August Strindberg: Fräulein Julie - Porträt der Protagonistin


Dossier / Travail, 1999

15 Pages, Note: 2,0


Extrait


Gliederung

A. Einleitung

B. Hauptteil
1. Fräulein Julies Verhältnis zu
a. der Gefolgschaft im Allgemeinen
b. Kristin
c. Jean
2. Fräulein Julie als
a. Domina und Männerhasserin
b. naives Kind
c. Gefallene

C. Schluss

Strindberg schrieb das naturalistische Trauerspiel „Fräulein Julie“ im Juli / August 1888 auf Skovlyst, einem kleinen Schloss in der Nähe von Kopenhagen. Das Stück zählt zu den Klassikern moderner Beziehungsdramatik und thematisiert unter anderem den Kampf zwischen Mann und Frau, der zum Kampf mit sich selbst führt.

Fräulein Julie, die Tochter eines Grafen, verbringt den Abend in der aufgepeitschten Atmosphäre der Mittsommernacht mit dem Diener ihres Vaters. Die beiden verstricken sich in eine bizarre Liebesgeschichte zwischen Freiheit und Sexualität, Macht und Ohnmacht. Sie suchen die Flucht nach außen und verirren sich im Inneren ihrer Gefühle und Wünsche. Am Ende bleibt - als scheinbar einzige Lösung - eine Tat der Verzweiflung.

Gleich zu Beginn des Einakters gibt Strindberg eine Charakterisierung Julies durch Jean, den Bediensteten ihres Vaters: „Heut abend ist Fräulein Julie wieder verrückt, komplett verrückt!“[1] Der Leser bekommt hier seinen ersten Eindruck von dem Fräulein, und zwar aus Sicht eines Dieners. Strindberg lässt Julie an dieser Stelle gar nicht die Möglichkeit, sich selbst darzustellen, sondern prägt die Einstellung der Leser ihr gegenüber. Bevor Fräulein Julie die Möglichkeit gegeben wird, sich selbst darzustellen, beginnt Jean schon, ihre negativen Eigenschaften aufzuzeigen. Mit dem Wortspiel „So ist es eben, wenn die Herrschaften sich unters gemeine Volk mischen, dann werden sie gemein.“[2] kommentiert er, wie Julie ein Tanzpaar auseinandergerissen hat, um mit dem Mann tanzen zu können. Dieses ganz und gar unfeine Verhalten macht sie vor ihrem Gefolge lächerlich. Auch wenn sie glaubt, von ihren Angestellten geliebt zu werden, lässt Strindberg des Öfteren bemerken, dass dem nicht so ist. So redet zum Beispiel ihre Ankleidedame mit der Köchin Kristin über die Figur ihrer Herrin, und das wohl nicht so ganz positiv: Als Jean von dem Körper Julies schwärmt, ist Kristins Antwort: „O ja, prahl nicht so! Ich hab gehört, was die Clara sagt, und die hilft ihr beim Ankleiden.“ Der Respekt vor der Herrschaft ist in diesem Fall völlig verloren gegangen, denn die Gefolgschaft unterhält sich untereinander ganz offen und ungeniert über so intime und delikate Themen wie die Figur Julies, die ja ihre Vorgesetzte ist. Aber auch an anderen Stellen des Trauerspiels kommt das Verhältnis zwischen Dienerschaft und deren Herren zum Vorschein, nämlich an einer der entscheidendsten Stellen des Stücks. Als Jean mit Julie in der Küche flirtet, nähern sich singend einige Leute. Julie, völlig naiv, erkennt die Lage nicht, und meint verblendet: “Ich kenne die Leute, und ich hab sie lieb, und sie mögen mich auch gern.“[3] Wie wenig das stimmt, zeigt das „Spottlied“[4], dass sie singen. Und Jean sagt es noch einmal in aller Deutlichkeit: „Von denen werden sie nicht geliebt. Die nehmen ihr Essen, aber hinterher spucken sie aus.“[5] Erst jetzt erkennt Julie ihr wirkliches Verhältnis zu ihrer Gefolgschaft, was sie eindeutig in ein naives Licht stellt. Sie ist nicht erfahren und reif genug zu verstehen, dass ein Diener, der auch als solcher behandelt wird, niemals ein wirklich freundschaftliches Verhältnis zu seinem Herren haben wird, sondern ihn im Gegenteil immer darum beneiden wird, etwas Besseres zu sein. Damit zeichnet Strindberg das Verhältnis Julie - Gefolgschaft kontrastiv. Julie hat eine hohe Meinung von ihren Angestellten, behauptet sogar, sie zu mögen (S. 30) und ist sich sicher, dass sich das auf Gegenseitigkeit beruht. Ganz im Gegensatz dazu spielen die Untergebenen Julie und der restlichen Herrschaft nur vor, an ihnen und ihrem Leben interessiert zu sein. Strindberg zeichnet seine Protagonistin damit sehr naiv und weltfremd. Julie lebt in der ihr vorgegaukelten Welt und ist nicht erfahren oder intelligent genug, diese kritisch zu hinterfragen und nach Ursachen für diese gespielte Freundlichkeit ihrer Dienerschaft zu suchen.

