Geschlechterkonstruktionen im Fußball. Über den Einstiegsprozess weiblicher Personen in Ultragruppierungen anhand von Union Berlin


Masterarbeit, 2018

93 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Geschlechterkonstruktionen im Fußball – über den Einstiegsprozess weiblicher Personen in Ultragruppierungen am Beispiel von Union Berlin

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Union Berlin
2.1 Vorreiter des 1. FC Union Berlin
2.2 Gründung - Heute
2.3 Fankultur

3 Deutsche Fankultur
3.1 Geschichte
3.2 Kuttenfans
3.3 Hooligans

4 Ultras
4.1 Entstehung der Ultrabewegung in Italien
4.2 Entstehung der deutschen Ultrabewegung
4.3 Merkmale der Ultraszene
4.3.1 Ultras und Gewalt
4.3.2.Ultras und Politik
4.3.3 Ultras in der öffentlichen Darstellung
4.3.4 Geschlechter in der Ultraszene

5 Geschlechtsidentitäten
5.1 Evolutionäre Konstruktion der Geschlechtsidentität
5.2 Heutige Geschlechterkonstruktion
5.3 Geschlechtszugehörigkeit als Exklusionskriterium
5.4 Der Fußballsport als Geschlecht
5.5 Das weibliche Geschlecht in hegemonialen Sportkulturen

6 Methodisches Vorgehen
6.1 Datenerhebung
6.1.2 Das narrative Interview
6.1.3 Leitfadeninterview
6.2 Datenauswertung

7 Ergebnisse
7.1 Untersuchungsergebnisse
7.2 Ergebnisdiskussion

8 Fazit

9 Literatur

10 Anhang
10.1 Leitfadeninterview

Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 (Seite 10): Weihnachtssingen Union Berlin: http://www.kicker.de/news/fussball/2bundesliga/startseite/641860/2/slideshow_rekordbeteiligung-beim-union-weihnachtssingen.html (Abgerufen am 25.09.2017)

Abbildung 2 (Seite 14): Union Berlin WM Wohnzimmer: http://www.t-online.de/sport/fussball/wm/id_69824886/3000-wm-fans-mit-eigenem-sofa-im-stadion.html (Abgerufen am 03.10.2017)

Abbildung 3 (Seite 24): Protestchoreografie der Ultras: https://www.faszination-fankurve.de/index.php?head=Fick-dich-DFBquot-Aktionsspieltag-Proteste-gehen-weiter&folder=sites&site=news_detail&news_id=16447 (Abgerufen am 10.10.2017)

Abbildung 4 (Seite 25): Fahnen, Spruchbänder und Pyrotechnik: http://www.ultras-tifo.net/photo-news/4973-union-berlin-eintracht-braunschweiger-15-09-2017.html (Abgerufen am 10.10.2017)

Abbildung 5 (Seite 39): Choreografie der Heidenheimer Societas: https://www.faszination-fankurve.de/index.php?head=Ausstellung-ueber-weibliche-Fankultur-geplant&folder=sites&site=news_detail&news_id=15187 (Abgerufen am 08.11.2017)

1 Einleitung

„Frauen haben, vereinfacht gesagt, weder Mitsprache- noch Mitfühlrechte am Fußball“ (Sülzle, 2011, S. 298). Dieses Zitat unterstreicht das Fehlen einer geschlechtsunabhängigen, gleichwertigen Stellung der Frau im Fußballstadion. Und das trotz der globalen Begeisterung für den Fußballsport, der ein weltweites Phänomen darstellt und zugleich Magnet für Abermillionen Menschen ist. Allein im Rahmen der Fußball Weltmeisterschaft 2002 in Korea und Japan sahen 28,8 Milliarden Menschen die Übertragung im TV (vgl. Eisenberg, 2004). Dennoch wird dieser Sport häufig noch als Männerdomäne betrachtet. Sepp Herberger äußerte sich einst wie folgt dazu:

"Fußball ist keine Sportart, die für Frauen geeignet ist, eben schon deshalb, weil er ein Kampfsport ist" (http://www.sueddeutsche.de/sport/sprueche-zum-frauenfussball-ernst-kuzorra-seine-frau-ihr-stadion-1.1107006-9). Noch drastischer formulierte es Gerd Müller:

"Ich glaube nicht, dass dieser Sport genauso populär wird wie unser traditioneller Fußball. Warum sollen auch Frauen hinter dem Ball herlaufen? Sie gehören doch hinter den Kochtopf. Meiner Frau würde ich nicht erlauben, Fußball zu spielen." (http://www.sueddeutsche.de/sport/sprueche-zum-frauenfussball-ernst-kuzorra-seine-frau-ihr-stadion-1.1107006-11)

Diese und ähnliche Aussagen sind heutzutage noch immer keine Seltenheit. Und das obwohl es gegenwärtig bundesweit 5819 spielberechtigte Frauen Teams gibt. Das sind 44 Mannschaften mehr als im Vorjahr (vgl. DFB). Der Fakt, dass der Fußball im Allgemeinen nicht ausschließlich durch und von Männern geprägt ist, zeigt der Fall Claudia Neumann. Die Deutsche Moderatorin kommentierte 2011 im Rahmen der Frauen Fußball Weltmeisterschaft ein Spiel im Live TV und 2016 sogar erstmals ein EM - Spiel der Männer (vgl. https://presseportal.zdf.de/biografie/Person/claudia-neumann/).

Die Tatsache, dass nun auch eine Frau in der vermeintlichen Männerdomäne Fußball kommentierte, stieß offensichtlich nicht überall auf Zustimmung. Sie musste sich Beschimpfungen aussetzen und wurde angefeindet (vgl. https://www.tz.de/sport/fussball/fussball-em-ere25906/em-2016-shitstorm-gegen-zdf-reporterin-claudia-neumann-zr-6499757.html).

Frauen studieren, machen Karriere und pilgern nun auch noch Spieltag für Spieltag in Deutschlands Stadien. Sind die Grenzen der männlichen Toleranz nun erreicht?

Betrachtet man nun die Fankultur, dann stellt man fest, dass der Anteil der weiblichen Personen im Stadion steigt. Der Frauenanteil liegt im Durchschnitt bei 20-22 % und hat sich verdoppelt, vergleicht man Werte aus den 80er Jahren (vgl. http://www.tagesspiegel.de/sport/fussball-als-kinoersatz-der-frauenanteil-der- stadionbesucher-nimmt-immer-mehr-zu/180018.html).

Dennoch werden dem Fußballsport noch immer männliche Attribute zugeschrieben und somit die Konstruktion von Männlichkeit beobachtet. Im Gegensatz dazu wird bei deutlich härteren Sportarten wie bspw. dem Boxen weniger ein Männlichkeitsideal konstruiert (vgl. Marschik, 2003, S. 10). Wie stark die mit dem Fußballsport konnotierte Männlichkeit ist, zeigt Sülzle (2011, S. 208) deutlich: „Im Gegensatz zu manch anderen Sportarten sind gemischte Mannschaften im Fußball undenkbar“. Dem Fußballsport und seinen Fans in den Fanszenen werden bestimmte Attribute zugeschrieben:

„Kampf, Treue, Ehre, Kameradschaft, Emotionen, Körperlichkeit, Gewalt, Wettbewerb und Hierarchie“ (Ebd., S.218).

Allesamt Maxime, die nicht dem weiblichen Idealbild entsprechen. Die weibliche Geschlechterkonstruktion erfolgt gerade im Stadion über Klischees. Bier trinken, Parolen brüllen und Gegner anfeinden; das passt nicht zu einer Frau. Das Klischee von Weiblichkeit äußert sich darin, „sich für Männer herauszuputzen, sich zu schminken und […] Kleidung zu tragen, wie etwa kurze enge Röcke“ (Ebd., S. 216).

Während Frauen gegenwärtig zwar häufig Fußballspiele verfolgen, ist der Besuch im Stadion noch immer mit Klischees verbunden. Mit dem Entstehen einer neuen Fanszene werden Geschlechtsstereotypen weiterhin bedient und das weibliche Geschlecht größtenteils auch aufgrund der Stereotypen von dieser Szene isoliert.

