerung und Propaganda vor 1989

Teil 4: Resultate
4.1 Die Vermarktung Berlins
4.2 Ein Überblick über die Berliner Erinnerungslandschaft
4.2.1 Kalter Krieg und geteilte Stadt
4.2.2 Der Stasi-Staat
4.2.3 Widerstand und Opposition
4.2.4 Der realsozialistische Alltag
4.2.5 Was fehlt?
4.3 Die Diskursgemeinschaften
4.3.1 Die Ankläger
4.3.2 Die Politiker
4.3.3 Die Pragmatiker
4.3.4 Die (N)Ostalgiker
4.5 Argumentationsmuster
4.5.1 Die Autorität der Produzenten
4.5.2 Die zwei deutschen Diktaturen
4.5.3 Die Wahl des Ortes
4.5.4 Auf der Suche nach Authentizität

Schlussdiskussion

Bibliographie

Danksagung

Während der Planung, der Datenerhebung und dem Verfassen dieser Arbeit bin ich von vielen Personen auf unterschiedliche Weise unterstützt und beraten worden. Bei ihnen möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken.

Den InterviewpartnerInnen danke ich für die aufgewendete Geduld und Zeit, für ihre Offenheit sowie für ihre Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Prof. Dr. Heinpeter Znoj danke ich für die wissenschaftliche Betreuung der Arbeit und bei der Feldspesenkommission der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern für die finanzielle Unterstützung der Feldforschungsaufenthalte. Christine, Beatrice, Franz und Gisella danke ich für das kritische Durchlesen der Arbeit und für die hilfreichen Anmerkungen und Anregungen. Auch die anderen Familienmitglieder sowie Freundinnen und Freunde aus Deutschland und aus der Schweiz, die mich während dieser Zeit begleitet und auf vielfältige Art und Weise unterstützt haben, erhalten ein ganz grosse Merci. Immer wieder hörten sie mir geduldig zu und gaben mir oft Hinweise auf Aspekte des Themas, an die sich selbst nicht gedacht hätte.

Einleitung

Thema und Fragestellung

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Rund ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, trat die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei und hörte somit nach 40 Jahren auf zu existieren. Seither ist viel geschehen. Berlin ist heute wieder Hauptstadt des vereinigten Deutschlands. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR existiert nicht mehr. Die meisten Hinterlassenschaften des SED-Regimes wurden abgebaut oder umgenutzt, die Reste der Berliner Mauer als Souvenirs in alle Welt verkauft und verschenkt.

Spurlos verschwunden ist die DDR jedoch nicht. Der öffentliche Auftritt ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, Wahlerfolge der SED-Nachfolgepartei Die Linke 1, der Erfolg von Ostalgie-Sendungen im Fernsehen – immer wieder werden neue Debatten über den richtigen Umgang mit der DDR-Vergangenheit ausgelöst.

Auf Grund der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist Erinnerungskultur in Deutschland ein viel diskutiertes Thema. Es geht dabei um eine soziale Verpflichtung, die mehr oder weniger explizit, mehr oder weniger zentral, zu jeder Gruppe gehört, nämlich um die Frage: „Was dürfen wir nicht vergessen?“ (Assmann 2002: 30). Im Zentrum der Diskussion steht in Deutschland zwar die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, doch seit dem Fall der Mauer müssen nicht nur die in Ost und West unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Bezug auf die Zeit von 1933 bis 1945 zusammengeführt werden,2 es muss auch entschieden werden, wie mit der „zweiten deutschen Diktatur“ (Kaminsky 2007: 7) umgegangen wird und wie diese erinnert werden soll. Heiss debattiert wird seit dem Zusammenbruch der DDR somit nicht nur die Frage, was mit den Akten der Stasi geschehen soll, wie Eigentumsfragen geklärt werden können oder wie mit Mauerschützen umzugehen sei, sondern insbesondere auch die Art und Weise, wie man sich in Gedenkstätten und Museen an die DDR zu erinnern habe. Was soll weshalb und auf welche Weise erinnert werden? Um diesen letzten Punkt soll es in dieser Arbeit gehen.

Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass im heutigen Berlin Spuren der DDR allgegenwärtig sind. Wer als Tourist Berlin besucht, kann im Souvenirshop Mauerstücke und Spielzeugtrabis kaufen, Museen und Gedenkstätten zur Berliner Mauer oder zur Staatssicherheit aufsuchen oder sogar in einem DDR-Design-Hostel übernachten. Die Spuren der DDR-Vergangenheit gehören heute zu den Attraktionen Berlins und locken in- und ausländische Besucher in die deutsche Hauptstadt. Den Besuchern werden dabei verschiedene, sich zum Teil widersprechende Deutungen der DDR-Vergangenheit präsentiert, die nicht immer konfliktfrei nebeneinander stehen.

Maurice Halbwachs schrieb bereits in den 1920er Jahren, dass „das Vergangene in Wirklichkeit nicht als solches wiedererscheint, dass vielmehr alles darauf hinzuweisen scheint, dass es sich nicht erhält, sondern dass man es rekonstruiert, wobei man von der Gegenwart ausgeht“ (1985: 22). Auch die Spuren der DDR, die wir heute in Berlin vorfinden, sind nicht einfach Relikte aus der Vergangenheit ohne Bedeutung für die heutige Gesellschaft, sondern sie werden nach den Bedürfnissen der Gegenwart rekonstruiert. Diese Bedürfnisse sind jedoch äusserst heterogen. Gerade in einer Grossstadt wie Berlin treffen die unterschiedlichsten Interessen und Perspektiven aufeinander. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass die Produk-tion der Berliner Erinnerungslandschaft von vielen Kontroversen begleitet wird. Die Erinnerungsorte, die in Berlin Aspekte der DDR-Geschichte darstellen und symbolisieren, und die Debatten, die ihre Produktion begleiten, stehen im Zentrum dieser Arbeit. Konkret sollen dabei die folgenden Fragen beantwortet werden.

1. Wie wird im heutigen Berlin die DDR dargestellt? Welche Diskurse über die DDR werden den Besuchern vermittelt und wessen Geschichte ist es, die erzählt wird?
2. Wer sind die verschiedenen Akteure, die an der Darstellung der DDR-Vergangenheit im Stadtbild Berlins beteiligt sind und welche Interessen verfolgen sie?
3. Auf welche Diskurse beziehen sich die Akteure und welche Strategien wenden sie an, um ihre Deutung der Vergangenheit zu legitimieren?
4. Lassen sich typische Argumentationsmuster erkennen, die die Produktion von Erinnerungsorten begleiten?

Auch die Rolle des Tourismus soll dabei berücksichtigt werden, denn in Nebensätzen wird immer wieder auf dessen Einfluss hingewiesen. So steht beispielsweise im Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer, dass „die Defizite der Erinnerungspolitik […] öffentlich am wirksamsten von Touristen und Tourismusunternehmen angesprochen“ wurden (Flierl 2006: 12). In vielen Arbeiten zur Erinnerungskultur wird von in sich abgeschlossenen Gesellschaften ausgegangen, doch gerade das Beispiel Berlins zeigt, dass Erinnerungslandschaften oft auch touristische Attraktionen sind und als solche in gewisser Weise Teil eines „globalen“ oder „kosmopolitischen“ Gedächtnisses (Sznaider 2001).Ich werde somit nicht nur den Interessen und Bedürfnisse von politischen Akteuren, Gedenkstättenmitarbeitern und den Bewohnern von Ost- und Westberlin nachgehen, sondern auch danach fragen, welche Wünsche und Vorstellungen auswärtige Besucher mitbringen und wie sie das Bild der DDR beeinflussen, welches an verschiedenen Erinnerungsorten in der Stadt vermittelt wird.

Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf der diskursiven Ebene. Es ist mir bewusst, dass bei der Produktion von Erinnerungsorten auch rechtliche Aspekte, Eigentumsverhältnisse und andere Faktoren eine Rolle spielen. Es würde jedoch den Rahmen einer Masterarbeit sprengen, detailliert darauf einzugehen. Ich konzentriere mich deshalb auf die Diskurse, Interpretationen und Wahrnehmungen der verschiedenen Akteure.