Genauso stellt Strindberg auch das Verhältnis zu Kristin, der Köchin und Verlobten Jeans dar. Voller Naivität sieht Julie in ihr ihre „Freundin“[6] und denkt, dass sie bereit ist, ihr zu helfen: „Hilf mir, Kristin! Rette mich vor diesem Mann!“[7] Gleichzeitig „eilt [sie] ihr entgegen und wirft sich in ihre Arme, als suche sie Schutz“[8]. Das alles scheint auf ein sehr gutes, inniges Verhältnis der beiden hinzuweisen. Das dem aber ganz anders ist, erfährt der Leser durch die Äußerungen Kristins. Gleich zu Beginn des Stückes äußert sie ihre Meinung über das Fräulein: „Verrückt ist sie immer gewesen [...]“[9] und auch im Laufe des Stückes spricht sie nicht ein einziges Mal positiv über ihre Vorgesetzte. Das führt sogar so weit, dass sie von Jean dazu ermahnt werden muss, „eine anständige Sprache [zu gebrauchen], wenn[sie von ihrer] Vorgesetzten [spricht].“[10] Auch als Julie völlig erschöpft „auf die Bank nieder [fällt]“[11] kümmert Kristin sich nicht um sie, sondert wendet sich zu Jean und unterhält sich mit ihm, ohne auf die verzweifelte Julie zu achten. Und sie zeigt ihre Abneigung später auch noch deutlicher, als Julie von ihr erfahren will, ob sie auch „die besondere Gnade Gottes“[12] erhalten kann. Kristin nimmt ihr alle Hoffnung und lässt sie richtig spüren, dass sie keinerlei Interesse an ihr und ihrem Schicksal hat. Im Gegenteil scheint sie es zu genießen, dass ein Reicher in eine derartige Situation gerät. Sie sieht sich damit in ihrer Position gestärkt, da sie „immer genügend Achtung“[13] vor sich selbst gehabt hat und sie, als „Köchin des Grafen [nie etwas] mit dem Stallburschen oder dem Schweinehirten gehabt hat.“[14] Sie sieht Julie nicht mehr richtig als ihre Vorgesetzte an, sondern als Mensch, der sich selbst erniedrigt hat und somit keine Achtung mehr verdient. Deshalb trifft sie die Entscheidung zu kündigen: „Nein, in so einem Haus will ich wirklich nicht länger bleiben, wo man keinen Respekt mehr vor seiner Herrschaft haben kann.“[15] Auf alle Zuneigung, die Julie ihr entgegenbringt und versucht, sich ihr gegenüber freundlich zu verhalten, reagiert Kristin entweder überhaupt nicht, und wenn, dann nur mit Ablehnung. Als Julie sie davon überzeugt, mit auf die Reise zu kommen, und Kristin „umarmt“[16] und „streichelt“[17], verhält sich die Köchin nur „kalt und nachdenklich“[18]. Trotz all dieser Ablehnung dem Fräulein gegenüber zeigt sie aber auch Anteilnahme an deren Situation und der Leser hat das Gefühl, dass sie sie sogar bemitleidet. Sie spricht sogar von dem „arme[n] Mädchen“[19] und in einer anderen Passage redet sie wie in Gedanken: „Das Fräulein, das immer so stolz war und so abweisend gegen Männer, daß man nie geglaubt hätte, sie könnte auf solche Abwege geraten [...]“[20]. In dieser Situation zeigt sie schon Anteilnahme an dem Schicksal der jungen Frau. Aber im Großen und Ganzen ist ihr Verhältnis zu ihr nicht das Beste, auch, wenn Julie wieder naiv daran glauben will, in ihr eine „Freundin“[21] zu haben. Auch hier zeichnet Strindberg wieder ein widersprüchliches Bild von den Verhältnissen zwischen dem Fräulein und ihrer Untergebenen. Julie sieht alles verklärt und einfältig, und glaubt, nicht nur eine Dienerin, sondern auch eine Vertraute in ihrer Köchin zu haben. Diese dagegen scheint sich - wie die anderen Untergeben auch - nicht für Julie und ihre Probleme zu interessieren, sondern erfüllt einzig und allein ihre Pflicht als Köchin.