Im Laufe der 90er Jahre entwickelte sich in den Fußballstadien Deutschlands mit den Ultras eine neue Fankultur, die sich fortan besonders auffällig für ihren Verein einsetzt (vgl. Pilz, G., Behn, S., Klose, A., Schwenzer, V., Steffan, W., Wölki,F., 2006, S.71) und diesen mit

„komplexen Gesängen […] Trommeln […], Fahnen, Flaggen, Banner, Doppelhalter, Choreografien oder Pyrotechnik wie bengalische Fackeln, Leuchtraketen oder Rauchbomben“

unterstützt (Brenner, 2009, S. 75/76). Dadurch drücken Ultras ihre bedingungslose Unterstützung gegenüber dem Verein aus und wollen darüber hinaus eine Stimmungsverbesserung im Stadion erzeugen (vgl. Duttler und Haigis, 2016, S. 58). Insbesondere „jugendliche Fußballanhänger“ verfallen dieser Fankultur und werden Teil der Bewegung (Pilz, 2006, S.71). Frauen finden in dieser Fanbewegung kaum Aufmerksamkeit und haben es schwer sich dort zu etablieren. Ein Ultra äußerte sich im Interview mit Sülzle (2011, S. 214) folgendermaßen:

„Aber beim Fußball würde ich mir eben wünschen, dass diese Komponente (Frau) nicht existiert, da ich am Spieltag […] mit meinen Leuten Sachen machen will. […] eigentlich wäre es mir lieber, wenn sie daheim bleibt“.

Die intolerante Haltung gegenüber weiblichen Personen zeigt die offensichtliche Unvereinbarkeit von Ultrakultur und Frauen. Ein Ultra versucht es auf den Punkt zu bringen: „Es gibt kaum ein Mädchen, dass sich richtig Ultra nennen kann, bei der man sagen kann, dass sie sich richtig für ihren Verein engagiert“ (Pilz et al., 2006, S. 87).

Die Männlichkeitskonstruktion in Ultragruppierungen äußert sich in Diskriminierung des weiblichen Geschlechtes, indem man sich abgrenzt und darüber hinaus eine männlich hegemoniale Ordnung durchsetzt (vgl. Sülzle, 2011, S 349/350). Aus Sicht des männlichen Geschlechts könne man Frauen nicht als wahre Fans bezeichnen. Ihnen kommt vielmehr eine begleitende Funktion zu (Ebd., S. 278). Dazu wird ihnen Insbesondere in Fankreisen die Fachkompetenz abgesprochen (vgl. Ebd., S.285).

Frauen und Männer unterliegen nach wie vor den Geschlechtsstereotypen. Die Gesellschaft formt einen geschlechtsspezifischen Soll-Zustand, der eine Erwartungshaltung an Mann und Frau mit sich bringt. So gelten Frauen als das passive, empathische Geschlecht mit einem eher fürsorglichen Beruf, wohingegen Männer bestimmen sollen und ihnen die Rolle des Ernährers zukommt. Werden die geschlechtsbezogenen Erwartungen nicht erfüllt, kann dies zu Zurückweisung führen (vgl. Eckes, 2010, S.179-180). Das bedeutet, dass „Geschlechterstereotype […] in hohem Maße änderungsresistent“ sind (Ebd., S. 178). Geschlechterstereotype sind auch im Fußballstadion bzw. der Ultraszene festzustellen. Ultragruppierungen sind organisierte Strukturen, in denen es sogenannte Vorsänger gibt, die die Stimmung in der Fankurve anheizen. Ein Großteil der Ultras schließt es jedoch aus, einer weiblichen Person als Vorsängerin zu folgen (vgl. Pilz et al., 2006, S. 90). Durch Ausgrenzung und Isolation des weiblichen Geschlechts, wird ein ausschließlich durch Männlichkeit geprägter Raum geschaffen, der es Frauen deutlich erschwert, über die Rolle der Begleiterin hinauszukommen. Die in der Ultraszene existente Dominanz der Männer macht den Einstieg in eine solche Gruppierung, ebenso wie den Akzeptanzerwerb für weibliche Ultraanwärter enorm schwer (vgl. von der Heyde, 2016, S. 106). Die Ultraszene soll geprägt von Maskulinität sein, denn ausschließlich dadurch verschafft sie sich Anerkennung nach außen (vgl. Ebd., S. 110). Offensichtlich stellt die Akzeptanz weiblicher Personen in einer Ultragruppe eine enorme Herausforderung dar, die ausschließlich durch das Unterordnen in die interne Hierarchie erreicht wird (vgl. Ebd., S. 110).

Meine Arbeit soll sich mit dem Thema der Geschlechterkonstruktion im Fußball auseinandersetzen und dabei den Einstiegsprozess von Frauen in der Ultragruppierung des Fußballvereins 1.FC Union Berlin näher beleuchten. Wie gelangen Frauen in diese Szene und wie können sie Akzeptanz erreichen? Sind der Fußballsport und die damit verbundene Ultraszene tatsächlich eine reine Männlichkeitskultur, die sich bewusst vom weiblichen Geschlecht abwendet?

In der Theorie möchte ich mich zunächst mit der Darstellung des Vereins Union Berlin und seiner Vereinsgeschichte beschäftigen, sowie dessen Fankultur ergründen, bevor es inhaltlich in einem nächsten Block um die Geschlechterkonstruktion geht. Dabei sollen die evolutionären, sowie heutigen Geschlechterverhältnisse aufgezeigt und daraufhin die Position des weiblichen Geschlechts in hegemonialen Sportkulturen erläutert werden. Darüber hinaus werde ich kurz darauf eingehen, wie sich der Fußballsport eine geschlechtliche Identität aneignet.

Der darauf folgende Themenblock soll die Entstehung der Ultras, die öffentliche Wahrnehmung, sowie deren Ideologie erläutern und außerdem die Geschlechterverhältnisse in der Ultraszene zeigen.

Basierend auf den genannten Punkten werde ich weiterführend Leitfadeninterviews mit männlichen und weiblichen Ultras des 1.FC Union Berlin führen, um dadurch Erkenntnisse zu den vorherrschenden Männlichkeits- bzw. Weiblichkeitsvorstellungen zu gewinnen und insbesondere die Frage beantworten zu können, wie Frauen der Einstieg in eine Ultragruppierung gelingt und sie in dieser als vollwertiges Mitglied akzeptiert werden.

2 Union Berlin

Im bundesweiten Fußballgeschäft hat der 1. FC Union Berlin den Ruf „ als der anderen Verein [und] wird […] auch als Kultklub bezeichnet“ (Fiebrig, 2014 ). Der Union Spieler Marcel Hartel sagte in einem Interview mit dem Fußballmagazin 11 Freunde folgendes:

„Die Stimmung ist wirklich unfassbar geil. […]. Als ich zum ersten Mal aus dem Tunnel aufs Feld gelaufen bin, und die Hymne ertönte, hatte ich Gänsehaut. Und die, die bin ich bis heute nicht losgeworden“ (Klee, 2017).

Die Besonderheit des Vereins zeigt sich insbesondere im Verhältnis von Verein zu Fans. „Andere Vereine haben Fans – bei Union haben die Fans einen Verein“ (https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Im weiteren Verlauf werden zunächst einmal die Vereinsgeschichte und Entstehungsprozesse beschrieben und im abschließenden Punkt dieses Kapitels auf die Fankultur und die Merkmale des 1. FC Union Berlins eingegangen, die diesen Verein zu einem besonderen machen.