Theoretische Bezugspunkte

Dieser Arbeit liegt eine Perspektive zu Grunde, die Christian Giordano „aktualisierte Geschichte“ nennt (2005). Damit ist eine Betrachtungsweise gemeint, die die Vergangenheit als Ressource für soziale Akteure in der Gegenwart betrachtet. Es interessiert weniger, was in der Vergangenheit tatsächlich geschehen ist, sondern der Fokus liegt auf den heutigen Erzählungen und Interpretationen vergangener Ereignisse. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass die verschiedenen Akteure Geschichte aktualisieren, um sich in der Gegenwart und in Hinblick auf die Zukunft zu positionieren und zu orientieren sowie um gewisse Vorstellungen, Handlungen oder Interessen zu legitimieren oder durchzusetzen.Wichtig ist dabei die bereits von Maurice Halbwachs gemachte Feststellung, dass Erinnerung etwas eminent Soziales ist (1985). Wenn wir uns erinnern, tun wir das immer als soziale Wesen, als Teil einer sozialen Gruppe. Die Gruppen, an denen wir teilhaben, geben die Bezugsrahmen vor, die unser individuelles Erinnern prägen. Gleichzeitig sind die kollektiven Erinnerungen entscheidend für die Identität einer Gruppe. In der vorliegenden Arbeit stehen deshalb nicht individuelle Erinnerungen an die DDR im Zentrum, sondern es geht darum, wie verschiedene Kollektive sich heute an diesen nicht mehr existierenden Staat erinnern. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann, die von zwei Arten des kollektiven Erinnerns ausgehen. Sie sprechen vom kommunikativen und vom kulturellen Gedächtnis. Was damit genau gemeint ist, wird später eingehend behandelt. Hier reicht es festzuhalten, dass, um eine bestimmte Vergangenheitsdeutung langfristig zu fixieren, eine Institutionalisierung der Erinnerung notwendig ist. Es müssen so genannte Erinnerungsorte geschaffen werden – ein Begriff, der einerseits metaphorisch, anderseits aber auch wörtlich als räumlich konkreter Ort verstanden werden kann. In dieser Arbeit konzentriere ich mich wie gesagt auf Letzteres. Ausgehend von den bestehenden Erinnerungsorten in Berlin wird untersucht, wie in diesem konkreten Fall Geschichte erzählt und Erinnerungen institutionalisiert werden und wie der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis vor sich geht.

Zur Wahl des Forschungsfeldes

Berlin und die Erinnerungen an die DDR bieten sich für eine solche Untersuchung an, denn es gibt kaum eine andere Stadt, die dermassen von der Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt wurde und deren touristische Anziehungskraft so stark von ihrer historischen Bedeutung abhängt.

There is perhaps no other major Western city that bears to marks of twentieth-century history as intensely and self-consciously as Berlin. (Huyssen 1997: 59)

Während jedoch über die Darstellung der NS-Zeit mittlerweile mehr oder weniger Konsens herrscht, ist dies in Bezug auf die DDR noch keineswegs der Fall. Nicht einmal zwanzig Jahre ist es her, seit die Mauer fiel. Die meisten Bewohner Berlins und auch viele Besucher haben noch persönliche Erinnerungen an dieses Ereignis. Viele von ihnen wünschen sich, dass die im Stadtbild konservierten Erinnerungen mit ihren eigenen Erfahrungen übereinstimmen. Die eigenen Erfahrungen unterscheiden sich jedoch je nach Perspektive. So herrscht momentan noch alles andere als Einigkeit darüber, wie die Erinnerung an die DDR institutionalisiert und welche Vergangenheitsdeutung für die nachfolgenden Generationen in Form von Museen und Gedenkstätten erhalten werden soll. Gleichzeitig sind jedoch in der Politik zunehmend Bestrebungen erkennbar, zu einer einheitlichen und konsensfähigen Beurteilung der DDR-Vergangenheit zu gelangen und die Erinnerungslandschaft dementsprechend zu gestalten. Hier lässt sich deshalb der Übergang vom kommunikativen Gedächtnis der Zeitzeugen zu einem kulturellen Gedächtnis, das die Generationen überdauern soll, an einem aktuellen Beispiel nachverfolgen.

Für Berlin spricht auch, dass diese Stadt als neue deutsche Hauptstadt eine überregionale, gesamtstaatliche Bedeutung hat. Stärker als in den restlichen Gebieten Ostdeutschlands kommt den Erinnerungsorten hier eine besondere symbolische Bedeutung und Ausstrahlung zu. Sie werden eher als Aussage zum Selbstverständnis des wiedervereinten Deutschlands wahrgenommen als es beispielsweise in Leipzig, Görlitz oder Dresden der Fall wäre.

Ausserdem war Berlin „Frontstadt des Kalten Krieges“ und durch eine Mauer geteilt, der Ostteil war „Hauptstadt der DDR“. Bedeutende Überreste aus der Vergangenheit wie beispielsweise die Spuren der Berliner Mauer, SED-Machtzentralen, Stasi-Gefängnisse, u.a. konzentrieren sich deshalb hier in besonderer Weise. Ladd nennt Berlin ein historisches Minenfeld, denn der Umgang mit der Vergangenheit sei nirgends so konfliktreich und kontrovers wie hier (1997: 3). Gerade das macht es so spannend. Die Untersuchung des Umgangs mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit in Berlin kann uns sehr viel über das heutige Deutschland sagen.

Literaturlage

Seit Anfang der neunziger Jahre ist das Interesse an den Themen Erinnerung und Gedächtnis sprunghaft angestiegen. Unzählige Bücher und Studien sind in den letzten Jahren dazu erschienen, so dass man heute von einem regelrechten Erinnerungsboom sprechen kann (Assmann 2007: 273). Dass gerade in Deutschland zu diesem Thema viel publiziert wird, ist wenig erstaunlich. Geprägt von den beiden diktatorischen Vergangenheiten ist das deutsche Verhältnis zur Vergangenheit besonders kompliziert und widersprüchlich.

Es dominieren zwar Arbeiten, die sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus beschäftigen, aber auch über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit wurde seit der Wiedervereinigung viel geschrieben. Ein Grossteil dieser Arbeiten beschäftigt sich mit der Frage, wie das Unrecht der DDR an die nachfolgenden Generationen vermittelt werden soll (Behrens und Wagner 2004, Faulenbach 2007), oder es wird nach Erklärungen für die so genannte Ostalgie, d.h. für die verharmlosende und verklärende Erinnerung an die DDR, gesucht (z.B. Ahbe 2001, Leuerer 2004, Goll 2004). Dabei werden jedoch weder die Zielsetzungen der Erinnerungspolitik hinterfragt, noch wird gross auf die räumliche Dimension der Erinnerung eingegangen. Gedenkstätten und Museen gelten zwar als wichtige Stützen der politischen Bildung, werden aber kaum näher betrachtet.

Auf der anderen Seite gibt es einige architektonisch orientierte Arbeiten, die sich mit den materiellen Überresten der DDR und mit der Neugestaltung Berlins befassen (z.B. Huyssen 1997, Oswalt 2000). Auch Historiker lassen sich teilweise von den materiellen Spuren leiten, um anhand verschiedener Orte, Geschichten über die Vergangenheit zu erzählen (Ladd 1997). Dabei sind sie jedoch weniger an der Bedeutung dieser Orte in der Gegenwart interessiert, sondern vielmehr an den Ereignissen, die sich in der Vergangenheit dort zugetragen haben.

Eher seltener sind Arbeiten, die von der Gegenwart ausgehen und die die räumliche und die soziale Dimension des Erinnerns miteinander verbinden. Zu erwähnen sind hier einzelne Artikel, die sich mit ausgewählten Erinnerungsorten beschäftigen, mit ihren Entstehungsgeschichten, begleitenden Diskursen sowie der Aneignung durch die Besucher. Dazu gehören beispielsweise eine vergleichende Untersuchung zweier Ausstellungen zur DDR in Leipzig (Berdahl 2005) oder eine Analyse der Gedenkstätte Berliner Mauer (Knischewski und Spittler 2006). Neben diesen beiden Artikeln waren auch die Arbeiten von Binder (2001, 2003) sowie von Farias Hurtado (2005), die sich beide mit der Umgestaltung Berlins nach der Wiedervereinigung beschäftigen, für die vorliegende Arbeit wichtige Orientierungspunkte. Sehr hilfreich waren ausserdem mehrere Publikationen, die Sammlungen von Erinnerungsorten zu einem bestimmten Thema oder in einem bestimmten geographischen Raum beinhalten (Kaminsky 2007, Jander 2007). Auch wenn oder gerade weil hier nicht interpretiert wird, gaben mir diese Publikationen einen guten Überblick über die Berliner Erinnerungslandschaft.

Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. In einem ersten Teil wird der theoretische und konzeptionelle Rahmen umrissen. Vorgestellt werden hier unter anderem die gedächtnistheoretischen Arbeiten von Maurice Halbwachs und Jan und Aleida Assmann. Ausserdem wird auf die Bedeutung von Erinnerungsorten und auf die Verankerung der Erinnerung im Raum eingegangen. Auch einige Konzepte aus der Tourismusforschung werden thematisiert, sofern sie für diese Arbeit von Bedeutung sind. Im zweiten Teil wird der Forschungsprozess beschrieben. Der dritte Teil ist dem Forschungskontext gewidmet, d.h. es wird darauf eingegangen, wie sich Berlin seit dem Fall der Mauer und seit der Wiedervereinigung verändert hat, wie im wiedervereinten Deutschland mit der DDR-Vergangenheit insgesamt umgegangen wird und wie bereits vor dem Mauerfall in Ost und West bestimmte Erinnerungszeichen gesetzt wurden, die bis heute nachwirken. Der vierte Teil bildet das Hauptgewicht und beinhaltet die Präsentation und Interpretation der erhobenen Daten. Dabei wird gezeigt, welche Rolle die DDR-Vergangenheit bei der Vermarktung der Stadt spielt, welche Geschichten in der Berliner Erinnerungslandschaft erzählt werden, wie in verschiedenen Akteursgruppen über die DDR und über die bestehende oder erwünschte Erinnerungslandschaft diskutiert wird und welches die typischen Argumentationsmuster sind. Im Schlusswort werden die wichtigsten Resultate im Hinblick auf die Fragestellungen zusammenfassend und ausblickend diskutiert.

