Responsibilisierung und Professionalisierung von Schwangeren. Ethnographischer Einblick in die Praxis der Geburtsvorbereitung

Ethnografie der Schwangerschaft und Geburt


Research Paper (postgraduate), 2019

15 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


1. Einleitung

Der Übergang zur Elternschaft war in den letzten Jahrzehnten Austragungsort zahlreicher gesellschaftlicher Diskussionen und Transformationen. Die Ungleichheit zwischen Mann und Frau, die Konstitution dieser beiden Geschlechter und sich verändernde Konzepte von Lebensverläufen manifestieren sich hier und sind anhand dieser Phase verhandelbar.1 Den Eltern, insbesondere den werdenden Müttern, werden enorme Veränderungen ihres Charakters, ihrer Ziele, Interessen und Werte zugewiesen und sie sollen diesen Übergang als die wichtigste Transitionsphase ihres Lebens bezeichnen.2 Der Übergang von Frau oder Mann zu Mutter oder Vater wird als selbstverständlich angesehen. Die Transformation scheint nach einer Geburt automatisch vollzogen zu sein.

Diese Arbeit hat zum Ziel, die Tätigkeiten im Rahmen von Geburtsvorbereitungskursen zu zeigen, an denen insbesondere Frauen aber auch Männer teilhaben, um Mütter und Väter zu werden. Sie werden in diesen unterrichtet, um der Rolle als Mutter beziehungsweise Vater gerecht zu werden. Einer Transformation unterliegen auch die Umwelt und damit die sozialen Kontakte.

Besonderer Fokus ist zu beschreiben wie Frauen und Männer Mütter und Väter werden. Während der Schwangerschaft sind es zu meist Frauen, die an neuen Praktiken wie Geburtsvorbereitungskurse und Baby-Yoga Klassen teilnehmen, während andere Tätigkeiten vernachlässigt werden. Während der Schwangerschaft wird viel Zeit von den Schwangeren verlangt. Werdende Mütter begeben sich auch gerne in die Situation ein, die Phase der Schwangerschaft zu leben. In dieser Zeit wird auch intensiv recherchiert.3 Am Übergang zur Elternschaft bilden sich die Figuren Mutter und Vater, jeweils mit spezifischen Aufgaben und Erwartungen. In diesem Kurs wurden sowohl Handlungen als auch Äußerungen der Akteur_innen beobachtet. Sich auf die Geburt, die Pflege des Kindes und die Zeit als Familie vorzubereiten, scheint eine Art Selbstverständlichkeit für Eltern in der Zeit der Schwangerschaft zu sein.

Sie werden Teil von neuen Orten und haben an zahlreichen, gesellschaftlichen Praktiken teil, die bisher nicht verwendet wurden. Zudem sind werdende Eltern mit vielen Partizipierenden verbunden, mit denen gemeinsam sie als Mutter beziehungsweise Vater adressiert und figuriert werden.4

2. Louis Althussers Ansatz der ,Anrufung'

Um die Responsibilisierung der Schwangeren wiederzugeben, bedient sich die Arbeit dem Ansatz der ,Anrufung‘ Althussers (1977). Unter Anrufungen sind „soziale Zuschreibungen“ zu verstehen, „die die Aufforderungen zu bestimmten Verhaltens­und (Be-)Handslungsweisen“5 vermitteln. Solche Anrufungen der Individuen kommen in gesellschaftlichen Institutionen vor, auf die die Individuen reagieren.6 Damit die Anrufung brauchbar ist, ist auch ihre Beantwortung grundlegend. Althussers Theorie stellt eine komplexe Beziehung zwischen Ritualen, Praxen und Apparaten auf der Außenseite und dem Anerkennen der Subjekte in der Ideologie dar.7 Gegenüberstehen sich zum einen die subjekt- beziehungsweise kognitionszentrierte Grundlage, mit dem autonomen Subjekt als dessen Zentrum. Die andere Seite ist der materialistische Zentrismus. Während ersteres das Bewusstsein und Subjekt im Fokus hat, konzentriert sich letzteres auf die materielle Praxis und dessen Objekte. Die Rolle auf Formen der Reflexe und Echos des Subjekts rückt nun an den Ort der Innenperspektive dessen.8 Die Relationen zwischen dem äußeren Verhältnis, also den Praxen, in denen das Subjekt adressiert wird, und dem inneren Verhältnis, in dem das Subjekt die vermittelten Aufforderungen erkennt und vollzieht, wird konstituiert durch institutionalisierte Settings. Die Verknüpfung der Innenperspektive mit der Außenperspektive nennt Althusser (1977) also ,Anrufung‘. Ihr kommt die Leistung der Transformation von Schwangeren in Subjekte zu. Die Wirksamkeit besteht demnach in der Anerkennung der Subjekte als Subjekte.9

Die in dieser Arbeit beschriebenen Adressierungen der Schwangeren in Geburtsvorbereitungskursen sind als „soziale Zuschreibungen“10 zu begreifen. Wie Es wird versucht, zu untersuchen, ob und inwiefern Frauen während der Schwangerschaft in institutionellen Settings adressiert werden. Die „Anrufungsinstanzen“11 stellen hier die werdenden Eltern, insbesondere die werdenden Mütter dar. Die Individuen werden zu Subjekten transformiert, indem sie sich als solche in Natalitätsinstitutionen ,anrufen‘ lassen.