2.1 Vorreiter des 1. FC Union Berlin

Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte der Fußballsport seine ersten Zuläufe. Auch in Berlin Oberschöneweide, wo sich „im Zuge der Industrialisierung […] viele Familien ansiedelten“ war das Interesse für den Fußballsport groß (Koch, 2013, S.12). Als Vorläufer des 1. FC Union Berlin gilt der Fußball Club Olympia, der sich 1906 aus dem Fußballverein Excelsior bildete (vgl. https://www.fc-union- berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Eine Reihe junger Männer erweckte die Idee eines eigenen Fußballvereins zum Leben und sie „gründeten […] den Fußball-Club Olympia“ (Koch, 2013, S.12). Aufgrund der doch sehr einfach Gegebenheiten vor Ort, wie bspw. einer „Querlatte aus verknoteten Seilen“ und fehlenden Spielutensilien verschwand der Verein jedoch entsprechend schnell von der Fußballbühne (Luther und Willmann, 2010, S. 15). In der Folgezeit wurde ein neuer Verein, der Lichtenberger S.C. Frisch Auf ins Leben gerufen. Parallel dazu separierte sich der Verein Excelsior in Preußen Excelsior, sowie Vorwärts Excelsior. Beide Vereine waren nur von temporärer Dauer, sodass sie sich schlussendlich mit Lichtenberg Frisch Auf zusammenschlossen und im Juni 1906 den Verein Olympia Oberschöneweide gründeten (vgl. https://www.fc-union- berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Im weiteren Verlauf verbündete man sich mit dem Verein B.T.u.F.C. Helgoland/Abteilung Oberschöneweide. Nachdem der sportliche Erfolg ausblieb, entschied man sich in Oberschöneweide für eine Vereinigung mit BTuFC Union 1892, aus dem der B.T.u.F.C Union 1892/Abteilung Oberschöneweide, IV Mannschaft resultierte (vgl. Luther und Willmann, 2010, S. 16). Von da an „ist der Name Union in Oberschöneweide zu Hause“ (Ebd., S.16). Nachdem sich die Mannschaft im Spielbetrieb etablierte und zusehend Erfolge feierte, agierte man alsbald als „II Mannschaft“ (Ebd., S.17). Angesichts der „Überlegenheit der Abteilung aus Schöneweide […] beschloss [man] die Lösung von Union 92“ (Ebd., S.17). Aus Verbundenheit wurde jedoch „das Wort >>Union<<“ beibehalten, sodass 1909 aus Olympia Oberschöneweider der Sport – Club Union Oberschöneweide wurde (Ebd., S.18). Im gleichen Jahr erhielt der Verein die Zulassung für den Spielbetrieb und startete „in der untersten Berliner Spielklasse“ (Ebd., S. 18). In den Folgejahren dominierte das Team, konnte den Titel des Stadtmeisters erringen, was zugleich für die Teilnahme an der Deutschen Meisterschaft berechtigte und stieg in die VBB-Oberliga auf. Oberschöneweide war zu der Zeit ein Industrieviertel, das sich nach und nach ausdehnt. Dadurch konnten die Spiele nicht mehr am dortigen Standort ausgeführt werden (vgl. https://www.fc- union- berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Der Umzug in das Stadion an „der Königlichen Jägerei bzw. Alten Försterei“ im Jahr 1920 war die Folge (Luther und Willmann, 2010, S. 20). Im gleichen Jahr wurde der amtierende Deutsche Meister, der 1. FC Nürnberg im Rahmen der Stadioneröffnung eingeladen und

gewann „vor der damaligem Rekordkulisse von über 7.000 Zuschauern, bei einem Fassungsvermögen von 10.000 […] glücklich mit 2:1 über den Berliner Meister“ (Ebd., S. 21).

Der Gewinn der Berliner Stadtmeisterschaft 1923 berechtigte Union Oberschöneweide erneut an der Teilnahme der deutschen Meisterschaft. Nachdem u.a. Arminia Bielefeld und Fürth besiegt wurden, erreichte die Mannschaft das Finale. Der Finalgegner Hamburger SV erwies sich vor 64.000 Menschen jedoch als zu stark, sodass Union 0:3 unterlag (vgl. Luther und Willmann, 2010, S. 22/23). Neben einigen Auf- und Abstiegen wurde in der Saison 1939/1940 drittmalig die Stadtmeisterschaft gegen Blau-Weiß 90 gewonnen und die erneute Qualifikation für die Deutsche Meisterschaft erreicht. Im Viertelfinale mussten sich die Unioner gegen Rapid Wien geschlagen geben (vgl. https://www.fc- union- berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr der Fußball fundamentale Einschnitte:

„Die Alliierten sahen die Sportbewegung […] als Teil des nationalsozialistischen Systems und drängten auf eine grundlegende Änderung ihrer organisatorischen Strukturen. Die Vereine sollten auf keinen Fall wieder als >>Pflanzstätten soldatischer Tugenden>> missbraucht werden“ (Luther und Willmann, 2010, S. 32).

Aus diesem Gedanken heraus entstanden neue Vereine mit neuer Namensgebung. Der SC Union Oberschöneweide wurde zur SG Oberschöneweide. Durch den Triumph in der damals stärksten Liga, der Stadtliga nahm das Team wiederrum an der Deutschen Meisterschaft teil, konnte sich gegen den FC. St. Pauli aber nicht durchsetzen und schied mit einem 0:7 aus (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Wenige Jahre später waren die Vereine legitimiert, ihren ursprünglichen Vereinsnamen wieder anzunehmen. Aus der SG Oberschöneweide wurde jedoch nicht SC Union Oberschöneweide sondern die SG Union Oberschöneweide (vgl. Luther und Willmann, 2010, S. 35).

„Im Nachhinein ist dies als Beginn einer zunehmenden Einmischung in die Belange der Vereine im sowjetischen Sektor Berlins zu werten“ (Koch, 2013, S. 27). Die Oberschöneweider traten auch in der DDR gegen ihre „zehn Westberliner Konkurrenten in einer Spielklasse“ an (Ebd., S. 28). Union wurde 1950 erneut Stadtmeister Berlins und löste damit das Ticket für die Deutsche Meisterschaft. Die Teilnahme und das damit verbundene Spiel gegen Kiel wurden allerdings von Seiten der DDR untersagt (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Trotz des Verbotes entschieden sich Vereinsvertreter für die Reise „zum Vorrundenspiel gegen den Hamburger SV (0:7) nach Kiel“, wodurch der Verein gleichzeitig „nach Westberlin“ übersiedelte (Koch, 2013, S. 30). Zugleich wurde aus der SG Union Oberschöneweide der SC Union 06 Berlin (vgl. Ebd., S.31). In den folgenden Jahren wurde der Vereinsname permanent verändert: BSG Motor Oberschöneweide, SC Motor Berlin, TSC Oberschöneweide. Schließlich resultierte daraus der TSC Berlin.

2.2 Gründung - Heute

Das Gründungsdatum des 1. FC Union Berlin ist auf den 20.1.1966 zurückzudatieren und entstand „aus der Sektion Fußball des TSC Berlin“ (Koch, 2013, S.42). Gründungsinitiator Herbert Warnke wollte einen „zivilen [Fußballverein] in Berlin“ schaffen, da der Verein Dynamo Berlin von der Stasi unterstützt wurde (Ebd., S.42). Zivilcharakter konnte man dem Verein bei seiner Namensgebung nachsagen. Der Name des Vereins resultiert aus einer öffentlich gemachten Umfrage, bei der rund „500 Namensvorschläge“ eingingen. In der Endkonsequenz einigte man sich auf den Namen 1. FC Union Berlin (Ebd., S. 43). Daneben konnte die Bevölkerung auch Ideen bezüglich des Vereinslogos einreichen (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/).