Teil 1: Theoretischer und konzeptioneller Rahmen

1.1 Gedächtnis und Geschichte in der Sozialanthropologie

In seinem 1955 veröffentlichten geschichtsphilosophischen Buch Histoire et Vérité legt Paul Ricoeur dar, dass es keine Geschichte geben kann, die die vergangene Wirklichkeit als objektive Wahrheit oder als ganzes, eindeutiges Abbild widerspiegelt. Die Rekonstruktion der Vergangenheit durch die Historiker zeichne sich vielmehr durch Zweideutigkeit, Ungenauigkeit und Ambiguität aus. Geschichte ist somit immer konstruiert oder anders gesagt, das Produkt einer Analyse, die der Historiker vorgenommen hat (1955: 26). Ricoeur wendet sich damit vom früher vorherrschenden positivistischen Verständnis der Geschichtswissenschaft ab und nimmt eine Entwicklung vorweg, die später unter den Begriffen „linguistic turn“ oder „cultural turn“ bekannt wurde. Mit „linguistic turn“ meint man „the general acceptance that there are no historical ‚facts‘ separate from the language in which they are expressed in time and place“ und “cultural turn” steht für die Konzentration “on signifying practices in the past as a major focus of current historical research” (Winter 2000).

Mit der zunehmenden Skepsis der Historiker gegenüber den grossen Erzählungen und positivistischen Sichtweisen, die bis dahin gegolten hatten, rückten mehr und mehr historische Deutungen und Wahrnehmungsmuster ins Blickfeld (François und Schulze 2005: 7).Damit löste sich die frühere Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis allmählich auf. Bei Halbwachs, auf den im Folgenden näher eingegangen wird, hiess es noch, dass die Geschichtswissenschaft das Terrain der Vergangenheit erst betrete, wenn es zum Brachland des Vergessens worden sei. Indem sie über den Gruppen und ihren Sinnstiftungsansprüchen stehe, so Halbwachs, vermöge die Geschichtswissenschaft nach Objektivität zu streben (1997: 72).Im Gegensatz dazu ist das Gedächtnis bei ihm das, was von der Vergangenheit „noch lebendig ist, und was fähig ist im Bewusstsein der Gruppe weiterzuleben“ (1997: 68). Die früheren Historiker sahen es als ihre Aufgabe an, die individuellen und kollektiven Vergangenheitsbilder von Willkür, Erfindung und Subjektivität zu reinigen und unterschieden deshalb ganz klar zwischen Geschichte und Gedächtnis. Heute hat sich das geändert:

First, as historiography has broadened its focus from the official to the social and cultural, memory has become critical ‘evidence.’ […] Furthermore, postmodernists have challenged the ‘truth-claim’ of professional historiography by questioning the distinction between knowledge and interpretation, and derivatively between history and memory. (Olick and Robbins 1998: 110)

Damit wurde eine Annäherung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Sozialanthropologie möglich. Bislang war die Arbeitsteilung klar gewesen: Die Geschichtswissenschaft als science du passé beschäftigte sich mit der Vergangenheit, die Sozialanthropologie als science du présent mit der Gegenwart (Giordano 2005: 53). Doch heute beschäftigen sich Historiker vermehrt mit den „constructed or semiotic dimensions of historical representations, much as an ethnographer would“ (White 2001: 505) und Sozialanthropologien berücksichtigen in ihren Arbeiten zunehmend auch die historische Perspektive. Der Sozialanthropologe John Davis schreibt dazu, dass „if we wish to incorporate history into our analysis and explanation of social activity, we must pay some attention tothe ways in which people construe their past“ (1992: 14). Er rückt den Fokus somit auf den Prozess des making history, der auch in der vorliegenden Arbeit im Zentrum steht. Eine solche Perspektive stellt die sozialen Akteure, die Geschichte oder Erinnerung „produzieren“, in den Vordergrund, fragt nach den spezifischen Machtgefügen, in die sie eingebettet sind und nach den Bedingungen, die ihr Handeln leiten (Althaus 2007: 12). Die Vergangenheit wird hier als eine soziale Ressource in der Gegenwart betrachtet, d.h. man beschäftigt sich mit der Vergangenheit, wie sie in der Gegenwart von sozialen Akteuren rekonstruiert, interpretiert und erzählt wird. Die Geschichte wird „aktualisiert“ und es geht dabei meist darum, bestimmte Anliegen in der Gegenwart und in der Zukunft zu erreichen oder zu legitimieren. Dass dieser Prozess der Aktualisierung und Neuaneignung von Geschichte meist auch eine Dimension der Erfindung aufweist, ist seit Eric Hobsbawms und Terence Rangers Invention of Tradition nichts Neues mehr (1983). Bei dieser Sichtweise wird der Anspruch nach der einen Wahrheit der Geschichte grundlegend in Frage gestellt und die Pluralität von historischen Wahrheiten respektiert (Berliner 2005: 200). Die Sozialanthropologie untersucht also immer öfters, wie Menschen ihre Vergangenheit wahrnehmen, wie sie sie erinnern, vergessen und interpretieren. Dabei werden auch die Konflikte zwischen den Vergangenheitsbildern verschiedener Gruppen thematisiert (z.B. Appadurai 1981, Althaus 2007).Erinnerungen sind eine Form von sozialem Wissen, das den Akteuren als Orientierungsmittel dient und von ihnen über Sprache und Kommunikation, beziehungsweise über spezifische Narrationen und Diskurse, Symbole, Bilder und Vorstellungen vermittelt und reproduziert wird.3

Wer sich heute aus sozialanthropologischer Sicht mit dem Gedächtnis beschäftigt, dem stehen eine Vielzahl von Begriffen, Konzepten und Methoden zur Verfügung, die in verschiedenen Disziplinen entwickelt wurden. Immer wieder wird dabei auf Maurice Halbwachs verwiesen, dem Vater der sozialwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses stellt für viele einen wichtigen Ausgangspunkt dar.

1.2 Das kollektive Gedächtnis nach Halbwachs

Einer der ersten, der sich mit dem Gedächtnis aus sozialwissenschaftlicher Sicht auseinandersetzte, war der Soziologie Maurice Halbwachs.4 Bereits in den 1920er Jahren untersuchte er die Bedeutung der gemeinsamen Erinnerung als Bindeglied von Gruppen und leitete daraus die Existenz eines Gruppengedächtnisses ab. Sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses erlebte in den letzten Jahren ein bemerkenswertes Revival. Es sind drei Werke Halbwachs, die dabei immer wieder zitiert werden: Les cadres sociaux de la mémoire (1925, im Folgenden 1985), la topographie légendaire des évangiles en terre sainte (1941, im Folgenden 2003) sowie das erst posthum erschienene mémoire collective (1950, im Folgenden 1997). Wie der Titel des erstgenannten Werks besagt, geht es ihm darum, auf die soziale Bedingtheit des Erinnerns hinzuweisen. Damit tritt er gegen „alle Gebietsansprüche des Biologismus und naturalistischen Psychologismus in den ‚Wissenschaften vom Menschen‘“ an (Egger 2003: 223). Im Anschluss an Durkheim und gegen die These von der Subsistenz der Erinnerung im Unbewussten versucht Halbwachs nachzuweisen, das der Mensch sich nur als Teil einer sozialen Gruppe erinnern kann. Das individuelle Erinnern ist immer schon in einen sozialen Rahmen eingebettet und es gibt „kein mögliches Gedächtnis ausserhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden“ (1985: 121). Wir erinnern uns nur, weil wir uns auf die Gedächtnisse unserer Mitmenschen stützen können. Das bedeutet zum einen, dass uns viele Erinnerungen entgleiten, sobald wir nicht mehr unter den gleichen Menschen leben, mit denen wir diese Erinnerungen bzw. den sozialen Rahmen teilen (1985: 50). Zum anderen bedeutet dieser soziale Charakter des Erinnerns auch, dass wir uns an Ereignisse erinnern, die wir nicht selber erlebt, sondern von denen wir nur gehört oder gelesen haben (1997: 98).Je weiter in die Vergangenheit wir zurückgehen, desto begrenzter ist die Anzahl der Tatsachen, die in Erinnerung bleiben. Diese Tatsachen sind nicht willkürlich oder individuell, sondern sie resultieren „aus dem Umstand, dass das Gedächtnis der Menschen von den sie umgebenden Gruppen und den Ideen oder Bildern abhängt, für die diese Gruppen sich am meisten interessieren“ (1985: 195). Die sozialen Gruppen, an denen wir teilhaben, bestimmen, an was wir uns erinnern.