3. Angaben zur Methode des Forschungsprojekts

Im Folgenden wird kurz das Feld der geburtsvorbereitenden Kurse vorgestellt, da die Arbeit sich vor allem auf diesem konzentriert. Neben Geburtsvorbereitungskurse, die nur von Schwangeren besucht werden dürfen, existieren auch Paarkurse, häufig organisiert als Crashkurse, die an einem Wochenende stattfinden, an denen die werdenden Eltern gemeinsam teilhaben können. Crashkurse sind in der Regel geburtsvorbereitende Kurse, die während eines kompletten Verlaufs von der werdenden Elternschaft besucht wird. Im Vergleich zu den anderen Geburtsvorbereitungskursen werden die Fragen hier unter Berücksichtigung der Bedürfnisse beider Elternteile beantwortet. Hier geht es in der Regel darum, mithilfe von Entspannungstechniken und Informationsgabe den Schwangeren die Angst vor dem Geburtsprozess zu nehmen sowie die Zielsetzung einer natürlichen Geburt' zu fördern. Durch die fast ausschließliche Behandlung von Themen wie Geburtsablauf, Wochenbett und Stillen wird sehr stark auf die weibliche Körperlichkeit fokussiert. Der geburtsvorbereitende Bildungskurs war auf zwei Tage aufgeteilt. Wir waren nur am zweiten Tag anwesend. Die Beobachtungseinheiten dauerte circa sechs Stunden. Am zweiten Tag des Kurses nahmen 7 Paare und zwei werdende Mütter teil, die die Partner aufgrund äußerer Umstände als verhindert entschuldigten.

Bereits vor Beginn des Kurses wird sichtbar, dass der schwangere Körper zum Bezugspunkt vieler Praktiken wird: Schwangeren werden u.a. die Türen aufgehalten, Taschen getragen, Stühle gerückt, auf besondere Sitzmöglichkeiten verwiesen, Sitzbälle justiert oder der Raum wird durch das Lüften angenehmer temperiert. In und mit diesen fürsorglichen Praktiken wird ein schwangerer Körper konstituiert, der bestimmte Selbstsorge- und Versorgungsleistungen nur noch unter großem Aufwand erbringen kann.

Da primär die werdenden Mütter die Adressaten dieser Kurse sind ergeben sich in Verbindung mit meinem Forschungsinteresse zwei Hauptfragen: Inwiefern leistet die Institution der Geburtsvorbereitungskurse einen Beitrag zur Responsibilisierung von Schwangeren? Welches Wissen wird am Übergang zur Elternschaft vermittelt und welches vorausgesetzt? Um diese Fragestellungen zu beantworten, mussten empirisch die Praktiken und deren Partizipierende ethnographisch ermittelt werden. Dabei ergab sich ein wesentliches Problem: Der Prozess des Übergangs zur Elternschaft ist ein größtenteils privater Prozess, der der Beobachtung kaum zugänglich ist. Der von mir und meiner Kommilitonin im Rahmen unseres Forschungsprojektes „Ethnographie der Schwangerschaft und Geburt“, nur an einem von beiden Tagen, besuchte Wochenendkurs ist das Herzstück der Forschung, die um Dokumente und weiteren Beobachtungsprotokolle ergänzt wurde. Schwangerschaft und Elternschaft ist als sozialer Prozess dargestellt. In diesem Kurs wurden insbesondere mentale Einstellungs- und Veränderungsprozesse betrachtet. Zusammengefasst kann man sagen, dass der Kurs aus zwei Blöcken bestand. Primär ging es um die Geburt, den Kaiserschnitt und die Zeit danach. Im zweiten Teil wurden die werdenden Eltern in Säuglingspflege unterrichtet. Erhebungs- und Auswertungsmethoden seien hier im Folgenden genauer vorgestellt.