Sportlich konnte Union Berlin im Gründungsjahr „den Aufstieg in die DDR Oberliga“ (Koch, 2013, S. 46), der damaligen ersten Liga feiern (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Union etablierte sich in der DDR Oberliga und schloss die erste Saison auf einem beachtenswerten sechsten Platz ab. Dabei pilgerten teilweise über 10.000 Zuschauer zu den Heimspielen in das Stadion an der Alten Försterei (vgl. Koch, 2013, S.47). Wenig später debütierte das Team von Union Berlin „international […] in einem europäischen Wettbewerb“ und konnte sich gegen BK Kopenhagen, GKS Katowice, sowie Union Teplice weit über die Grenzen der DDR hinaus beweisen (Ebd., S.47). Mit dem Gewinn des FDGB Pokals 1967/1968 gelang Union nach Siegen über Zwickau, FC Vorwärts Berlin und den FC Carl Zeiss Jena der bis dato größte Triumph der noch jungen Vereinshistorie. Die Zeit bis zum Mauerfall ist geprägt von Auf- und Abstiegen in Oberliga und zweite Liga. Nach der Wiedervereinigung stieg Union 1993 in die 2. Bundesliga auf (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Aufgrund mangelnder Wirtschaftskraft erkennt der Deutsche Fußball Bund (DFB) den Aufstieg jedoch nicht an. Auch die von den Anhängern aufgebrachten 217.000 Mark können diese Entscheidung nicht beeinflussen (vgl. Czerwinski und Karpa, 2005, S. 71), sodass Union in der Oberliga Nordost antreten musste (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Erstmalig traten die Unioner 1994, nach dem Sieg des Berliner Landespokals im DFB Pokal an, mussten sich in ihrem Erstrundenspiel aber dem FC St. Pauli mit 2:3 geschlagen geben (vgl. Ebd.) Die kommenden Jahre verfolgte der Verein weiter sportlich ambitionierte Ziele, die jedoch unter dem Licht des drohenden wirtschaftlichen Bankrotts standen. Erst die „Fandemonstration >>Rettet Union!<<“ konnte das finanzielle Fiasko abwenden (Luther und Willmann, 2010, S.207). Das Engagement der Fans sprach sich bis in die Vereinigten Staaten von Amerika herum und hatte den Gewinn des „Sportartikelherstellers [Nike] als Ausrüster und Sponsor“ zur Folge (Ebd., S. 208). Während Union im Jahr 2000 den Aufstieg in die zweite Bundesliga noch verpasste, konnte ein Jahr später als Meister der Regionalliga der Gang in Liga zwei gefeiert werden. Zugleich konnte man sich als noch- Regionalligist für das DFB Pokal Endspiel qualifizieren (vgl. Czerwinski und Karpa, 2005, S. 83-84). Im Finale unterlag man Schalke 04 im Berliner Olympiastadion vor einer Kulisse von 73.000 Menschen 0:2 (vgl. Luther und Willmann, 2010, S.255 & 258). Das erfolgreiche Abschneiden des FC Schalke 04 in der 1. Bundesliga, mit der damit verbundenen Teilnahme an der Champions League, berechtigte Union Berlin, im UEFA Cup zu spielen. Nach dem Sieg über FC Haka Valkeakoski schied Union in seinem Zweitrundenspiel im Duell mit Litex Lovetsch aus Bulgarien aus. Nachdem sich der Zweitliga Fußball bei Union 3 Jahre etabliert hatte, stieg man zwischenzeitlich bis in die Oberliga ab. Nach der Einführung einer 3. Liga gelang es Union, sich über diese bis zur 2. Bundesliga zu spielen, in der sie seit 2008 agieren (vgl. Vereinsgeschichte Union Berlin).

2.3 Fankultur

Ejal, wie Union jespielt hat, keener hat jepfiffen. Die konnten die letzte Grütze spielen, keener hat jepfiffen.“ ( Nussbücker, 2015, S. 163). So beschreiben Union Ultras die besondere Stimmung in der Alten Försterei. Die uneingeschränkte Beharrlichkeit, mit der die Fans ihrem Verein folgen, ist auf die Vereinshistorie zurückzuführen. In der Vergangenheit wurden Union in etlichen Lizensierungsverfahren die für die jeweilige Liga notwendigen „Lizenzen […] entzogen oder gar nicht gewährt“, sodass sich auch die Fans mehr und mehr einem Nachteil ausgesetzt sahen (Luther und Willmann, 2010, S. 236). Die vermeintliche Ungerechtigkeit gegenüber dem Verein spiegelte sich auch im privaten Alltag der Fans wieder, denen es „nach der Wende […] nicht so gut“ ging und die so in ihrem Verein Union Berlin einen identitätsstiftenden Anker fanden. Durch das gemeinsame Gefühl der Benachteiligung sind die Fans „besonders treu, ziehen Kraft aus dem Zusammenhalt [und] geben dem Verein aber auch Kraft“ (Ebd., S. 236).

Die Besonderheit der Unioner Fankultur und der Beziehung von Fans und Verein lässt sich an etlichen Punkten festmachen, die ich im Folgenden näher vorstellen werde. Die bedingungslose Loyalität sowie die Hingabe dem Verein gegenüber ist nicht nur national in aller Munde (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/vereinsgeschichte/). Seit dem Jahr 2003 findet einen Tag vor Heiligabend das jährliche Weihnachtssingen im eigenen „Wohnzimmer“ statt, wie man das Stadion an der Alten Försterei auch nennt. Dieser mittlerweile etablierte Brauch resultierte aus der Idee einiger weniger Anhänger (89), die 2003 über die Zäune des Stadions kletterten und „mit Glühwein und Gebäck auf Höhe der Mittellinie […] Weihnachtslieder“ sangen (https://www.fc-union- berlin.de/fans/fankalender/weihnachtssingen/).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1:Weihnachtssingen Union Berlin

Von Jahr zur Jahr stieg die Resonanz, sodass zum letztjährigen Singen am 23.12.2017 28.500 Besucher in die Alte Försterei strömten (vgl. https://www.fc- union-berlin.de/verein/aktuelle-meldungen/details/Alle-Karten-vergriffen-Weihnachtssingen-bei-Union-ist- ausverkauft-1654U/). Neben einem Pfarrer wird das von den Fans ins Leben gerufene Weihnachtssingen auch von einem Schulchor begleitet (vgl. Koch, 2013, S.362). Nicht nur Fans, „auch Präsidiumsmitglieder, Sponsoren und Spieler“ nehmen am 90 minütigen Singen teil (Ebd., S. 363). Das mediale Echo des Unioner Weihnachtssingens hallte bis in die USA, wo es sogar der New York Times eine Pressemitteilung wert war. Mittlerweile findet das Weihnachtssingen auch in der 1. Bundesliga bei Vereinen wie Köln, Dortmund oder Schalke Nachahmer (vgl. Ulrich, 2017). Die Erlöse des Events fließen in die Förderung der Nachwuchsabteilung des 1. FC Union Berlin (vgl. https://www.rbb24.de/sport/beitrag/2017/11/union- weihnachtssingen-ausverkauft.html). Die Begeisterung für den Club wird nicht selten unmittelbar nach dem ersten Besuch in der Alten Försterei entfacht. Dazu der Ultra Holger Keye:

„Ja, meine Freunde standen auf der Waldseite. Dort gab es Vorläufergruppen der heutigen Ultraszene wie die „Brigade Köpenick“ (Koch, 2013, S. 330). .

„Die haben ein bisschen Rabatz gemacht und irgendwelches Zeug angezündet. Ich war hin und weg. Und bin fortan immer zu Union gegangen und ab 2001 auch auswärts mitgefahren“ (Ebd., S. 330).

Daneben gibt es auch eine Reihe englischsprachiger Fans bei Union, die sowohl in Berlin leben als auch für die Spiele nach Deutschland fliegen. Ursächlich dafür ist die Tatsache, „dass der Fußball [in England] seine Seele an den Kommerz verloren hat“ und Union eher für gegenteiliges steht (Holden, 2014). In der Vereinshymne von Nina Hagen heißt es dazu: „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union, Eisern Union“ (https://www.fc-union- berlin.de/fans/hymne/ ). Dennoch: Auch ein Verein wie Union Berlin kann sich dem Prozess der Kommerzialisierung nicht verwehren, auch wenn nach wie vor Teile der Tradition durch die Fans gewahrt werden. So wird der Spielstand „trotz moderner Videowand […] durch [ein] Anzeigehäuschen dokumentiert“, in dem das Ergebnisse manuell ausgetauscht wird (Färber, 2016).