Während Halbwachs im ersten Teil von Les cadres sociaux de la mémoire vom individuellen Gedächtnis ausgeht, welches von der Gesellschaft geprägt wird, betrachtet er im zweiten Teil „das kollektive Gedächtnis direkt und für sich selber“ (1985: 23). Die beiden Perspektiven sind nicht komplett verschieden, denn zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis findet eine Interaktion statt. Halbwachs schreibt, „dass das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und dass das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen“ (1985: 23). Das Gruppen- oder Kollektivgedächtnis darf weder als eine Metapher noch als eine Art Kollektivpsyche verstanden werden. Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt das Individuum, welches jedoch gleichzeitig auch ein Teil des Gruppengedächtnisses ist, „da man von jedem Eindruck und jeder Tatsache […] eine dauerhafte Erinnerung nur in dem Masse behält, wie man […] sie mit den uns aus dem sozialen Milieu zufliessenden Gedanken verbindet“ (1985: 200-201). Es ist das Individuum, das sich erinnert, aber es ist die soziale Gruppe, die bestimmt, was des Andenkens Wert ist. Es gibt also „kein mögliches Gedächtnis ausserhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden“ (1985: 121). Es sind diese Bezugsrahmen, die das kollektive Gedächtnis bilden. Sie schliessen unsere persönlichen Erinnerungen mit ein und verbinden sie miteinander. Das kollektive Gedächtnis darf aber auch nicht mit der Summe aller in einer Gesellschaft vorhandenen individuellen Gedächtnissen verwechselt werden. Es ist gewissermassen ein „sozialer Tatbestand“, der sich zwar in den Individuen widerspiegelt, jedoch ein von seinen „individuellen Äusserungen unabhängiges Eigenleben besitzt“ (Durkheim 1961: 114).

Wichtig ist für Halbwachs, dass jedes kollektive Gedächtnis eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe als Träger hat. Es sind gesellschaftliche Gruppen, die die sozialen Rahmen und kollektiven Vorstellungen schöpfen, aufrechterhalten und verändern. Wenn wir den Eindruck haben, unsere Erinnerungen seien individuell, so liegt dies daran, dass wir gleichzeitig an verschiedenen Gruppen, d.h. an verschiedenen kollektiven Gedächtnissen teilhaben (1997: 128). In Les cadres sociaux de la mémoire stellt Halbwachs drei wichtige Gruppen – die Familie, die Religionsgemeinschaft und die soziale Klasse – im Einzelnen vor. Dabei zeigt er zum einen, wie zentral die kollektiven Erinnerungen für das Selbstverständnis und die Identität einer Gruppe ist, „denn sie sind gleichzeitig Modelle, Beispiele und eine Art Lehrstücke. In ihnen drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren auch ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und ihre Schwächen“ (1985: 209-210). Zum anderen weist er auch darauf hin, dass sich das kollektive Gedächtnis im Laufe der Zeit verändert und sich den Bedürfnissen der Gegenwart anpasst (1985: 368). Das bedeutet, dass für ihn Vergangenheit etwas ist, was erst in der Gegenwart konstruiert wird. Dabei wird sie retuschiert, es werden Schnitte hineingelegt, sie wird vervollständigt und abgeändert (1985: 162).

Ausgehend von den Arbeiten von Maurice Halbwachs können wir somit sagen, dass es eine Art kollektive Erinnerung an die DDR gibt, welche zum einen abhängig ist von den Bedürfnissen der Gegenwart und welche zum anderen innerhalb einer bestimmten Trägergruppe als gültig angesehen wird. Berlin ist eine Grossstadt mit einer sehr heterogenen Bevölkerung. Es ist deshalb anzunehmen, dass es hier verschiedene Trägergruppen mit verschiedenen kollektiven Gedächtnissen gibt, die um die Durchsetzung ihrer Vergangenheitsdeutung kämpfen.

1.3 Das kommunikative und kulturelle Gedächtnis der Assmanns

Jan und Aleida Assmann haben Halbwachs Konzept des kollektiven Gedächtnisses aufgegriffen und empirisch angewendet. Ihr Interesse gilt der Gedächtnisfunktion der Kultur, die sie als Ensemble von materiellen und immateriellen Symbolen verstehen. So betont Jan Assmann, der sich als Ägyptologe vor allem mit frühen Hochkulturen beschäftigt, in erster Linie jene Stützen der Erinnerung, die sich zum Beispiel in Texten oder in Riten materialisieren (2000, 2002). Die gleiche Betrachtungsweise wendet Aleida Assmann an, wenn sie sich der deutschen Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert zuwendet (2007). Dieser Blickwinkel erfordert eine Erweiterung von Halbwachs Konzept bzw. eine Aufteilung des kollektiven Gedächtnisses in „zwei Gedächtnisrahmen“. Bei Jan Assmann heissen diese Gedächtnisrahmen kommunikatives und kulturelles Gedächtnis (2002: 50). Aleida Assmann spricht im gleichen Zusammenhang vom sozialen und kulturellen Gedächtnis (2007: 31-36).

Das kommunikative bzw. das soziale Gedächtnis beruht auf alltäglichen und informellen Interaktionen und zeichnet sich durch ein hohes Mass an Unspezialisiertheit, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit aus (2002: 50-52). Es ist ein gesellschaftliches „Kurzzeitgedächtnis“, das sich auf einen Zeithorizont von achtzig bis hundert Jahren erstreckt:

Das ist die Periode, in der verschiedene Generationen – in der Regel sind es drei, im Grenzfall sogar fünf – gleichzeitig existieren und durch persönlichen Austausch eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft bilden. (Assmann 2007: 25)

Das kulturelle Gedächtnis5 kann sich im Gegensatz dazu auf viel längere Zeitperioden beziehen, denn es beruht auf Medien, die institutionell gesichert sind und somit eine gewisse Festigkeit und Dauer besitzen.Hier gerinnt die Vergangenheit zu symbolischen Figuren, zu Texten, Tänzen, Bildern und Riten (2002: 52-53). Während das kommunikative Gedächtnis durch Alltagsnähe gekennzeichnet ist, sprechen die Assmanns in Bezug auf das kulturelle Gedächtnis von Alltagstranszendenz. Das kulturelle Gedächtnis stützt sich auf Fixpunkte, die als schicksalhaft und bedeutsam markiert werden und durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wach gehalten werden (2007: 35). Die Träger des kulturellen Gedächtnisses sind externalisiert und objektiviert. Sie repräsentieren eine „‘entkörperte‘ Erfahrung, die von anderen wahrgenommen und angeeignet werden kann, die diese Erfahrung nicht selbst gemacht haben“ (2007: 34). Ihre zeitliche Reichweite ist nicht auf die menschliche Lebensspanne beschränkt, sondern kann potentiell unendlich gestreckt werden. Trotzdem müssen die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses immer wieder neu mit lebendigen Gedächtnissen verkoppelt und von diesen angeeignet werden (2007: 24).

Es sind die Träger des kulturellen Gedächtnisses, d.h. die institutionalisierten und objektivierten Formen der Erinnerung, auf die ich mein Augenmerk richte. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass Denkmäler, Gedenkstätten und Museen selber kein „Gedächtnis“ sind, sondern Medien des kollektiven Gedächtnisses, die Informationen speichern und zum Erinnern oder Vergessen anregen können6 (Erll 2005: 99). Auch bezieht sich die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis nicht – wie man von den Begriffen her annehmen könnte – in erster Linie auf Inhalte oder Medien, sondern auf den „Modus“ in dem erinnert wird (2005: 115). Das heisst, dass in einem gegebenen historischen Kontext dasselbe Ereignis Gegenstand des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses sein kann. Entscheidend ist „die kollektive Vorstellung von der Bedeutung des Erinnerten“ (2005: 117, Hervorhebung im Original). Wird ein bestimmtes Ereignis als zum „alltagsweltlichen Nachhorizont“ gehörend erinnert oder als „Wahrheit höherer Ordnung“, aus denen „die Gesellschaft verbindliche Aussagen über sich selbst ableitet“ (2005: 116)?

Die DDR ist erst vor rund zwanzig Jahren von der Landkarte verschwunden. Das kommunikative Gedächtnis ist deshalb noch sehr lebendig. Doch die Gruppe derjenigen, die die DDR nicht persönlich erlebt haben, wächst. Will man, dass auch die nachfolgenden Generationen sich an die DDR erinnern, müssen die Erinnerungen aus dem kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis transferiert werden. Es werden so genannte lieux de mémoire geschaffen, Erinnerungsorte. So nennt Jan Assmann Denkmäler, Riten, Feste, Bräuche,7 die dem Kollektiv als Gedächtnisstütze dienen (2000: 20). Es handelt sich dabei um „ein System von Merkzeichen, das es dem Einzelnen, der in dieser Tradition lebt, ermöglicht, dazuzugehören, d.h. sich als Mitglied einer Gesellschaft im Sinne einer Lern-, Erinnerungs- und Kulturgemeinschaft zu verwirklichen“ (2000: 20). Durch solche Erinnerungsorte kann kollektive Erinnerung über Jahrtausende konserviert werden, in ihnen verkörpert sich das kollektive Gedächtnis einer Gruppe und dieses prägt wiederum, wie Halbwachs gezeigt hat, das individuelle Erinnern.