3.1 Institutionelle Praxis der Professionalisierung

Die Hebamme hatte Lehrpläne, die die Formeln über das Elternsein beinhalteten. Diese wurden im Kurs eingebracht und mit den Eltern verhandelt. Bereits zu Beginn des Kurses wurde deutlich, dass Kursleiterin und Eltern gemeinsam ein Vokabular entwickelt haben. Die Transition zur Elternschaft wird als wichtigstes Ereignis im bisherigen Lebenslauf konstituiert. Gleichzeitig sei es aber auch ein ungewisser, hindernisreicher Weg, der erst beschritten werden muss. Frauen waren in dieser Zeit Hauptverantwortliche für ihr Baby. Verbunden wurde dies mit der Materialität des weiblichen Körpers und Praktiken des Stillen. Die Gespräche handelten immer wieder davon, was Männer und Frauen im Vergleich tun und können. Väter wurden von der Kursleiterin aktiv aufgefordert, sich mehr bei der Fürsorgearbeit, aber auch der Hausarbeit während des Wochenbetts zu involvieren. Unterschiede zwischen dem Jetzt und dem Vorher wurden immer wieder betont, die klare Grenzen zwischen dem Verhalten der Eltern vor und nach der Geburt zogen. In aller Ausführlichkeit wurde wiederholt über die verschiedenen primären und sekundären weiblichen Geschlechtsteile gesprochen. Durch die biologisierte Form der Geburtsvorbereitung wird die Frau als eine Art Gefäß für das Heranreifen des Kindes gedeutet12 und so fast ausnahmslos in ihrer Reproduktionsfunktion angesprochen, was sich auch in der generellen Erwartungshaltung widerspiegelt, dass die Schwangere ihren Körper „gewissermaßen stellvertretend“ überwachen lassen soll.13 Zu geburtsvorbereitenden Kursen gehören auch spezifische Körperübungen, die zur Aktualisierung einer weiblichen Körperlichkeit beitragen und explizit die Bewusstwerdung spezifischer Organe und Körperteile initiieren sollen. Somit ist der „Geburtsvorbereitungskurs [...] meist das erste Mal, dass sich Erstgebärende bewusst mit ihrem Beckenboden beschäftigen“14 und „vielleicht [...] die erste und einzige Möglichkeit, dass eine Frau ihren Beckenboden bewusst erspüren lernt“.15 Einer für Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett als relevant angesehenen Sensibilisierung des Beckenbodens dient beispielsweise die in Geburtsvorbereitungskursen dann von den Teilnehmerinnen gemeinsam unter der Anleitung der Hebamme durchgeführte Beckenbodenübung. Neben dieser Spürübung werden entsprechende Informationen rund um den Beckenbocken genannt, welche als Vorstellungshilfe dienen und „das Finden der einzelnen Muskelschichten unterstütz[en]“.16 Mittels solcher Übungen werden körperliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern ins Bewusstsein gerückt, die bis zu diesem Zeitpunkt im Leben der meisten Schwangeren vermutlich noch keine Rolle gespielt haben. Ob es für den Vorgang der Geburt von Bedeutung ist, spezifische Geschlechtsorgane, wie Scheide und Beckenboden ,erspüren' zu können, sei dahingestellt.17 In diesen Kursen erfährt vor allem die Gebärmutter besondere Aufmerksamkeit. Im Rahmen der Geburtsvorbereitung führte die Hebamme als Kursleiterin eine Atemübung durch, die dazu dienen soll, die Gebärmutter differenziert von anderen inneren Organen zu erspüren. Dieses Körperorgan spielt im Leben der meisten Frauen vor der ersten Schwangerschaft kaum eine Rolle. Somit wird bei den teilnehmenden Schwangeren eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber dem eigenen Leib geweckt. Die werdenden Mütter erlernen ihre Gebärmutter zu realisieren und eignen sich diesen subjektiv an. Dieses erstmalige Erspüren ist ein Bewusstwerdungsprozess, der sich auf die Gebärmutter bezieht und mit Geschlechterdifferenzen und deren Verortung im Körper verbunden ist.

[...]


1 Schadler 2013, 13.

2 ebd.

3 LaRossa & Sinha 2006, 441.

4 ebd., 443.

5 Ott &Wrana 2014, 19.

6 Graefe 2010, 292.

7 Schupp 2006, 92.

8 ebd., 93.

9 ebd., 98.

10 vgl. Ott & Wrana 2014. bereits erwähnt ist hierbei nicht nur die Anrufung der Schwangeren bedeutend, sondern auch deren Beantwortung dieser Adressierungen.

11 Correll 2010, 80.

12 Müller & Zillien 2016, 419.

13 Hirschauer et al. 2014, 258.

14 Krauß & Krauss-Lembke 2012, 384.

15 Birk 2012, 280.

16 Krauß & Krauss-Lambke 2012, 384.

17 Müller & Zillien 2016, 420.

Excerpt out of 15 pages

Details

Title
Responsibilisierung und Professionalisierung von Schwangeren. Ethnographischer Einblick in die Praxis der Geburtsvorbereitung
Subtitle
Ethnografie der Schwangerschaft und Geburt
College
University of Frankfurt (Main)
Grade
2,0
Author
Year
2019
Pages
15
Catalog Number
V514850
ISBN (eBook)
9783346110428
ISBN (Book)
9783346110435
Language
German
Keywords
responsibilisierung, schwangerschaft, ethnografie, geburtsvorbereitung, praxis, einblick, ethnographischer, schwangeren, professionalisierung, geburt
Quote paper
Rukiye Tekin (Author), 2019, Responsibilisierung und Professionalisierung von Schwangeren. Ethnographischer Einblick in die Praxis der Geburtsvorbereitung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/514850

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