„In extrema neceßitate von Vater selbst getauft“ – so lautet ein Eintrag der Tegernseer Geburtsmatrikel von 1827. Worin und warum besteht diese übergroße Not, die gewendet werden muss? In den Tegernseer Matrikeln finden sich eine Reihe Einträge, die Nottaufen von Neugeborenen oder auch den Tod von ungetauften Kindern dokumentieren. Daraus lässt sich folgende Problematik für die Eltern ableiten: Auf der einen Seite steht das kirchliche Dogma der heilsnotwendigen Taufe der von der Erbsünde vorbelasteten Kinder. Auf der anderen Seite stehen zwei Aspekte der Eltern und ihrer sozialen Gemeinschaft: Die Eltern möchten ihrem Kind Anteil am ewigen Heil ermöglichen und es besteht die Angst vor ungetauft verstorbenen Kindern, die als Wiedergänger oder Irrlichter ihr Unwesen treiben könnten.
Zwischen dem kirchlichen Dogma der heilsnotwendigen Taufe einerseits und der Alltagserfahrung der Menschen anderseits, die den Tod von ungetauften Kindern erlebten und nicht verhindern konnten, entstand ein Spannungsfeld. Der Tod konnte prä- oder perinatal so rasch eintreten, dass eine Taufe nicht mehr möglich war und brachte die betroffenen Menschen damit in ein Dilemma. Dieses Dilemma konnte durch verschiedene Maßnahmen sowohl von Seiten der Kirche als auch von Seiten der betroffenen Menschen gelöst oder wenigstens gelindert werden. Im Rahmen dieser Arbeit stelle ich zunächst die untersuchten Quellen vor. Im Anschluss daran beschreibe ich die kirchliche Dogmatik sowie die damit zusammenhängende Jenseits-Topografie und schließlich den Handlungsspielraum der Eltern bei drohendem oder eingetretenem Tod ihrer ungetauften Kinder. Als Beispiel einer alltagsgeschichtlichen Handlungspraxis gehe ich zum Schluss auf das Phänomen der „Wundertaufe“ ein.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kindersterblichkeit im 19. Jhd. am Beispiel der Gemeinde Tegernsee
2.1. Quellenbeschreibung und Quellenkritik
2.2. Analyse der Quelle: Tegernseer Geburtsmatrikel 1827 - 1834
2.3. Das Phänomen der namenlos getauften Kinder von Tegernsee
3. Lehrmeinung der Kirche zur Taufe und dem Jenseits
3.1. Dogmatik der heilsnotwendigen Taufe
3.2. Mildernde Topografie des Jenseits
4. Handlungsmöglichkeiten der Eltern bei drohendem oder eingetretenem Tod ungetaufter Kinder
5. Die Wundertaufe als alltagsgeschichtliches Phänomen
6. Schlussbemerkung
7. Literatur
8. Anhang: Diagramm und Tabellen
1. Einleitung
„In extrema neceßitate von Vater selbst getauft“ – so lautet ein Eintrag der Tegernseer Geburtsmatrikel von 1827. Worin und warum besteht diese übergroße Not, die gewendet werden muss? In den Tegernseer Matrikeln finden sich eine Reihe Einträge, die Nottaufen von Neugeborenen oder auch den Tod von ungetauften Kindern dokumentieren.
Daraus lässt sich folgende Problematik für die Eltern ableiten: Auf der einen Seite steht das kirchliche Dogma der heilsnotwendigen Taufe der von der Erbsünde vorbelasteten Kinder. Auf der anderen Seite stehen zwei Aspekte der Eltern und ihrer sozialen Gemeinschaft: Die Eltern möchten ihrem Kind Anteil am ewigen Heil ermöglichen und es besteht die Angst vor ungetauft verstorbenen Kindern, die als Wiedergänger oder Irrlichter ihr Unwesen treiben könnten.