Es ist jedoch so, dass gerade wenn es um Ereignisse der jüngeren Geschichte geht, die gleichzeitig dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis angehören, es oft ein Spannungsverhältnis in der Erinnerungspraxis gibt (Erll 2005: 112). Der Grund dafür ist die Tatsache, dass beim Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis eine Selektion geschieht. In den lieux de mémoire wird der „‘flüssige‘ Strom zerstreuter, ganz verschiedener Gruppenerinnerungen in eine ‚feste‘, organisierte und gemeinsam geteilte Gruppenerinnerung transformiert“ (Moller 2003: 29). Das Resultat ist, wie Moller schreibt, nicht selten eine Vergangenheitsrekonstruktion der politischen Eliten. Diese versuchen Entscheidungen und Machtstrukturen durch Bezug auf das kollektive Gedächtnis zu legitimieren. Sie besitzen die notwendigen Ressourcen, um den Inhalt des nationalen oder politischen Gedächtnisses zu prägen, das „seine Stabilisierung durch radikale Engführung, hohe symbolische Intensität, kollektive Rituale und normative Verbindlichkeit erreicht“ (Assmann 2007: 58). Es ist also das so genannte nationale Gedächtnis, bzw. das kollektive Gedächtnis der politischen Eliten, welches das kulturelle Gedächtnis und somit – so ist anzunehmen – den öffentlichen Raum (um den es in dieser Arbeit geht) am stärksten prägt. Doch daneben gibt es immer auch alternative Narrationen und Diskurse. So wird auch in Berlin die gleiche Geschichte auf unterschiedliche Art und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Verschiedene Trägergruppen von kommunikativen Gedächtnissen versuchen, ihre Deutung der Vergangenheit zu institutionalisieren, d.h. sie ins kulturelle Gedächtnis zu transferieren.

1.4 Lieux de mémoire

Jan Assmann spricht von lieux de mémoire, Erinnerungsorten, die dem Kollektiv als Gedächtnisstütze dienen und in denen das kulturelle Gedächtnis konserviert wird. Geprägt wurde dieser Begriff vom französischen Historiker Pierre Nora, der eines der ehrgeizigsten Projekte der jüngeren Gedächtnisforschung initiierte, nämlich die Untersuchung und Sammlung der lieux de mémoire in Frankreich. Im gleichnamigen, mehrbändigen Werk, welches zwischen 1984 und 1992 erschien, hat Nora eine beträchtliche Zahl von Bruchstücken des französischen nationalen Gedächtnisses in Form von Essays zusammengetragen. Es ging ihm dabei um eine in die Tiefe gehende Analyse der „Orte“ in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Masse kondensiert, verkörpert oder kristallisiert (Nora 1989: 18-23). Die lieux de mémoire verstand er dabei – wie Jan Assmann – in einem sehr breiten, also nicht nur räumlich materiell lokalisierten Sinn. Er zählt dazu „museums, archives, cemeteries, festivals, anniversaries, treaties, depositions, monuments, sanctuaries, fraternal orders“ (1989: 12). Die lieux de mémoire können also eine Vielfalt und Breite an Erscheinungen umfassen. Sie konstituieren sich, so Nora, aus dem Bewusstsein, dass als zentral erachtete Aspekte aus der Vergangenheit erinnert, in die Gegenwart und Zukunft weiter getragen und vor dem Verschwinden gerettet werden sollen:

Lieux de mémoire originate with the sense that there is no spontaneous memory, that we must deliberately create archives, maintain anniversaries, organize celebrations, pronounce eulogies, and notarize bills because such activities no longer occur naturally. (Nora 1989: 12)

Es bedarf also einer aktiven Aneignung, die durch spezifische Praktiken vorgenommen wird, damit die lieux de mémoire als solche bestehen können.

Les lieux de mémoire war ein grosser Erfolg und bald folgten vergleichbare Veröffentlichungen in anderen europäischen Ländern. Auch deutsche Historiker haben ein ähnliches Unterfangen mit bewusst fragmentarischem Inhalt versucht: Etienne François und Hagen Schulze beziehen sich in der von ihnen herausgegebenen Sammlung von Deutschen Erinnerungsorten explizit auf Noras Aufforderung, „den ‚typischen Stil der Beziehung zur Vergangenheit‘ des jeweiligen Landes herauszuarbeiten“ (2005: 9). Sie weisen jedoch darauf hin, dass Noras Modell nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar ist:

Noras Werk ist fast eine Liebeserklärung an Frankreich. Keine Frage, dass sich ein derartiger Rückblick auf die deutsche Vergangenheit verbietet – nicht nur wegen des Geschichtsfelsens Nationalsozialismus, sondern auch, weil uns die deutsche Geschichte weitaus zerklüfteter begegnet als die Geschichte Frankreichs. (François und Schulze 2005: 11)

Die Wandlungen und Brüche der deutschen Geschichte zeigen sich in den einzelnen Essays, die François und Schulze zusammengetragen haben. Diese behandeln neben vielen anderen Erinnerungsorten auch die Berliner Mauer und den Palast der Republik, beides „Orte“, die auch in der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielen. Wie bei Nora werden bei François und Schulze neben materiellen Stätten auch immaterielle „Orte“ wie Personen (Goethe, Heinrich Heine), Gesten (der Kniefall) oder auch Lieder (die Nationalhymne) miteinbezogen.

Im Gegensatz zu ihnen beschränke ich mich auf Erinnerungsorte im ursprünglichen, wörtlichen Sinne, also auf im Raum lokalisierte Orte, die einen Bezug zur Vergangenheit aufweisen. Von Nora, François und Schulze übernehme ich jedoch den Hinweis, dass diese Orte nicht spontan entstehen, sondern bewusst geschaffen werden. Daran sind heute nicht mehr nur so genannte Gedächtnisspezialisten beteiligt:

In just a few years, then, the materialization of memory has been tremendously dilated, multiplied, decentralized, democratized. (Nora 1989: 14)

Bevor ich mich den Berliner Erinnerungsorten und ihren Produzenten zuwende, soll noch dargelegt werden, weshalb ich mich gerade auf die im Raum verankerten Erinnerungen konzentriere.

1.5 Das Gedächtnis im Raum

Wie wichtig der Raum für die Erinnerung ist, betonte bereits Halbwachs. Seiner Meinung nach gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt, und die Vergangenheit könnte nicht erfasst werden, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt (1992: 193-236, 2003: 163-166). Gebäude und Stadtlandschaften sind für Halbwachs neuralgische Anhaltspunkte des kollektiven Gedächtnisses und auch Ladd schreibt, dass Gebäude oder Bauwerke das kollektive Gedächtnis und dadurch die kollektive Identität prägen (1997: 11). Für eine Gruppe ist es deshalb von zentraler Bedeutung, wie sich ihr Gedächtnis im Raum materialisiert. Diesem Thema widmete sich Halbwachs im letzten von ihm selbst veröffent­lichten Buch, in la topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Darin wendet er sich – wie später Jan und Aleida Assmann – den kulturellen Manifestationen des Gedächtnisses zu.8 Es handelt sich bei dieser Studie um ein Inventar der Orte, „die das christliche Gedächt­nis als bedeutungsvoll empfand“ (2003: 13). Anhand von Pilgerberichten aus verschiedenen Epochen zeigt Halbwachs auf, dass die Örtlichkeiten des Heiligen Landes im Laufe der Zeit jeweils verschiedene Gesichter aufweisen. In ihnen prägen sich die Züge der christlichen Gruppen aus, die sie nach ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen gebildet und lokalisiert haben. Durch die Lokalisierung der Erinnerung bzw. durch die Erzählungen über gewisse Orte werden diese „zu greifbaren Zeugen, vermitteln eine sinnliche Gewissheit [...]. Die Vergan­genheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren“ (2003: 14). Die Möglichkeit der unmittelbaren Erfahrung der Vergangenheit zieht über die Jahrhunderte zahlreiche Pilger ins Heilige Land. Diese Pilger erwarten, auf ihrer Reise genau die Orte vorzufinden, von denen sie in ihrer Heimat bereits viel gehört haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel des Kreuzweges, der im 15. Jahrhundert fern von Jerusalem erfunden wurde.9 Erst einige Zeit später bildete sich die entsprechende Topogra­phie auch in Jerusalem heraus (2003: 118-119). Dies ist ein schönes Beispiel einer konstruierten Vergangenheit, die im Raum lokalisiert wird und sodann zu einer Pilgerstätte wird, die unzählige Besucher anzieht. Was sich tatsächlich an diesen Orten abgespielt hat, spielt dabei kaum eine Rolle. Wichtig ist nur, dass die Glaubensvorstellungen und Überzeu­gungen der christlichen Gemeinschaft an eine Lokalität gebunden werden, denn dadurch wird ihnen Glaubwürdigkeit verliehen, die das Fortbestehen des christlichen kollektiven Gedächtnisses garantiert (2003: 164). Halbwachs geht auch darauf ein, nach welchen Kriterien bestimmte Orte ausgewählt werden. Dabei zeigt er auf, dass einerseits zwar neue Erinnerungsorte geschaffen werden, um sich vom jüdischen Glauben abzugrenzen (2003: 185-186), dass man sich andererseits aber auch „auf die Autorität bestehender jüdischer Traditionen“ stützt, um die eigene Erzählung überzeugender erscheinen zu lassen.

Das christliche konnte einen Teil des kollektiven jüdischen Gedächtnisses nur in Besitz nehmen, indem es sich einen Teil seiner Ortserinnerungen einverleibte. (Halbwachs 2003. 185)

Die jüdischen und christlichen Erzählungen über einen Ort stützen und verstärken einander, schreibt Halbwachs (2003: 190). Verstärkt wird eine Erinnerung auch dadurch, dass sie an mehreren Orten im Raum ihre Spuren hinterlässt (2003: 191).