Die Ausnahme in der Dienerschaft stellt Jean, der Diener des Grafen dar. Er ist der einzige, der sich näher mit Fräulein Julie beschäftigt und sich auch für sie zu interessieren scheint. Schon zu Beginn des Stückes demonstriert er sein besonderes Verhältnis zu der Grafentochter. Er berichtet Kristin von dem Tanz, den Julie mit dem Waldhüter angeführt hat und zu dem er dann auch gestoßen ist. Stolz erklärt er: „Kaum hat sie mich entdeckt, stürzt sie auf mich los und fordert mich auf zum Damenwalzer.“[22] Auch macht er keinen Hehl daraus, dass ihm das adelige Fräulein gefällt: „ein Weibsbild ist das! Prachtvoll! Ah, diese Schultern, und dann, na und so weiter.“[23] Allerdings zeigt er auch ganz klar, dass diese Anziehung rein körperlicher Natur und nur auf Äußerlichkeiten ausgelegt ist. Er findet, das Fräulein habe keine „Finesse“[24] und gebe „nicht acht auf sich und ihre Person“[25]. Er vergleicht sie mit der Frau des Grafen, die zwar nach außen immer die vornehme Gräfin darstellen wollte, eigentlich aber nie richtig sauber und adrett war. Dennoch versucht er, sobald Julie sich in die Küche begibt, all seinen Charme aufzubieten. Er benimmt sich ihr gegenüber „galant“[26] und flirtet mit ihr, indem er sie auf den guten Duft ihres Taschentuches und die „Zaubersuppe“[27] anspricht, die Kristin für das Fräulein vorbereitet. Aber auch Julie scheint großen Gefallen an ihm zu finden, denn sie fordert ihn, nachdem sie ja schon den Damenwalzer mit ihm getanzt hat, nun auch noch zu einem „Schottischen“[28] auf. Trotz aller Warnungen von Jean, die Leute könnten etwas Falsches denken, besteht Julie darauf, auch den zweiten Tanz mit ihm zu verbringen. Dabei möchte sie, dass er es nicht als Befehl ansieht, sondern aus freien Stücken mit ihr tanzen möchte. Gleichzeitig stellt sie sich als „Herrin des Hauses“[29] dar und erklärt: „...und wenn ich nun mal tanzen will, dann will ich mit einem tanzen, der auch führen kann, so daß ich mich nicht lächerlich mache“[30]. Wie sehr Julie von Jean angezogen ist, zeigt Strindberg immer wieder. Kurz nachdem der Tanz beendet und Jean zu seiner Verlobten in die Küche zurückgekehrt ist, der er den nächsten Tanz versprochen hat, ist Julie wieder zu Ort und Stelle und beschwert sich, dass ihr ihr „Kavalier“[31] davongelaufen sei. Auch als Jean kurz darauf auf ihren Befehl hin in einem schwarzen Gehrock erscheint, lässt sie es sich nicht nehmen, ihm auf französisch Komplimente zu machen. Ihre Begeisterung steigert sich noch, als sie bemerkt, dass Jean des Französischen mächtig ist. Der Autor unterstreicht diese Begeisterung dadurch, dass sich Fräulein Julie an dem Tisch nieder lässt[32] und sich somit auf eine längere Unterhaltung einstellt. Jean wiederum steht der ganzen Sache skeptisch gegenüber. Er weiß, was die Leute zu denken fähig sind und macht keinen Hehl daraus, dass ihm seine Zukunft und seine Aufstiegspläne zu wichtig sind, um sie aufs Spiel zu setzten: „Ich möcht’ nicht ohne Zeugnis weggejagt werden, wenn ich mich etablieren will.“[33] Außerdem denkt er an seine Verlobung mit Kristin und erklärt dem Fräulein, dass er seiner Verlobten gegenüber „gewisse Verpflichtungen“[34] habe. Doch Fräulein Julie ist zu weltfremd, um die gefährliche Situation zu erkennen. Sorglos sitzt sie mit ihrem Diener in der Küche und trinkt mit ihm, flirtet mit ihm und versucht mit erzwungenen erotischen Spielchen wie Hand- und Fußkuss[35] seine Leidenschaft zu schüren. Immer wieder gibt sie sich dreist und herausfordernd, „sieht in zärtlich an“[36] und „befühlt seine Oberarme“[37]. Jean dagegen versucht ständig aufs Neue sie von der Gefährlichkeit ihres Verhaltens zu überzeugen und als ihm das nicht gelingt, gibt er schließlich auf: „dann schreiben sie sich selbst die Schuld zu!