Zwischen dem kirchlichen Dogma der heilsnotwendigen Taufe einerseits und der Alltagserfahrung der Menschen anderseits, die den Tod von ungetauften Kindern erlebten und nicht verhindern konnten, entstand ein Spannungsfeld. Der Tod konnte prä- oder perinatal so rasch eintreten, dass eine Taufe nicht mehr möglich war und brachte die betroffenen Menschen damit in ein Dilemma. Dieses Dilemma konnte durch verschiedene Maßnahmen sowohl von Seiten der Kirche als auch von Seiten der betroffenen Menschen gelöst oder wenigstens gelindert werden.
Im Rahmen dieser Arbeit stelle ich zunächst die untersuchten Quellen vor. Im Anschluss daran beschreibe ich die kirchliche Dogmatik sowie die damit zusammenhängende Jenseits-Topografie und schließlich den Handlungsspielraum der Eltern bei drohendem oder eingetretenem Tod ihrer ungetauften Kinder. Als Beispiel einer alltagsgeschichtlichen Handlungspraxis gehe ich zum Schluss auf das Phänomen der „Wundertaufe“ ein.
2. Kindersterblichkeit im 19. Jhd. am Beispiel der Gemeinde Tegernsee
2.1. Quellenbeschreibung und Quellenkritik
Für diese Arbeit habe ich die Jahrgänge 1827 – 1834 der Tegernseer Geburtsmatrikel ausgewertet. Es handelte sich dabei um insgesamt 171 Geburten. Für die folgende Analyse dieser Geburtseinträge weise ich darauf hin, dass die Anzahl der Geburten nicht ausreicht, um empirisch aussagekräftige Zahlen zu erhalten. Die untersuchten Jahrgänge haben lediglich Stichprobencharakter, auch erfolgte die Auswahl der Jahrgänge zufällig und willkürlich. Um eine statistische Signifikanz für die einzeln dargestellten Relationen zu erhalten, müssten sowohl mehrere oberbayerische Gemeinden als auch deutlich mehr Jahrgänge der Geburtsmatrikeln untersucht werden. Da dies im Rahmen einer Seminararbeit nicht zu leisten ist, begnüge ich mich mit dem Hinweis auf Tendenzen, die in Tegernsee erkennbar sind. Aus diesem Grund trenne ich bei der Betrachtung der einzelnen Phänomene nicht nach dem Geschlecht der Kinder.
2.2. Analyse der Quelle: Tegernseer Geburtsmatrikel 1827 - 1834
In den untersuchten Jahrgängen der Tegernseer Gemeinde gab es eine Reihe verstorbener Säuglinge. In meiner Statistik sind alle Kinder enthalten, die in den Geburtsmatrikeln einen Sterbeeintrag erhielten. Die Matrikel geben Auskunft über 5 vor und 59 nach der Geburt gestorbener Kinder. Von den pränatal Verstorbenen handelt es sich bei 4 Einträgen um Totgeburten und um 1 Fehlgeburt[1]. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Anzahl der Fehlgeburten deutlich höher ist, als im Matrikel ersichtlich. Zum untersuchten Zeitpunkt war es durchaus noch üblich, Fehl- oder Frühgeburten im Haus, im Keller oder auf dem eigenen Grundstück zu begraben oder in Gefäßen beizusetzen[2], auch wenn die Kirche dieses Brauchtum nicht guthieß. Eingang in die Geburtsmatrikel fanden die Fehlgeburten üblicherweise nicht, wobei im Tegernseer Matrikel von 1834 eine Ausnahme belegt ist.
Das Alter der perinatal verstorbenen Kinder variiert zwischen dem Tod am Tag der Geburt und einigen Wochen Lebenszeit. Nicht untersucht habe ich das „Schwellalter“, von dem an der Tod eines Kindes nicht mehr im Geburts-, sondern im Sterbematrikel verzeichnet wurde. Der Zeitpunkt des Todes wurde also nicht betrachtet, lediglich die Existenz eines Todeseintrags im Geburtsmatrikel.