Konzentration an einem Ort, Differenzierung im Raum, Dualität an entgegengesetzten Stellen: es sind dies vertraute Mittel, deren sich Gruppen immer wieder bedienen, […] um ihre Erinnerungen an Orte, aber auch an bestimmte Zeiten, Ereignisse, an bestimmte Menschen festzuhalten und zu ordnen. (Halb­wachs 2003: 194)

Hier muss darauf hingewiesen werden, dass der Raum aus sozialwissenschaftlicher Optik immer auch sozial ist und dass sich in ihm Machtverhältnisse reflektieren. Wie beim Über­gang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis stellt sich auch hier die Frage, wer die notwendigen Ressourcen besitzt, um Orte der Erinnerung zu schaffen und so seine Vergangenheitsdeutung im Raum einzuschreiben. Viele erinnerungspolitische Kontroversen, von denen im Laufe dieser Arbeit noch einige angesprochen werden, können als Aushandlungsprozesse verstanden werden, bei denen es um unterschiedliche Interpretationen über Raum wie auch über Geschichte geht. Gemäss Binderversuchen die verschiedenen Akteure in diesem Prozess „Eindeutigkeit zu erzeugen“, um dahinter „gesellschaftliche Machtstrukturen zu verbergen“ (2003: 260).

Kollektive Erinnerungen hinterlassen also ihre Spuren im Raum und wenn wir uns fragen, welche Spuren der DDR in Berlin den Besuchern präsentiert werden, so fragen wir gleichzeitig auch danach, welche Erinnerungen für die deutsche Gesellschaft in der Gegenwart von Interesse sind bzw. welchen Akteursgruppen es gelingt, ihre Deutung der Vergangenheit durchzusetzen. Es muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass nicht nur Pilger Orte der Erinnerung aufsuchen, sondern dass das Gleiche auch für heutigen Touristen gilt, die dadurch die Erinnerungslandschaft mitprägen.

1.6 Orte der Erinnerung als touristische Attraktionen

Die Frage, welche Spuren der Vergangenheit im Stadtbild bewahrt bzw. errichtet werden, ist nicht nur abhängig von den Bedürfnissen und Wünschen der lokalen Gesellschaft. Erinnerungsorte sind sehr oft auch touristische Attraktionen, die von Besuchern aus aller Welt aufgesucht werden, die hier die Vergangenheit „erleben“ wollen.

In der Tat gibt es seit der Antike das Bedürfnis zu reisen, um an authentischen Orten einen unmittelbaren Zugang zu einer Person oder einem Ereignis der Geschichte zu gewinnen. (Assmann 2007: 217-218).

Aleida Assmann nennt als Beispiele aus der heutigen Zeit Touristen, die sich vor den Pyrami­den oder vor dem Taj Mahal fotografieren lassen, oder israelische Jugendliche, die Auschwitz besuchen. Sie alle gehen davon aus, „dass bestimmte Orte eine Kontaktzone zwischen Ge­genwart und Vergangenheit bilden, dass sich an diesen Orten ein geheimnisvolles Tor öffnet in eine vergangene Welt“ (2007: 218). Natürlich geht es dabei nicht nur um die konkrete Materialität eines Ortes. Erst durch die symbolische Bedeutung werden bestimmte Orte zu lieux de mémoire. Diese Bedeutungen ändern sich jedoch im Laufe der Zeit.

Wenn wir nun die Tatsache berücksichtigen, dass Berlin sich in den letzten Jahren zu einer der beliebtesten Reisedestinationen in Europa entwickelt hat, so ist es naheliegend, dass an der Produktion und Formung von Erin­nerungsorten auch die Tourismusindustrie beteiligt ist (vgl. Ashwort und Tunbridge 2000: 3, Coleman und Crang 2002). Dies ist umso mehr der Fall, als die Attraktivität Berlins sehr viel mit der jüngeren Geschichte zu tun hat. Aus diesem Grund sollen an dieser Stelle einige Studien und Theorien aus der sozialanthropologischen Tourismusforschung vorgestellt werden, die für die Untersuchung von Erinnerungsorten von Bedeutung sind. Es handelt sich dabei haupt­sächlich um Arbeiten, die der Frage nachgehen, wie im Tourismus bestimmte Bilder geschaffen werden, wie Länder, Gruppen und Geschichten repräsentiert werden und wie dabei unterschiedlichen Bedürfnisse aufeinandertreffen.Zu nennen ist hier beispielsweise das Buch Destination Culture von Barbara Kirshenblatt-Gimblett, welches genau diese Themen behandelt (1998). Es besteht aus mehreren Essays, deren Gemeinsamkeit die Frage nach der Logik und der Wirkung von Repräsentationen in Museen, an Festivals und Weltausstellungen, an historischen Orten und touristischen Attraktionen ist. Die zentrale Frage lautet: „What does it mean to show?“ (1998: 2) und ein wichtiges Themenfeld, auf das Kirshenblatt-Gimblett dabei eingeht, ist heritage, zu deutsch „Kulturerbe“.

While it looks old, heritage is actually something new. Heritage is a mode of cultural production in the present that had recourse to the past. Heritage thus defined depends on display to give dying economies and dead sites a second life as exhibitions of themselves. (Kirshenblatt-Gimblett 1998: 7)

Der Begriff heritage wird vor allem in der englischsprachigen Literatur oft verwendet und gilt als wichtiger Motor der Tourismusindustrie (Boniface und Fowler 1993: xi; Smith 2001: 196). Gemeint sind damit lokale Traditionen, kulturelle Artefakte, denkmalgeschützte Ge­bäude und Stadtbilder. Es sind Spuren aus der Vergangenheit, die benützt werden, um Orte oder Regionen in der Gegenwart zu positionieren und zu vermarkten. Ohne Zweifel ist dies in vielen Fällen eine lohnenswerte Strategie. Als besonders erfolgreiche Beispiele nennt Smith das schwedische Open-Air Museum Skansen sowie Ply­mouth Plantation in den USA, wo die Geschichte der Mayflower und das Leben im 17. Jahrhundert nachgelebt wird (2001: 197). Auch weniger erfreuliche Orte werden aufgesucht. So gehören seit den 1970er und 1980er Jahren die ehemaligen Konzentrationslager der Nationalsozialisten zu den „major historic attractions and tourist destinations“ in Europa (Hartmann 2001: 210) und in Vietnam besuchen Touristen die Tunnels, in denen sich während des Krieges die Vietcong versteckt hielten (Schwenkel 2006).

Damit die Relikte der Vergangenheit als Sehenswürdigkeiten erkennbar sind, müssen sie „markiert“ werden. Dieser Begriff stammt von MacCannell. Laut ihm besteht eine touristische Attraktion aus einer Kombination einer “site”, bestehend aus den intrinsischen Qualitäten eines Ortes, und einem “marker”, das heisst die Informationen über die „site“, durch die sie als bedeutsam hervorgehoben wird (1976: 110-111).“Markiert“ wird eine Sehenswürdigkeit durch Wegweiser, durch Informationstafeln vor Ort, durch Hinweise in Reiseführern oder im Internet, aber auch durch die Anwesenheit anderer Touristen, die dem Neuankömmling zeigen, dass es hier etwas zu sehen gibt. Diese Markierungen sakralisieren den Ort, der sonst kaum wahrgenommen würde. Das Resultat dieser Markierungen ist eine oft erstaunliche Übereinstimmung bei der Beurteilung, welches die wichtigsten Attraktionen eines Ortes sind:

Both the masses and the classes, if they have sufficient means to travel, will pay their respect to the most famous monuments […]. Contemporary tourism still has within it the routines of the pilgrimage: certain places constitute the sacred sites that must be visited. (Fainstein und Judd 1999: 268)

Daraus folgt, dass wir es hier – wie beim Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – mit einer weiteren Selektion zu tun haben. Hier sind es jedoch weniger die Bedürfnisse einer Gesellschaft nach Sinnstiftung, die die Auswahl beeinflussen, sondern die Anforderungen der Tourismusindustrie.

Das lokale Gedächtnis und die Vorstellungen der Touristen stimmen jedoch nicht immer überein. Das zeigt sich beispielsweise in Vietnam, wo internationale und lokale Besucher unterschiedliche Bilder des „Vietnam War“ bzw. des „American War“ mitbringen. Schwenkel schreibt dazu, dass „the current production of historical memory in Vietnam is, in many respects, a transnational negotiated process that involves variously situated actors“ (2006: 20).Mit den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen einheimischer und auswärtiger Besucher oder den Produzenten und den Konsumenten eines Erinnerungsortes beschäftigt sich auch Edward M. Bruner. Er untersucht Ausstellungen und Aufführungen für Touristen „not as simulacra but as contemporary rituals offered in a particular political and touristic context, in order to understand the mechanism of production, the artifices of display, and the contemporary meanings not only forthe tourists, but also forthe performers, the producers, the agents, and all those involved in the touristic presentation” (2005: 4). Da jeweils verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Vorstellungen an der Produktion beteiligt sind, spricht er von „contested sites“, in denen konkurrierende Narrative zusammentreffen (2005: 11). In New Salem beispielsweise, dem Wohnort Abraham Lincolns in Illinois, ist es der Konflikt zwischen der offiziellen Historiographie und der Volkskultur (2005: 127-144), in Massada, einem wichtigen Ort der jüdischen Geschichte, geht es um israelische Identität und Politik (2005: 169-188), und beim Elmina Castle in Ghana wünschen Einheimische und Touristen, dass jeweils eine andere Epoche der Vergangenheit im Mittelpunkt steht (2005: 101-123). An all diesen Orten vermischen sich touristische mit offiziellen, lokale mit globalen und hegemoniale mit marginalen Diskursen. Dementsprechend sieht Brunner den Vorteil der Analyse touristischer Orte darin, „that the researcher can examine local and world politics ethnographically as they manifest themselves in the site“ (2005: 12-13).