“[38] Aus einer aufgehitzten Stimmung heraus, will er sie küssen, worauf sie ihm eine „Ohrfeige“[39] gibt. Hier erkennt Jean, dass Julie nur mit ihm gespielt hat und stolz erklärt er ihr: „Ich hab jetzt genug vom Spiel und bitte um Verzeihung, daß ich wieder an meine Arbeit gehe.[...] Es wird mir nie einfallen, ihr Spielkamerad zu sein, niemals werd ich das, dazu bin ich mir zu gut.“[40] Jean gibt sich in dieser Situation äußerst stolz und selbstbewusst und bleibt seinen Prinzipien treu. Er will sich nicht erniedrigen, indem er für Julie nur als Spielzeug oder Eroberung fungiert. Er weiß ganz genau, was er will, und das macht er ihr auch klar. Aber ab diesem Zeitpunkt dreht er den Spieß nun um, und versucht nun seinerseits das Interesse Julies zu wecken. Mit einer erfundenen Geschichte will er sie glauben machen, dass er sich schon als kleiner Junge unsterblich in sie verliebt hätte und sogar aus Kummer darüber, dass er sie nie besitzen würde, Selbstmord begehen wollte. Wieder einmal ist Julie naiv genug, ihm die Geschichte zu glauben. Strindberg zeichnet sie hier als verwöhnte Grafentochter, die nicht in der Lage ist, ihre Umwelt kritisch zu betrachten und nicht auf jede Finte hereinzufallen. Sie glaubt das, was sie glauben will und macht sich keine weiteren Gedanken aus welchen Motiven heraus jemand vielleicht Interesse daran haben könnte, ihr etwas vorzugaukeln. Und Jean, der sich „etablieren will“[41], beginnt nun, seine Chance dazu zu sehen und zu nutzen. Dass Julie Jean nicht wirklich mit ihren erotischen Spielchen betören kann, zeigt sich, als er ihr nur Bier anbietet, obwohl er vorher selbst Wein getrunken hat. Zu diesem Zeitpunkt hat er wohl schon gemerkt, dass es keiner großen Taten braucht, um Julie auf seine Seite zu ziehen. Strindberg verdeutlicht das Verhältnis der beiden zueinander immer wieder durch Szenenanweisungen. So lässt er Jean „auf den Knien, parodistisch scherzend“[42] auf das Wohl Julies trinken, nachdem sie ihn dazu aufgefordert hat. Man kann erkennen, dass er mit ihr spielt, und Julie erwähnt es sogar selbst, ohne den eigentlichen Sinn ihrer Worte zu verstehen, indem sie ihn als „Schauspieler“[43] bezeichnet. Julie, die nicht in der Lage ist, die Tragweite ihres Flirts einzustufen, bemerkt nicht, wie Jean immer „dreist[er]“[44] wird und nach und nach die Oberhand in ihrer Unterhaltung gewinnt. Das zeigt sich unter anderem wieder in den Regieanweisungen, die Strindberg gibt. Jeans Tonfall beginnt sich zu ändern. Hat er vorher noch höflich und zuvorkommend mit der Grafentochter gesprochen, so wird er jetzt „frech“[45] und „streng“[46]. Auch macht er einige Andeutungen, die er sich seiner Vorgesetzten gegenüber eigentlich verkneifen müsste. Auf die Frage Julies, woher er wüsste, dass Kristin im Schlaf rede, antwortet er, dass er es gehört habe. Durch die Szenenanweisung macht Strindberg deutlich, welche eigentliche Absicht dahinter gesteckt hat: es entsteht eine Pause, in der die beiden einander betrachten.[47] Damit entsteht die erste wirkliche erotische Situation und sie verweist schon darauf, was später passieren wird. Aber Jean zeigt auch, wieder eingeleitet durch eine Szenenanweisung, wie er immer mehr die Oberhand in der Unterhaltung gewinnt und Julie sich ihm langsam unterwirft. So erklärt er ihr zum Beispiel, dass er sie des Öfteren belauscht und intime Details erfahren hat. Auf Julies empörte Reaktion hin „sieht [er] sie scharf an“[48] und beteuert ihr, dass sie gar nicht so unschuldig zu tun braucht. Jean wird also immer mutiger, wagt sogar dem Fräulein vorzuschlagen, sich schlafen zu legen, weil es zu spät geworden sei.