Daneben ist der enge Zusammenhalt der Unioner besonders hervorzuheben. Der Greenkeeper des Verein sagte einst: „Ich habe nie in meinem Leben so ein Familiengefühl […] gehabt“ (Holden, 2014). Besondere Aufmerksamkeit erhielten die Fans durch diverse Rettungsaktionen des damalig oftmals finanziell schwer angeschlagenen Vereins. Im Jahr 1993 gelang Union sportlich der Sprung in Liga 2., der jedoch durch „eine gefälschte Bankbürgschaft über eine Million DM“ überschattet wurde, in dessen Folge Union für die 2. Bundesliga keine Lizenz erhielt (Koch, 2013, S.144). Der Protest der Unioner Fans, „die 15.000 Unterschriften sammelten [und] vor dem Roten Rathaus in Berlin demonstrierten“ blieb jedoch konsequenzlos (Ebd., S. 144). Angesichts der drohenden Insolvenz 1997 „hatten die Fans via Telefonkette bzw. Internet die Zusammenkunft vereinbart“, um über Lösungsstrategien zur Abwendung des Bankrotts zu diskutieren (Luther und Willmann, 2010, S. 209). Schließlich versammelten sich rund 3.000 Fans auf dem Berliner Alexanderplatz, um von dort „durch das Brandenburger Tor bis zur Siegessäule“ auf die wirtschaftlich bedrohliche Situation aufmerksam zu machen (Ebd., S. 207). Durch den Einstieg von Nike als Sponsor konnte ein finanzielles Fiasko zunächst vermieden werden (vgl. Ebd., S.208). Eine erneute finanzielle Schieflage bot sich den Fans 2004. Der Verein Union Berlin stand kurz davor, die für die Regionalliga notwendigen Lizenzauflagen nicht zu erfüllen, da die geforderte „Liquiditätsreserve in Höhe von 1,4 Millionen Euro“ nicht nachgewiesen werden konnte (Koch, 2013, S. 240). Aus diesem Anlass wurde abermals eine Rettungsmaßnahme ins Leben gerufen: „Bluten für Union“ (vgl. Ebd., S. 240). Die Unionfans konnten in verschiedenen Berliner Bezirken Blut spenden. Aus jeder Spende kamen Union Berlin 10 Euro zugute (vgl. Ebd., S.240/241). Darüber hinaus organisierten die Fans noch etliche andere „Maßnahmen wie „Trinken für Union“, „Bowlen für Union“ [und] „Grillen für Union“, durch die Spendengelder generiert werden konnten (Ebd., S.242). So retteten die Fans nicht zum ersten Mal die Existenz des Vereins und zeigen damit „die schier unendliche und identitätsstiftende Solidaritätsbereitschaft der Fanszene des 1. FC Union“ (Ebd., S.240). Auch unter Mithilfe des gegenwärtigen Präsidenten Dirk Zingler, der 150.000 Euro aus seinem Privatvermögen beisteuerte, konnte der Verein die Lizenzauflagen erfüllen (vgl. Ebd., S. 242). Zingler entstammt im Übrigen auch der eigenen Fanszene und „stand früher [selbst] im Fanblock“ (Ebd., S.245). Besonders die Solidarisierung der Union- Fans löst immer wieder aufs Neue Begeisterung aus. Als der Spieler Martin Dausch 2013 öffentlich von der „extrem selten auftretenden Augenerkrankung“ Aniride seines Sohnes berichtete (Nussbücker, 2015, S.230), entstand die Fanaktion „ Gemeinsam SEHEN – UNION leben “ (Ebd., S.232). In Kooperation mit einigen Bildungsinstitutionen organisierten die Fans einen „Kinder-Mal-Tag“, zu dem nicht nur Fans und Kinder erschienen, sondern auch aktive und ehemalige Spieler (Ebd., S.232). Die 800 gemalten Zeichnungen wurden am nächsten Spieltag im Stadion verkauft und der Erlös kam „einem Verein, der sich für Aniride-Betroffene einsetzt“ zu Gute (Ebd., S. 231).

Als der Union- Spieler Benjamin Köhler im Februar 2015 an Lymphdrüsenkrebs erkrankte, sammelten Unions Ultras in der Kampagne Union gegen Krebs – Union für´s Leben! über 30.000 Euro, die der Deutschen Knochenmarkspenderdatei zu Gute kamen (vgl. http://www.sport1.de/fussball/2-bundesliga/2015/07/union-berlin-ultra- gruppierung-wuhlesyndikat-sammelt-fuer-die-deutsche- knochenmarkspenderdatei).

Die besondere Verbindung zwischen Verein und Fans wird auch an der Konzipierung des Stadionheftes deutlich, welches „zu jedem Spiel von einer unabhängigen Redaktion durch Fans gestaltet“ wird (Czerwinski und Karpa, 2005, S. 115). Als im Jahr 2008 im Rahmen der „Professionalisierung“ das Stadion an der Alten Försterei umgebaut werden musste, entwickelte sich ein einzigartiges Projekt (Luther und Willmann, 2010, S. 335). Das Stadion erhielt neben einem Dach auch eine beheizbare Rasenfläche. Zudem wurden die Stehplätze aufgebessert. Durch das Engagement der rund 2.000 freiwilligen Fans, die an den Bauarbeiten aktiv beteiligt waren und „140.000 Arbeitsstunden auf der Baustelle an der Alten Försterei“ verbrachten sparte der Verein ca. 3 Millionen Euro ein (Ebd., S.335). Darüber hinaus konnten sich erwerbsuntätige Fans durch die Bauarbeiten für eine Anstellung qualifizieren. Diese wurden nach Abschluss der Baumaßnahmen an einige Sponsoren weiterempfohlen (Koch, 2013, S. 289).

Beispiellos für die gute Bindung von Verein zu Fans ist das im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2014 ins Leben gerufene Projekt des „WM Wohnzimmers“. Dazu wurde das Stadion an der Alten Försterei zweckentfremdet und zu einem Wohnzimmer umgestaltet. Die Fans platzierten das eigene Sofa auf der Rasenfläche und konnten so die Spiele im Stadion verfolgen (vgl. https://www.fc-union-berlin.de/verein/aktuelle- meldungen/details/www-wm-wohnzimmer-berlin-So-kommt-Dein-Sofa-ins- Stadion--836t/).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Union Berlin WM Wohnzimmer

Ein zusätzlicher Beweis für die Anerkennung von Vereinsseite ist die Implementierung

„eines Fan-Vertreters im Aufsichtsrat des Klubs und in der Gründung einer offiziellen Fan- und Mitgliederabteilung als selbstständige und gleichberechtigte Abteilung des 1. FC Union Berlin“ (https://www.fc-union- berlin.de/verein/vereinsgeschichte/).

Will man den typischen Union- Fan charakterisieren, so muss das Bild des Fans von früher zu heute etwas korrigiert werden. Der ehemalige Sportdirektor Christian Beeck beschrieb den Union- Fan einst wie folgt:

„ Ein altes Basecap, einen Schal, den im besten Fall noch die Oma gestrickt hat, einen leichten Bierbauch, vielleicht eine Zigarette im Mund, auf jeden Fall irgendwann während des Spiels eine Bratwurst und ein Trikot der aktuellen Saison“ (Rüttenauer, 2009).

Mittlerweile gibt es nicht mehr nur den von Beeck beschriebenen Fan. Der Fanbeauftragte des Vereins Lars Schnell spricht von einer heterogenen Fanmasse, die ins Stadion pilgert (vgl. Koch, 2013, S. 319). Dabei sind bei den Ultras neben verschiedenen politischen Gesinnungen sowohl Akademiker als auch Nicht- Akademiker in der Szene vertreten. Unabhängig von der gesellschaftlichen Divergenz zählt ein übergeordneter Grundsatz, den die Ultras wie folgt formulieren:

„Watt eener privat macht oder politisch denkt, iss egal. So lange er´s raushält aus´m Stadion. Es gibt den EINEN gemeinsamen Nenner: Dit is Union!“ (Nussbücker, 2015, S. 163).