1.7 Erinnerungen und Diskurse

Die verschiedenen Akteure und Akteursgruppen, die in Berlin an der Debatte über die Erinnerung an die DDR im Stadtbild beteiligt sind, versuchen „Deutungen für soziale und politische Handlungszusammenhänge [zu] entwerfen und [ringen] um die kollektive Geltung dieser Deutungen“ (Schwab-Trapp 2001: 264). Wir können die verschiedenen Akteursgruppen in den Worten von Schwab-Trapp als „Diskursgemeinschaften“ bezeichnen (2001: 270). Diese „Trägergruppen konkurrierender Deutungen“ besitzen „gemeinschaftsspezifische Diskursordnungen“ (2001: 270), die jedoch nicht unabhängig sind von gesamtgesellschaftlichen Sag- und Nichtsagbarkeiten. Für die Legitimation ihrer Vergangenheitsdeutung beziehen sie sich auf Diskurse, die innerhalb ihrer Gruppe oder auch innerhalb der Gesamtgesellschaft als gültig angesehen werden. Diese Diskurse bestehen zum einen aus bestimmten Bildern und Vorstellungen über die DDR, zum anderen aus Argumenten und Deutungen der Gegenwart, die eine bestimmte Art der Repräsentation legitimieren sollen. Die Produktion von Diskursen wird immer „zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert, und kanalisiert,“ schreibt Foucault (1974: 11). Das bedeutet, dass, obwohl in Berlin die Geschichte auf unterschiedliche Arten und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, doch nicht alles über die DDR gesagt und noch viel weniger im Raum eingeschrieben werden kann. Jeder Akteur, der im heutigen Berlin eine Aussage über die DDR machen will – beispielsweise als Anbieter eines touristischen Pro­duktes –, agiert innerhalb einer diskursiven Formation, d.h. er muss sich auf Diskurse beziehen, die als gültig angesehen und somit sagbar sind und er wendet dabei bestimmte „diskursive Strategien“ an (Schwab-Trapp 2001: 273-276). Die verschiedenen Diskursgemeinschaften versuchen also, ihre Version der Vergangenheit im Raum einzuschreiben, denn „Voraussetzung und Fundament eines kulturellen Gedächtnisses ist die Überschreibung von Erinnerung auf materielle Datenträger“ (Assmann 2007: 235). Es braucht Institutionen wie Gedenkstätten, Museen, bestimmte Bauwerke, aber auch Rituale und Gedenktage, damit Erinnerungen nicht mit ihren Trägern verschwinden, sondern auch in Zukunft eine Rolle spielen. Das Resultat dieses Prozesses ist nicht belanglos, denn es geht hier um die Entscheidung, „welche Erinnerungen über die Generationenschwelle hinweg stabilisiert werden“ sollen, d.h. welcher Diskurs über die Vergan­genheit vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis übertragen wird (2007: 34).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Spuren der DDR, die wir heute im Stadtbild Berlins vorfinden, verschiedene Diskurse über die Vergangenheit repräsentieren, die eng mit Fragen der Identität und mit dem Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft und einzelner Bevölkerungsgruppen sowie mit Fragen der Macht verbunden sind. Wenn in Berliner Museen, Gedenkstätten und im Stadtbild Aussagen zur DDR gemacht werden, stehen dahinter immer Diskursgemeinschaften, die damit spezifische Anliegen verfolgen und die ihre Ver­gangenheitsdeutung mit Bezug auf bestimmte Diskurse und Argumentationsmuster legitimieren.

Teil 2: Forschungsprozess

In diesem Kapitel wird der Forschungsprozess dargestellt. Der grösste Teil der Daten wurde während mehreren Forschungsaufenthalten in Berlin erhoben, die zwischen Januar und September 2008 stattfanden und zwischen einigen Tagen und mehreren Wochen dauerten.10

2.1 Datenerhebung

Die Feldforschung giltnicht nur als grundlegendes empirisches Vorgehen, durch das Anthro­pologen ihre Daten erheben, sondern auch als Charakteristikum und Paradigma des Fachs. Prinzipiell meint Feldforschung, dass die Forschenden ihre Daten im ‚Feld‘, d.h. in der konkreten Lebenswelt der Untersuchten selbst erheben (Beer 2003: 11).Früher waren das im Allgemeinen kleine, aussereuropäische, möglichst isolierte Gemeinschaften, in denen die Forscher eine gewisse Zeit lebten und durch Beobachtung und gleichzeitige Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben versuchten, eine umfassende Erfassung und so auch Nähe zum anderen und Distanz zum eigenen zu gewinnen. Mit den Veränderungen, die eine sich „glo­balisierende“ Welt mit sich bringt, haben sich die Forschungsfelder gewandelt und geöffnet. Heute werden Forschungen in einer Vielfalt von kulturellen und gesell­schaftlichen Kontexten durchgeführt. Je nach Forschungsfrage und Umfeld haben sich die For­schungsmethoden natürlich angepasst, die Feldforschung nimmt jedoch auch heute noch eine zentrale Position ein. Ein Merkmal der Feldforschung ist ihre Methodenvielfalt bzw. die Anwendung multipler Forschungsstrategien. Dazu gehören Interviews und informelle Ge­spräche ebenso wie die teilnehmende Beobachtung und das Einbeziehen und Sammeln von relevanten schriftlichen Dokumenten. Die Entscheidung, welche Methoden konkret ange­wandt und miteinander kombiniert werden, orientiert sich an der spezifischen Fragestellung und dem Kontext der Forschung (2003: 11-12). In diesem Zusammenhang scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine sozialanthropologische Forschung immer als Prozess zu verste­hen ist. Dabei liefert zwar die Forschungsfrage den Fokus der Arbeit, kann sich aber meist – anders als bei quantitativen Ansätzen – während der Untersuchungnoch erheblich verändern (2003: 14). Auch in dieser Forschung haben Erkenntnisse aus der Datenerhebung dazu geführt, dass die Forschungsfra­gen teilweise umformuliert und das Vorgehen angepasst wurde.

Schriftliche Dokumente

Da ich mich nicht nur für das Bild der DDR interessiere, das an verschiedenen Erinnerungs­orten vermittelt wird, sondern auch dafür, wie man sich in Berlin bei der Vermarktung der Stadt auf die Vergangenheit bezieht, begann meine Datenerhebung mit den Werbeprospekten der Tourismusorganisationen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um diverse Prospekte und Reisekataloge, welche ich von der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT)in Zürich er­hielt.11 Des Weiteren konsultierte ich die Website der Berlin Tourismus GmbH und zog verschiedene Reiseführer (Polyglott 2005, DuMont 2001, Maurer 2001) hinzu. Ausgehend von diesen Datenquellen konnte ich mir zum einen ein Bild machen, welchen Stellenwert die Geschichte der DDR im touristisch vermarkteten Bild Berlins einnimmt. Zum anderen erfuhr ich dank diesen Unterlagen, die als Markierungen im Sinne von MacCannell angesehen werden können, welche Sehenswürdigkeiten bzw. Erinnerungsorte es in Berlin überhaupt gibt, die einen Bezug zur DDR aufweisen, d.h. ich erhielt dadurch einen ersten Überblick über das Forschungsfeld.

Auch weitere schriftliche Quellen wurden herangezogen. Dazu muss gesagt werden, dass es eine unüberschaubare Fülle von schriftlichem Material zum Thema gibt: eine beträchtliche Anzahl von Publikationen aus unterschiedlichen Disziplinen, Berge von medialen Berichten und Artikeln in regionalen und überregionalen Zeitungen, Stellungsnahmen und Selbst-Repräsentationen im Internet, Konzepte verschiedener politischer Gremien und Gedenkstät­ten, etc. Es war deshalb unerlässlich, eine Auswahl zu treffen. Grundsätzlich flossen die meisten schriftlichen Dokumente nur ergänzend zu den Interviews und den Beobachtungsno­tizen in die Analyse ein. Eine Ausnahme machte ich bei denjenigen Dokumenten, die mir direkt von den Interviewpartnern abgegeben wurden bzw. die von ihnen selbst geschrieben wurden (v.a. Presseerklärungen, Stellungsnahmen, Konzepte). Auch die Werbematerialien der verschiedenen Gedenkstätten und der touristischen Angebote sowie die wichtigsten Veröf­fentlichungen aus der Politik12 erachtete ich als zentral und zog sie deshalb von Beginn an mit ein.