[49] Und er dreht das Blatt endgültig, nachdem er sie verführt hat. Kaum wieder in der von den Bauern verwüsteten Küche angekommen, nutzt er sofort die Gelegenheit und macht dem Fräulein klar, dass es unmöglich sei, noch länger hier zu bleiben. Die einzige Rettung sei eine Flucht. Damit hat er Julie genau an dem Punkt, an dem er sie haben wollte. Sprach er vorher von einem Traum vom Aufstieg, zu dem er nur den ersten Ast bräuchte, um dann weiter zu kommen, so hat er diesen jetzt erreicht. Er hat Julie verführt und will sie nun dazu überreden, eine Reise mit ihm zu unternehmen und ein Hotel zu gründen. Dadurch könnte er aus der so gehassten Dienerrolle schlüpfen und sich etablieren. Julie glaubt Jean naiv seine Zukunftspläne und ohne sie kritisch zu hinterfragen, verlangt sie nur von ihm, in den Arm genommen zu werden. An dieser Stelle zeigt sich wieder das richtige Verhältnis der beiden zueinander. Julie, „echt weiblich“[50] braucht von ihm die Bestätigung, dass er sie liebt, weil sie ansonsten nicht stark genug ist, die Flucht zu ergreifen und das Elternhaus mit all seinen Annehmlichkeiten zu verlassen. Jean, wieder ganz seiner Dienerrolle verfallen, sieht sich dazu nicht in der Lage, solange er nicht das Haus und die damit verbundene Stellung als Bediensteter verlassen hat. Die zwei sind in einem Teufelskreis verstrickt. Jean bräuchte Julie nur mit ein paar netten Worten schmeicheln und sie würde ihm folgen. Aber er kann es nicht, solange sie noch in dem Gut des Grafen sind. Und Julie wird ihm erst dann folgen, wenn er ihr durch schöne Worte Mut zur Flucht gemacht hat. Dass sie sich darin einer Illusion hingibt, wird deutlich, wenn man die Sprechweise der beiden miteinander vergleicht: verwendet Julie nach der Verführung das vertraute „du“[51], so bleibt Jean konsequent bei dem unpersönlichen, distanzierten „Sie“. Damit ist klar, dass er nicht bereit oder nicht fähig ist, die Schranken, die zwischen den beiden sind, zu überwinden und eine normale Beziehung mit ihr einzugehen. Julie dagegen ist bereit, auf ihren Adelstitel zu verzichten und eine Beziehung mit ihm einzugehen. So erklärt sie sich bereit, „herab[zu]steigen“[52] und fordert Jean auf: „Kommen Sie! Lassen sie uns versuchen!- Kommen Sie!“[53], wobei sie „ihn zärtlich an[sieht]“[54]. Sie ist also ganz im Gegensatz zu ihm bereit, eine Beziehung einzugehen. Jean dagegen hält eine solche Verbindung für eine „Mesalliance“[55] und möchte nur seinen Nutzen aus der Sache ziehen. Um sein Ziel zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Er achtet nicht auf die Gefühle von Julie und belügt sie sogar mehrfach, um sie von seinem Plan zu überzeugen. Zuerst erfindet er eine Geschichte von einem Jungen, der sich unsterblich in die Grafentochter verliebt hat und sich aus Gram, niemals ihre Liebe gewinnen zu können, das Leben nehmen will. Julie fällt naiv auf dieses Märchen hinein und glaubt ihm jedes Wort: „Und Sie wollten sterben meinetwegen!“[56], doch Jean nimmt ihr ihre Illusionen: „Das war nur Gerede.“[57] Aber nicht nur an dieser Stelle belügt er sie. Um sie davon zu überzeugen, mit ihm die Reise zu unternehmen und ihn finanziell zu unterstützen, erfindet er die schönsten Beschreibungen über die „italienischen Seen“[58] und wie schön dort alles ist. Julie prüft diese völlig realitätsfremden Aussagen kein einziges Mal kritisch, sondern hört wieder einmal nur das, was sie auch hören will. Auch hier muss Jean sie wieder aufklären: „Der Comersee ist ein Regenloch und Orangen hab ich da nur im Gemüseladen gesehen“[59]. Hier wird ganz deutlich, wie das Verhältnis zwischen Jean und Fräulein Julie wirklich ist. Er hält sie für naiv und benutzt sie nur, auch wenn er sie für „eine herrliche