Gegenwärtig existieren in der Ultraszene von Union einige Ultragruppen wie bspw. das Wuhlesyndikat, die HammerHearts oder der Kranke Haufen (vgl. Koch, 2013, S. 326/327). Dabei ist ein Großteil der Ultras schon lange mit dem Verein verbunden und ist im Besitz einer „Dauer- und Mitgliedskarte“ (Ebd., S.327). Auffällig dabei ist die Geschlechtshomogenität in einigen Gruppen. Das Wuhlesyndikat gab 2010 bspw. an, keine Frau in seinen Reihen zu haben, obwohl sie einem weiblichen Neumitglied offen gegenüberstehen (vgl. Luther und Willmann, 2010, S. 318) und die HammerHearts „rekrutieren ausschließlich männlichen Nachwuchs“ (Koch, 2013, S. 327).

Aus Liebe zu Union agieren Ultras und Fans Hand in Hand. Alle Events, wie bspw. „das jährliche Weihnachtssingen [oder] die monatlichen Fan- Treffen“ werden eigenständig durch die Fanszene geplant und durchgeführt. „Andere Vereine haben Fans - bei Union haben die Fans einen Verein“ (https://www.fc-union- berlin.de/verein/vereinsgeschichte/).

3 Deutsche Fankultur

3.1 Geschichte

Seit den 1990er Jahren sind die Ultras als markanteste Fangruppierung im Stadion zu beobachten, deren Anziehung insbesondere Jugendliche verfallen (vgl. Gabriel und Goll, 2012, S.256). Um die Entstehung der Ultrabewegung darzulegen, ist es notwendig sich vorab mit der Entstehung der Fankultur auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang gilt es, einen Blick in die Vergangenheit des europäischen Auslands zu werfen.

England gilt als das Mutterland des Fußballs und erreichte im Laufe des 19. Jahrhunderts seinen Durchbruch. Als ursächlich dafür sind Urbanisierungsprozesse, eine geringere Arbeitsdauer, sowie die Senkung der Kosten zur Existenzdeckung zu nennen. Dies führte zu einem erhöhten Zuschaueraufkommen, in dem die Arbeiterschicht die Mehrzahl der Zuschauer stellte und zudem für steigende Vereinsgründungen verantwortlich war (vgl. Sommerey, 2012, S.26/27). Als weiterer begünstigender Faktor für den Durchbruch des Fußballs ist die Industrie zu nennen, die ähnlich wie der Sport „von Einsatz, Kondition und Robustheit geprägt war“ (Ebd., 2012, S.27). Als fördernde Instanz zur Vereinsgründung stellten sich insbesondere Konzerne heraus, die die Neugründungen unterstützten, da sie andernfalls durch die eingangs erwähnte verkürzte Arbeitsdauer und der damit einhergehenden gewonnenen Freizeit einen erhöhten Alkoholkonsum der Arbeiter fürchteten (vgl. Ebd., 2012, S.26/27). Der Fußball wurde nach und nach professionalisiert und schuf so eine Möglichkeit für die Spieler, auch Geld zu verdienen.

Dieser Entwicklungsprozess hinsichtlich des Zuschaueraufkommens trat in Deutschland erst Jahre später ein. Während sich die Zuschauerzahlen vor dem Ersten Weltkrieg noch im dreistelligen Bereich bewegten, strömten in der Nachkriegszeit bis zu 50.000 Menschen in die Stadien (vgl. Gabler, 2013, S.20). Ursächlich dafür ist u.a. ein Zugewinn an Freizeit durch die „Einführung des 8- Stunden- Tages“ (Gabler, 2013, S.20). Die Gründe für das im Verhältnis zu England verspätete Einsetzen der Professionalisierung sieht Brenner (2009, S.31) „im ideologisch geprägten Festhalten am Amateurismus, das vehement vom DFB eingefordert wurde“.

Die Beziehung zwischen Zuschauer und Spieler war in dieser Zeit von geringer Distanz und Identifikation geprägt. Sommerey (2012, S.29) beschreibt das Verhältnis als eines, bei dem sich beide Parteien „ sozial, kulturell und finanziell nahe“ standen.

Dieses Faktum änderte sich mit Gründung der Bundesliga. Die Etablierung des nationalen Wettkampfes brachte zum einen eine zunehmende Professionalisierung mit sich und zum anderen eine ansteigende Kommerzialisierung. Der Fußball dient als eine Art Werbefläche, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Den Einkünften der Spieler sind mittlerweile keine Grenzen mehr gesetzt, die Biographien von Zuschauern und Spielern driften weit auseinander und die bis dato bestehende Nähe zu den Spielern nimmt sichtbar ab (vgl. Gabler, 2013, S. 21). Gabler kommt in diesem Zusammenhang zu folgender Erkenntnis:

„der lokalorientierte Spitzenspieler früherer Zeiten war der Held seiner Gemeinde, der mobile Spitzenspieler unserer Tage ist der von den Medien geformte Star“ (Ebd., S.21/22).

In dieser Zeit kommt es in der Bevölkerung auf der einen Seite vermehrt zu einer gesteigerten Kaufkraft und auf der anderen Seite zu einem Gewinn an Freizeit. Durch die steigenden finanziellen Ressourcen wuchs die Sehnsucht nach mehr Luxus, sodass die Stadien im Rahmen der in Deutschland ausgetragenen Fußball- Weltmeisterschaft 1974 erweitert und neu gestaltet wurden. Die Baumaßnahmen führten zu einer Umstrukturierung in Sitz- und Stehplätze. Als Folge dessen werden die Zuschauer hinsichtlich ihres Einkommens im Stadion selektiert (vgl. Ebd., 2013, S.22). Kaufkräftige Zuschauer versammelten sich im Sitzplatzbereich an den Seiten des Feldes, wohingegen sich Zuschauer mit geringerem Einkommen „in den Kurven wiederfanden“ (Ebd., S.23). Die Kurven, „die häufig hinter den Toren“ (Ebd., S. 22) zu finden war, sind von nun an Ort der Anfeuerung der eigenen Mannschaft. Während sich Zuschauer im Sitzplatzbereich als eher passive Konsumenten erweisen, fokussieren sich die Fankurven auf die Atmosphäre im Stadion. Sommerey (2012, S. 30) beschreibt die Kurve als einen „Ort, an dem vorwiegend Jugendliche unter sich [sind und] Formen körperbetonter Selbstdarstellung entwickeln konnten“. Weiterhin bezeichnet der Autor die Kurve als einen Ort, der zur Verwirklichung eigener Maßstäbe, fernab jeglicher Kontrollinstanzen dient (vgl. Ebd., S. 30). Nach von der Heyde (2018, S. 20, zit. n. Winands, 2015, S.236) stellt die Fankurve „ein koordiniertes Ensemble“ dar. Im Rahmen dieser Entwicklung stellt Gabler (2013, S. 23) eine Differenzierung der Anhängerschaft „in Fans und Zuschauer“ fest. Erst genannte sehen ihren Zuständigkeitsbereich in der Stimmungsmache, demgegenüber bildet der Zuschauer, den passiveren Gegenpart. Durch den erheblichen finanziellen Mehraufwand den der Zuschauer aufbringen muss, buhlen Vereine verstärkt um diese Gruppe von Besuchern (vgl. Ebd., S. 23).

Die Veränderungen in der Fankultur zeigen sich sowohl hinsichtlich der Begrifflichkeit, als auch angesichts der Einstellung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts konnten diverse „Fußballzuschauergruppierungen mit differenzierten Motiven, Verhaltensweisen und Stilen“ beobachtet werden (Langer, 2010, S. 24).

In den 20er und 30er Jahren wurde noch von „Schlachtenbummlern“ gesprochen, deren Bezeichnung aus dem fußballbezogenen Engagement des Militärs resultiert (Ebd., S.24). Demnach wurden ursprünglich mit der Armee assoziierte Begrifflichkeiten „wie Angriff, Bomber und Abwehrschlacht“ auf den Fußball projiziert und die Besucher des Spiels als Schlachtenbummler bezeichnet (Ebd., S.25). Neben dieser Art von Fans entwickelten sich zudem Fankulturen die sich als Kuttenfans und Hooligans bezeichneten, auf die im Folgenden eingegangen wird.