Beobachtungen

Die verschiedenen Erinnerungsorte, die ich anhand des Werbematerials und der Reiseführer identifiziert hatte, suchte ich während meiner Aufenthalte in Berlin auf. Ich sah mir die Ausstellungsräume an und unterhielt mich mit anderen Besuchern und mit Mitarbeitenden. Bei diesen Besuchen fotografierte ich jeweils viel (sofern es erlaubt war) und notierte sehr ausführlich was gezeigt wurde sowie meine persönlichen Eindrücke und die Kom­mentare und Bemerkungen meiner Gesprächspartner. Zum Teil war es mir auch möglich, an Führungen teilzunehmen, deren Inhalt ich stichwortartig notierte. Daneben nahm ich auch an mehreren Stadtführungen zu Berlin im Allgemeinen und zu spezifischen Aspekten der DDR-Geschichte teil.

Ich besuchte ausserdem gezielt Veranstaltungen, die für mein Thema von Interesse waren. Es handelte sich dabei unter anderem um Podiumsdiskussionen, die von politischen Parteien organisiert wurden, oder um Informationsveranstaltungen für die Stadtbevölkerung, an denen bestimmte Projekte vorgestellt wurden. Auch hier nutzte ich die Gelegenheit für informelle Gespräche mit den anderen Teilnehmern. Diese Veranstaltungen waren auch eine gute Gelegenheit, um Kontakte mit potentiellen Interviewpartnern zu knüpfen.

Meine Beobachtungen und Gesprächsnotizen notierte ich in einem Feldtagebuch, das ich während der Datenerhebung ständig bei mir trug.

Interviews

Im Zentrum meiner Datenerhebung standen qualitative Interviews. Bei der Auswahl der Interviewpartner achtete ich darauf, dass möglichst die verschiedenen Interessen und Per­spektiven berücksichtigt wurden. Da diese Interessen und Perspektiven am Anfang der Forschung noch nicht feststanden, ergab sich die definitive Auswahl der Inter­viewpartner erst im Laufe der Forschung. Befragt wurden eine Vertreterin der Berlin Tourismus GmbH (BTM), ein Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Ge­schäftsführer, Inhaber oder Mitarbeiter verschiedener Gedenkstätten, Museen und anderer Erinnerungsorte, Vertreter von Vereinen und Bürgerinitiativen wie beispielsweise der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), Bewohner Ost- und Westberlins sowie vereinzelt auch Touristen aus aller Welt. Zum Teil handelt es sich bei den Befragten um öffentlich bekannte Personen. Auch wenn ich bei der Präsentation der Daten keine Namen sondern nur die Institution nenne, ist es bei diesen Personen nicht immer mög­lich, Rückschlüsse auf ihre Identität auszuschliessen. Bei den Personen, die keine öffentliche Funktion ausüben, nenne ich, wenn überhaupt, nur einen fiktiven Namen und den Herkunftsort.

Die Gesprächeführte ich in Form von semistrukturierten Leitfaden-Interviews. Der Leitfaden, der je nach Interviewpartner anders aussah, wurde dabei sehr flexibel gehandhabt, um möglichst viel Freiraum zu gewährleisten. Ziel war es, dass die Befragten ihre eigenen Schwerpunkte setzen konnten, ohne dabei allzu sehr vom Thema abzuschweifen. Die meisten Interviews nahm ich auf Mini-Kassette auf und transkribierte sie anschliessend. Zum Teil war dies jedoch nicht möglich bzw. nicht erwünscht. In diesen Fällen nahm ich während des Gespräches ausführlich Notizen, die ich gleich anschliessend ergänzte und niederschrieb. Ort und Zeitpunkt des Gesprächs wurde jeweils von den Interviewpartnern gewählt. Manchmal luden sie mich zu sich nach Hause ein, andere traf ich am Arbeitsort oder in Cafés.

Wie bereits erwähnt, wurden auch sehr viele informelle Gespräche geführt. Wann immer sich die Möglichkeit ergab, unterhielt ich mich mit Leuten über mein Thema und erhielt so zu­sätzlich viele wertvolle Informationen.

2.2 Vom Feld zum Text

Die erhobenen Daten wurden als erstes in verschiedene Kategorien eingeteilt, die sich aus den in der Einleitung genannten Fragestellungen ergaben. D.h. die Diskurse, die im Stadtbild über die DDR vermittelt werden, wurden unterschieden von Aussagen zu den Produzenten der Erinnerungslandschaft und diese wiederum von den Diskursen und Argumentationsmuster, auf die die sozialen Akteure sich in der Diskussion beziehen.

Die Daten innerhalb der einzelnen Kategorien wurden anschliessend codiert und ich kristalli­sierte die Schlüsselkategorien heraus, die mir jeweils als die zentralen Referenzpunkte erschienen. Dies geschah aufgrund von formalen und inhaltlichen Kriterien (gehäuft auftau­chende Begriffe und Formulierungen einerseits, Bedeutungen andererseits).In einem zweiten Schritt arbeitete ich Subkategorien heraus, nach denen ich die Textewiederum kodierte, um die entsprechenden Textstellen den Referenzpunkten zuzuordnen, so dass diese zunehmend ‚fixiert’, d.h. mit Bedeutung ‚gefüllt’ wurden. In einem dritten Schritt suchte ich das Verhält­nis der Referenzpunkte zueinander zu bestimmen.

Die Darstellung der Resultate im vierten Teil dieser Arbeit gliedert sich im Grossen und Ganzen gemäss der in diesem Prozess entwickelten Kategorien.

[...]


1 Die Linke entstand 2007 aus dem Zusammenschuss der PDS (früher SED) und der WASG (Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative).

2 Zu den unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Ost- und Westdeutschland siehe z.B. Assmann (2007) und Moller (2003).

3 Die Begriffe „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ werden in der Sozialanthropologie auch anders verwendet, nämlich nicht nur als Erinnerung an konkrete Ereignisse, sondern allgemeiner, wenn „a particular past perseveres because it remains relevant for later cultural formations“ (Olick und Robbins 1998: 129). Jede Spur von „Vergangenheit in der Gegenwart“ kann als Gedächtnis bezeichnet werden, auch wenn es dabei weder um Wahrnehmung noch um Erinnerung geht. Verschiedene Autoren sprechen auf Grund des unterschiedlichen Gebrauchs gleicher Begriffe von „semantic overload“ (Berliner 2005: 197) und von „certain dangers of overextension“ (Fabian 1999: 51). Da es in dieser Arbeit um bewusste Erinnerungsarbeit geht, um die Erinnerung an konkrete Ereignisse, werde ich nicht näher auf diesen zweiten Bedeutungsinhalt eingehen.

4 Halbwachs stiess 1905 zu den von Durkheim gegründeten Année Sociologique und gilt als einer der ersten wirklich empirisch arbeitenden Soziologen der Zwischenkriegszeit (Krämer 2000: 252).

5 Mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses gehen die Assmanns über Halbwachs hinaus, für den Gedächtnis immer mémoire vécue, d.h. lebendiges, verkörpertes Gedächtnis war. Jenseits dieser Grenze lag die ‚Tradition‘, die er dem Gedächtnis gegenüberstellte. Für Jan und Aleida Assmann ist dieser Unterscheidung nicht haltbar, da auch die Tradition ständig verkörpert wird. Was bei Halbwachs ‚Tradition‘ hiess, bezeichnen sie deshalb als ‚kulturelles Gedächtnis‘. Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis sind beides Aspekte des kollektiven Gedächtnisses (Assmann 2000: 19).

6 Trotzdem werden in der angloamerikanischen Literatur die materiellen Ausdrucksformen des kollektiven Gedächtnisses oft als cultural memory bezeichnet (Erll 2005: 102).

7 Erinnerungsorte sind bei ihm somit nicht in einem ausschliesslich räumlichen Sinne zu verstehen.

8 Halbwachs überschreitet hier die Grenze zwischen mémoire vécue und tradition, die er in seinen früheren Werken noch für zentral hielt (vgl. 1997: 130-131).

9 Johannes von Löwen, der selber nie im Heiligen Land gewesen war, schrieb eine Art Handbuch, in dem er verstreute Erinnerungsstücke aus Jerusalem aufeinander abstimmte. Diese „mystische und willkürliche Schöpfung“ war die Grundlage einer Schrift des Holländers Adrichomius, die zum „klassischen Handbuch der Heiligen Stätten bis ins 19. Jahrhundert“ wurde und die auch einen Beschrieb des Kreuzweges enthält (Halbwachs 2003: 118).

10 Folglich werden alle Aktivitäten, die 2009 im Rahmen des 20-jährigen Jubiläums des Mauerfalls in Berlin durchgeführt werden, in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.

11 Die berücksichtigten Prospekte und Reisekataloge sind in der Bibliographie aufgeführt.

12 Dazu gehören insbesondere das Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer des Berliner Senats (Flierl 2006) und die Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘ (Sabrow et al. 2007).

Excerpt out of 113 pages

Details

Title
Mehr als Mauer und Stasi. Die Berliner Erinnerungslandschaft zur DDR
College
University of Bern  (Institut für Sozialanthropologie)
Author
Year
2009
Pages
113
Catalog Number
V512613
ISBN (eBook)
9783346101891
ISBN (Book)
9783346101907
Language
German
Keywords
Berlin, DDR, Erinnerungskultur
Quote paper
Sarah Brügger (Author), 2009, Mehr als Mauer und Stasi. Die Berliner Erinnerungslandschaft zur DDR, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512613

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