Verhältnis toter und lebender illegitimer Kinder:
Von den 64 als tot eingetragenen Kindern, waren 11 illegitim, das entspricht 17 %. Bei den lebenden Kindern lautet die Relation knapp 20 % (von 107 waren 21 Geburten illegitim). Es lässt sich hier also keine höhere Kindersterblichkeit illegitimer Kinder feststellen. Aufgrund der geringen Anzahl der ausgewerteten Einträge sind die Quoten allerdings nicht signifikant.
Nachträglich legitimierte Kinder:
Von den 7 nachträglich legitimierten Kindern (legitimati per matrimonium) handelte es sich bei 6 Kindern um am Leben gebliebene. Es gibt nur eine Ausnahme: 1832 heirateten die Eltern von Zwillingen nach der Geburt. Von dem Zwillingspärchen überlebte der Junge, das Mädchen jedoch nicht, so dass beide als nachträglich legitimiert registriert wurden. Es wäre natürlich interessant, ob die Eltern auch dann geheiratet hätten, wenn der Junge nicht überlebt hätte.
Verhältnis getaufter und ungetaufter Kinder
Von allen 171 Geburten wurden immerhin 168 getauft und nur 3 als nicht getauft registriert, was einem Verhältnis von ~ 98 % entspricht. Wenn man bedenkt, dass 5 Totgeburten registriert wurden, so ist das ein erstaunlicher Schnitt. Unter den 3 nicht Getauften wurde 1 Fehlgeburt registriert. Zieht man die Fehlgeburt aus der Anzahl der nicht Getauften ab, da sie als Eintrag sicherlich eine Ausnahme darstellt (s.o.), ergibt sich eine Quote von 99% getaufter Kinder.
Von 64 prä- oder perinatal verstorbenen Kindern wurden 10 mit einer Nottaufe versehen, woraus sich eine Quote von knapp 16% Nottaufen ergibt. Die Nottaufen wurden 4 mal von der Hebamme gespendet, 2 mal von einer anwesenden Bäuerin, 2 mal vom Landarzt und 2 mal vom Vater[3] des Kindes. In einem Fall taufte die Hebamme das Kind „in der Mutter“ –zur Praxis der Taufspritze und anderen Möglichkeiten der Nottaufe siehe Kapitel 4.
2.3. Das Phänomen der namenlos getauften Kinder von Tegernsee
Merkwürdig erschien mir bei der Auswertung der Matrikel, dass Eltern zwar für die Taufe ihres Neugeborenen sorgten, ihm jedoch nicht immer auch einen Namen gaben. Von 64 als verstorben registrierten Kindern sind 13 unter „Anonymus“ oder „Anonyma“ eingetragen, obwohl 10 die Nottaufe gespendet bekamen. Knapp 16% der Kinder wurden also namenlos registriert, obwohl sie getauft wurden. 3 Kinder wurden nicht getauft und ebenfalls namenlos registriert. Von diesen 3 ist bei der eingetragenen Fehlgeburt[4] nicht einmal das Geschlecht vermerkt.
Seit der Einführung der weltlichen Standesämter ist der Akt der Namensgebung vom Akt der Taufe getrennt, im frühen 19. Jahrhunderts jedoch fungierten noch die Kirchenmatrikel als Verwaltungsakten – hier lässt sich die Taufe von der Namensgebung eigentlich nicht trennen. In Tirol und Kärnten bedeutet „namenlos“ so viel wie „ungetauft“.[5] Dies steht im Widerspruch zu der Praxis in Tegernsee, einem Kind, obwohl es getauft wurde, keinen Namen zu geben. Andererseits ersieht man daran den hohen Stellenwert der Taufe, der höher eingeschätzt wurde als die Namensgebung.
[...]
[1] Eintrag im Matrikel von 1833: „Anonym. [...] um 5 Monate zu früh geboren.“
[2] vgl. Labouvie, S. 297
[3] Beide Male handelte es sich um legitime Kinder.
[4] Siehe Fußnote 1.
[5] HdA VI, 962
- Quote paper
- Astrid Brüggemann (Author), 2005, Das Seelenheil von ungetauft verstorbenen Kindern und die Topografie der Hölle, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51643
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.