3.2 Kuttenfans

In Anlehnung an das britische Pendant (vgl. Gabler, 2013, S.24) etablierte sich im Laufe der 1970er Jahre die Fangruppierung der Kuttenfans, die sich anhand von Kleidung und anderen Accessoires wie Schals und Mützen zu ihrem Verein bekannten und insbesondere die mit Vereinssymbolen bedeckte Kutte als Ausdruck starker Vereinsidentifikation nutzten (vgl. Langer, 2010, S.27). Sommerey (vgl. 2010, S.40) sieht den Beginn der Kuttenfans erst um 1980 und bezeichnet diese Gruppierung als loyale Wegbegleiter, die den Verein unabhängig von fußballerischen Misserfolgen unterstützen und sich zu ihm bekennen. Die Bedeutung und zugleich Identifikation mit dem Verein zeigt sich in der Partizipation am Sieg des Teams. Die Teilhabe an Erfolgen der Mannschaft kompensiert private Missstände und führt zu einer Linderung dieser (vgl. Sommerey, 2010, S.40). Mitglieder dieser Fangruppierung stammten vorwiegend aus sozial schwachen Verhältnissen (vgl. Gabler, 2013, S.24). Die Unterstützung erfolgte anders als „heute spontan und nahm mehr Bezug auf das Spielgeschehen“ (Ebd., S.24). Brenner (2009, S. 64) betont die Bedeutung dieser Fangruppierung für die gegenwärtige Anhängerschaft,

„da sie den Grundstock der fankulturellen Verhaltensweisen wie Gesänge, Devotionalien oder spezifische Fanrituale herausgebildet haben“.

Kuttenfans organisierten sich für den Gang ins Stadion in Gruppen (vgl. Gabler, 2013, S. 24).

Trotz ihrer eigentlichen Ablehnung gegenüber der Politik, bildeten sich hier und da rechtsorientierte Formationen (vgl. Ebd., S. 25). Seit den 1990er Jahre tauchen Kuttenfans nur noch als Randerscheinung auf (vgl. Langer, 2010, S.31)

3.3 Hooligans

Während Kuttenfans mit der Kleidung in ihrer Außendarstellung die Vereinstreue zur Schau trugen und diese als identifikationsstiftende Instanz galt (vgl. Langer, 2010, S.27), entwickelte sich im Laufe der 1980er Jahre eine zunehmend gewaltbereitere Fankultur, die ihren Nährboden den zuvor erwähnten rechtsorientierten Strömungen verdankt. In Anlehnung an ihr englisches Pendant bezeichnet sich die Personen als „Hooligans bzw. Hools“(Ebd., S.30). Durch die Tatsache, dass die Menschen mobiler wurden, stieg die Zahl derer, die zunehmend häufiger die eigene Mannschaft auch zu Auswärtsspielen begleitete. Infolgedessen wurden gegnerische Fans stärker als Rivalen betrachtet und so mehr und mehr zur Zielscheibe. Die Zunahme brutalter Konflikte rivalisierender Fangruppierungen war die Folge. Für sogenannte Hooligans steht der gewaltbereite Konflikt im Fokus ihrer Aktivität, für den sie primär das Stadion als Plattform nutzen (vgl. Ebd., S.30).

Der hohen Gewaltbereitschaft im Stadion wurden gesteigerte Sicherheitskontrollen entgegengesetzt, die zu einer Regulierung des Problems beitragen konnten. Dieses Vorgehen veranlasste die Hooligans jedoch dazu, ihre Konflikte an Orte außerhalb des Stadions zu verlegen (vgl. Ebd., S.31). Die gewalttätigen Auseinandersetzungen wurden nun sowohl in der Natur als auch auf „Anfahrtswegen und in die Innenstädte“ verlagert (Gabler, 2013, S. 26).

4 Ultras

Spricht man von Ultras im Kontext von Fußballfans ist es anfangs vonnöten ein Verständnis für den Ultrabegriff zu schaffen. Dieser stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „jenseits, darüber, über – hinaus“ (Brockhaus, 1999, S. 538)

In der Fanforschung wird der Begriff mit folgenden Attitüden assoziiert:

„Selbstdarstellung und Inszenierung, Organisation, optische und akustische Fan-(Dauer-) Unterstützung, Aktionen vor, während und nach einem Spiel, Lokalpatriotismus, Konkurrenzkampf, Provokation, Kritik, Rivalität, „Wir“ vs. „Andere“ und Hass auf die Polizei“ (Pilz, Behn, Schwenzer, Steffan und Wölki, 2006, S.212).

Gabriel und Goll (2012, S. 257) bezeichnen Ultras als „die zeitgemäße Antwort auf die ökonomische Entwicklung des Fußballs“.

4.1 Entstehung der Ultrabewegung in Italien

Italien gilt als die Wiege der Ultrakultur. Seinen Ursprung hat die Ultraszene in Norditalien, wo in den 1960er Jahren „inspiriert durch studentische Proteste und die Arbeiterbewegung, eine linksgerichtete Protestbewegung“ entstand (Sommerey, 2012, S.27). Mit ihrem Protest brachte die Fanszene ihre Empörung gegenüber den Misständen in der Sozialpolitik und der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich zum Ausdruck. Als Plattform des politischen Protests diente vorwiegend das Fußballstadion. Ihre politischen Ansichten äußerten die Ultras im Stadion durch „Transparente, Megafone, Doppelhalter, Rauchkörper und bengalische Feuer […], die bis heute wichtiger Bestandteil der italienischen Ultraszene sind“ (Ebd., S.27).

Die Verwendung des Ultrabegriffs liegt vermutlich der Tatsache zugrunde, dass einige Fans des FC Turin nach einer Niederlage ihrer Mannschaft den Unparteiischen als Hauptverantwortlichen dafür sahen und diesen auf seiner Rückreise verfolgten. Ein Journalist definierte diese Verhaltensweise als extrem, was im italienischen so viel wie Ultra heißt (vgl. Ebd., S.28). Seither wurde der Ultrabegriff mit „einer neuen Jugend-, Protest- und Fankultur“ assoziiert (Ebd., S.28). In der Folgezeit bildeten sich stetig weitere Ultragruppierungen, die nicht ausschließlich nur linkspolitisch angesiedelt waren sondern zunehmend auch aus dem rechtsextremen Milieu stammten (vgl. Langer, 2010, S.40). Sommerey (2010, S.54) begründet diesen Trend mit der Auflösung von „militanten linksradikalen, sozialrevolutionären Gruppen in Italien und der immer schwächer werdenden Linksparteien“, sodass sich die Gesinnung des Landes nach rechts verschob.

Unterdessen wuchs die landesweite Ultraszene so stark, dass alleine der Verein Juventus Turin über 10.000 Ultras in seinen Reihen zählte. Die gesteigerte Zahl der Ultragruppierungen, sowie verschiedene politische Gesinnungen führten in den 1980er Jahren zu einer Vielzahl von Konflikten zwischen diversen Ultragruppen, die durch ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft gekennzeichnet waren (vgl. Sommerey, 2012, S.28). Der Einsatz von Messern wurde immer häufiger festgestellt (vgl. Sommerey, 2010, S.55) und darüber hinaus wurde das „Einschmuggeln von Leuchtspurmunition in die Stadien“ beobachtet (Ebd., S.55) Die Zuspitzung der Gewalt gipfelte in dem Tod eines Fans von Lazio Rom. Eine Pauschalisierung trotz dieses tragischen Vorfalls darf an dieser Stelle jedoch nicht erfolgen. Die Ultragruppen verfolgen teils sehr unterschiedliche Interessen. Scheidle differenziert die Ultragruppierungen in drei Arten: zum einen diejenigen Ultras, die aus politischen Gründen, häufig rechtsorientiert, ein Stadion besuchen, zum anderen diejenigen die ausschließlich den gewaltbereiten Konflikt suchen und zuletzt eine dritte Art der Ultragruppierung, deren Verständnis des Ultradaseins sich einzig und alleine auf den Support der eigenen Mannschaft bezieht (vgl. Langer, 2010, S.40). Mit Beginn der 1990er Jahre stiegen die Partizipationsmöglichkeiten der Ultragruppen auf Vereinsebene. Das Mitspracherecht im Rahmen der Transferpolitik war so stark ausgeprägt und offenkundig rechts, dass bspw. ein Spieler schwarzer Hautfarbe auf Drängen der Ultras nicht verpflichtet wurde (vgl. Sommerey, 2012, S.28)

Insbesondere die 1990er Jahre zeigten, dass besonders Ultras durch die politische Rechte instrumentalisiert und deren Gesinnung im Stadion „per Megaphone und durch Spruchbänder propagiert“ wurde (Langer, 2010, S.40). Auch heutzutage spiegelt sich der Einfluss der Rechtspopulisten in Italien wieder. Rassistische Äußerungen werden nach wie vor in den Stadien Italien beobachtet (vgl. Ebd., S.40).