Frau“[60] hält, die „viel zu gut für so einen wie [ihn ist]“[61]. Trotzdem hat er keinerlei Respekt vor ihr und schreckt auch nicht davor zurück, sie ein drittes Mal zu belügen. Auf Fräulein Julies „äußerst nervös[e]“[62] Frage, ob Kristin „etwas [ahnen würde]“[63], antwortet er: „Sie weiß von nichts“[64], obwohl er sich kurz davor mit ihr darüber unterhalten hat. Er benutzt diese Lüge, um seine Fluchtpläne nicht zu gefährden und somit sein Ziel, nämlich ein eigenes Hotel, verwirklichen zu können. An Jeans Verhalten kann man außerdem erkennen, dass es ihm gar nicht um die Person von Julie geht, sondern dass er einzig und allein an sich denkt. In seinen Zukunftsplänen fällt nicht einmal ihr Name, geschweige denn bezieht er sie überhaupt in seine Überlegungen mit ein. Er redet die ganze Zeit nur von sich: „Dazu bin ich nicht geboren, auf der Nase zu liegen, denn ich hab was in mir, da ist ein Charakter, und wenn ich nur den ersten Zweig zu fassen kriege, dann soll’n Sie mich klettern sehn! Heut bin ich Diener, aber nächstes Jahr bin ich Hotelbesitzer, in zehn Jahren bin ich Rentier, und dann reise ich nach Rumänien, lasse mir einen Orden anhängen und kann [...] als Graf enden.“[65] Er denkt überhaupt nicht daran, Julie zu lieben hat er doch schon vorher erwähnt, dass er das Wort „Liebe“ nicht gebraucht, er aber schon „hinter vielen Mädchen her [war]“[66]. Statt dessen soll Julie sein „Kompagnon“[67] werden, „der die Fonds vorstrecken kann“[68]. Dass sie ihn seinen Augen wirklich nicht mehr wert ist, zeigt sich an seinem Verhalten. Er ermahnt sie, nicht „vornehm [zu spielen]“[69], was impliziert, dass sie in Wahrheit gar nicht vornehm ist. Auch ändert sich schlagartig seine Redeweise. Benutzte er vorher eine höfliche Sprache, die Julie vermuten ließ, dass er viel am Theater gewesen sei, so zeigt er jetzt sein wahres Gesicht. Wie zu einer Frau seinesgleichen versucht er sie zu beruhigen: „Nun, nun, Mädel, komm, ich lad dich zu was Extragutem ein.“[70] Er sieht in ihr nicht mehr seine Vorgesetzte, sondern eine Frau, die er verführt hat und die ihm nun bei seinem Aufstieg behilflich sein kann. Das Verhältnis der beiden ist so sehr gestört, dass sie in regelrechten Streit ausbrechen. Julie, die mit der Situation nicht klar kommt, beginnt, Jean zu beleidigen, worauf dieser, der vorher schon sehr vorlaut geworden ist, heftig zurückschlägt: „Domestikendirne, Lakeinenflittchen, halt die Klappe und mach, daß du rauskommst!“[71] Die zwei bewegen sich zwischen Leidenschaft und Hass, befinden sich in einem absoluten Gefühlschaos. Kurz nach diesen vernichtenden Worten schlägt Jean wieder ganz andere Töne an. Strindberg vermerkt dazu in den Regieanweisungen, dass Jeans „Leidenschaft [...] wieder wach [wird]“[72]. Er will nicht nur ein Objekt für das Fräulein sein, das sie optisch anzieht, sondern will ihre Liebe. Er ist zu stolz, von ihr nur als „Tier“[73] gesehen zu werden, aber schöpft neue Hoffnung, als sie andeutet, dass er ihre Liebe gewinnen könnte. Aber im nächsten Augenblick schwenken ihre Gefühle wieder in Hass um. „Ich hasse sie, wie ich Ratten hasse“[74], schleudert sie ihm ins Gesicht. Das Verhältnis der beiden schwankt also immer zwischen Hass und Leidenschaft, von Liebe wollen wir hier nicht reden. Die beiden stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Jean braucht Julie, um seine Zukunftspläne zu verwirklichen, Julie will aus ihrem Elternhaus weg, Freiheit erlangen und von Jean geliebt werden, um nicht die Schande ertragen zu müssen, lediglich als Mätresse zu fungieren. Dass die Auffassungen von den beiden über Leben und Liebe allerdings ganz gegensätzlich sind, beschreibt Strindberg an mehreren Stellen des Trauerspiels.