Die Ultraszene in Italien zählt gegenwärtig rund 74.000 Mitglieder, aufgeteilt auf über 445 Gruppen (vgl. Sommerey, 2012, S.28).

4.2 Entstehung der deutschen Ultrabewegung

Die Entstehung der deutschen Ultraszene ist Resultat einer in den 1990er Jahren voranschreitenden „Kommerzialisierung [die] für eine Entproletarisierung“ verantwortlich war (Gabler, 2013, S. 54). Der Fußball wurde in zunehmendem Maße vermarktet, horrende Summen werden transferiert und die Vereine wie Konzerne geführt. Der Fußballanhänger ist in diesem Konstrukt nur noch ein inaktiver Konsument (vgl. Langer, 2010, S.32) Durch die zeitgleich voranschreitende Eventisierung soll nun ein breiteres und auch gut situiertes Publikum angesprochen werden (vgl. Ebd., S.31). Mit der sinkenden Zahl der Kuttenfans, die in der Zeit der 90er Jahre uneingeschränkt hinter dem Team standen und für Stimmung sorgten (vgl. Kathöfer, Kotthaus und Willmann, 2013, S.40), ging ein Stimmungsverlust in den Stadien einher (vgl. Gabler, 2013, S.54). Brenner bezeichnet diesen Stimmungsverlust in den Fankurven als Geburtsstunde der Ultras (vgl. 2009, S.77).

Da auch der britische Fußball eine Krise durchlebte, brauchte es zur Wahrung der Atmosphäre in den Stadien neue Ideen. So richtete sich der Blick nach Italien. Die dort ausgetragene Fußball- Weltmeisterschaft 1990, sowie der dortige Ligabetrieb wurden im deutschen TV ausgestrahlt und stießen in der Fankultur auf Anklang. Angetan war man vor allem von den „pyrotechnischen Choreografien“ (Apmann und Fehlandt, 2012, S.180).

Mit dem Einzug der Ultras in die Stadien stieg nicht nur die Stimmung, sondern „zogen […] bunte Choreografien und in deutlich größerem Umfang organisierte Kurvengesänge ein“ (Czoch, 2012, S.70). Darüber hinaus bedeutet die Präsenz der Ultras „auch eine kontinuierliche und organisierte Kritik an der vorherrschenden Vereinspolitik“ (Ebd., S. 70). Ultras streben die Wahrung „der Tradition ihrer Vereine“ an (Vieregge, 2013, S. 22) und beanspruchen diesen für sich, da sie ihre Vereinstreue im Gegensatz zu „Spieler, […] Trainer, Manager, Präsident oder sogar Besitzer“, unabhängig vom Erfolg machen (Gabler, 2013, S. 69). Gegenwärtig existieren in der Bundesliga bei nahezu allen Vereinen Ultragruppen (vgl. Ebd., S. 55). Die zunehmende Etablierung der Ultraszene führte zu einer gesteigerten Wahrnehmung dieser und zugleich zu einer tiefgreifenden Veränderung der Fankultur (vgl. Vieregge, 2013, S. 19).

Ihre Hingabe gegenüber dem Verein, die sich nicht nur im, sondern auch außerhalb des Stadions zeigte, führte mit Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer bedeutenden Veränderung hinsichtlich der Atmosphäre im Fußballstadion und der Fankultur (vgl. Ebd., S. 22).

4.3 Merkmale der Ultraszene

Bevor inhaltlich auf die Merkmale der Ultraszene eingegangen wird, ist es notwendig, den Begriff Szene zu erläutern. Hitzler und Niederbacher (vgl. 2010, S. 16) verstehen darunter ein Konstrukt von Charakteren, die sich mit diesem verbunden fühlen. Dieses Konstrukt ist zum einen durch den Hang zu gemeinsamen Vorlieben gekennzeichnet und zum anderen durch Personen, die sich freiwillig für dieses Konstrukt entschieden haben. Der Zugang in solche Szenen besitzt anders als in Vereinen eher informellen Charakter. Die Zugehörigkeit wird nicht durch formale Prozesse beschlossen, sondern vielmehr durch ein Zugehörigkeitsgefühl bestimmt. Eine Szene ist vorwiegend von Jugendlichen geprägt, die nach Gleichgesinnten suchen und diesen dort aller Wahrscheinlichkeit nach auch begegnen. Vereinfacht gesagt verstehen Hitzler und Niederbacher (2010, S.15) unter dem Szenebegriff folgendes:

„Eine Szene ist eine Form von lockerem Netzwerk; einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften“.

Dieses Netzwerk charakterisiert zudem „den Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale“ (Brenner, 2009, S.39, zit. n. Hitzler et al., 2001, S.21).

Man kann „seit Mitte der neunziger Jahre […] die Ultras mit farbenprächtigen Kurvenshows und lautstarken Gesängen“ beobachten (Hitzler und Niederbacher, 2010, S. 161).

Die Ultraszene versteht sich „von Beginn an als Protestkultur“ (Gorrissen, 2012, S.251), die ihrem Protest gegen Kommerzialisierung und Eventisierung durch das Schwenken von Fahnen, sowie organisierten Gesängen und Spruchbändern Ausdruck verleiht (vgl. Adam, 2016, S.77). Die Ablehnung gegenüber Kommerzialisierung und Eventisierung wurde beim diesjährigen DFB Pokal Finale zwischen Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt deutlich. Als Sängerin Helene Fischer in der Halbzeit auftrat, brach ein Pfeifkonzert aus: weniger ein Protest gegen Fischer, sondern vielmehr gegen „den modernen Fußball“, der den Fußball zum Showevent macht (Raecke, 2017). Nach Pilz et al. (2006, S.13) sind Ultras „das Herz einer Fankurve, [die] wie ein Seismograf auf vereins- und ligapolitische Probleme [reagieren]“. Zu den wesentlichen Hauptkritikpunkten der Ultras zählen bspw. die Erhöhung der Ticketpreise, die ansteigende Kontrolle der Fans, wahllos erteilte Stadionverbote sowie der Protest gegen fan-unfreundliche Anstoßzeiten (vgl. Sommerey, 2010, S.68). Das Fanbündnis der Ultras fordert die einheitliche Ansetzung aller Spiele für Samstag um 15:30, um „alle Spiele ihrer Mannschaft besuchen zu können“ (Brenner, 2009, S. 74, zitiert nach Weinmann, 2004, S.82). Der Protest gegen den DFB fällt dann mitunter derb aus.

[...]

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Geschlechterkonstruktionen im Fußball. Über den Einstiegsprozess weiblicher Personen in Ultragruppierungen anhand von Union Berlin
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
93
Katalognummer
V514350
ISBN (eBook)
9783346110251
ISBN (Buch)
9783346110268
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlechterkonstruktionen, fußball, über, einstiegsprozess, personen, ultragruppierungen, union, berlin
Arbeit zitieren
Johannes Südbeck (Autor:in), 2018, Geschlechterkonstruktionen im Fußball. Über den Einstiegsprozess weiblicher Personen in Ultragruppierungen anhand von Union Berlin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/514350

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