[...]


[1] Siehe: August Strindberg: Fräulein Julie. Frankfurt am Main: Surhkamp Verlag 1961, S. 7

[2] a.a.O., S. 10

[3] a.a.O., S.30

[4] ebd.

[5] ebd.

[6] a.a.O., S. 61

[7] ebd.

[8] ebd.

[9] a.a.O., S. 7

[10] a.a.O., S. 65

[11] a.a.O., S. 64

[12] a.a.O., S. 66

[13] a.a.O., S. 65

[14] ebd.

[15] a.a.O., S. 54

[16] a.a.O., S. 62

[17] ebd.

[18] ebd.

[19] a.a.O., S:54

[20] a.a.O., S. 55

[21] a.a.O., S.61

[22] a.a.O., S.7

[23] a.a.O., S.10

[24] ebd.

[25] ebd.

[26] a.a.O., S.11

[27] ebd.

[28] ebd.

[29] a.a.O., S.12

[30] ebd.

[31] a.a.O., S.14

[32] a.a.O., S.15

[33] a.a.O., S.29

[34] ebd.

[35] siehe a.a.O., S.22/17

[36] a.a.O., S.20

[37] a.a.O., S:21

[38] a.a.O., S:22

[39] ebd.

[40] a.a.O., S.23

[41] a.a.O., S.29

[42] a.a.O., S.17

[43] ebd.

[44] ebd.

[45] a.a.O., S. 16

[46] a.a.O., S.18

[47] vgl. a.a.O., S.16

[48] a.a.O.,S.28

[49] a.a.O., S. 29

[50] a.a.O., S.33

[51] vgl. a.a.O., S.33

[52] a.a.O., s.19

[53] a.a.O., S.20

[54] ebd.

[55] a.a.O., S.48

[56] a.a.O., S.38

[57] ebd.

[58] a.a.O., S.32

[59] a.a.O., S.47

[60] a.a.O., S.41

[61] ebd.

[62] a.a.O., S.56

[63] ebd.

[64] ebd.

[65] a.a.O., S.34

[66] a.a.O., S.23

[67] a.a.O., S.36

[68] a.a.O., S.35

[69] a.a.O., S.37

[70] ebd.

[71] a.a.O., S. 39

[72] a.a.O., S.41

[73] ebd.

[74] a.a.O., S.42

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
August Strindberg: Fräulein Julie - Porträt der Protagonistin
Université
University of Würzburg  (Deutsche Philologie )
Cours
Die deutsche Tragödie von Büchner bis Hauptmann
Note
2,0
Auteur
Année
1999
Pages
15
N° de catalogue
V51947
ISBN (ebook)
9783638477758
ISBN (Livre)
9783656816751
Taille d'un fichier
444 KB
Langue
allemand
Mots clés
August, Strindberg, Fräulein, Julie, Porträt, Protagonistin, Tragödie, Büchner, Hauptmann
Citation du texte
MA Katrin Denise Hee (Auteur), 1999, August Strindberg: Fräulein Julie - Porträt der Protagonistin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51947

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