Und immer wieder Prometheus?! Das Gedicht Johann Wolfgang von Goethes und seine Fassungen

Erklärungsversuche


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

37 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Der Ursprung von Goethes Prometheus

2 Zu den Fassungen
2.1 Die nicht autorisierte und anonyme Fassung von 1774
2.1.1 Betrachtung von Inhalt und Aufbau
2.1.2 Formale Betrachtung
2.1.3 Sprachlich -stilistische Betrachtung
2.2 Die Fassungen von 1789 und 1827 – Ein Vergleich

3. Prometheus 2019 – Ein Exkurs

Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Anhang 1

Anhang 2

Anhang 3

Anhang 4

Einleitung

Sich mit Goethes Gedichten zu beschäftigen, bedeutet stets eine disziplinäre Grenzüberschreitung, handelt es sich bei ihm doch um ein Universalgenie mit vielen Talenten, nicht nur in der Literatur und der Zeichenkunst. Mit der Botanik, Mineralogie, Anatomie und Physik betätigte er sich gleich in mehreren Wissenschaften als emsiger und ehrgeiziger Forscher. Zahlreiche literarische und dramatische Bearbeitung der Moderne dokumentieren die ungebrochene Lebendigkeit Goethes. Wie auch seine anderen Hymnen entsteht Prometheus als frühes lyrisches Werk Goethes in seiner Sturm-und-Drang-Zeit und zählt für die meisten Goethe-Forscher dabei zu den innovativsten lyrischen Zeugnissen der Literatur dieser Zeit.1

Eine vergleichende Analyse der Fassungen der wohl bekanntesten Hymne Goethes Prometheus in Inhalt, Aufbau und Form und einem Schwerpunkt auf dem Vergleich drei ausgewählter Versionen, deren Veröffentlichungen sich über sein gesamtes Schaffen hinweg vollziehen, kann daher als sinnvolle literaturwissenschaftliche Aufgabe begriffen werden. Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick über den Ursprung und die Verbreitung des Prometheus von Johann Wolfgang von Goethe. Im Anschluss wird die erste der gewählten Fassungen zudem inhaltlich, formal und sprachlich-stilistisch unter ausgewählten für die Analyse zielführenden Gesichtspunkten betrachtet. Es werden im Anschluss vor allem die Unterschiede der einzelnen betrachteten Varianten herausgestellt. Ein Exkurs in das Jahr 2019 bereichert zusätzlich die Analyse. In der Schlussbetrachtung und dem Fazit wird dann das Thema nochmals zusammengefasst und erworbene Erkenntnisse benannt. Außerdem soll aufgezeigt werden, wie mit dem Thema weitergearbeitet werden könnte.

1 Der Ursprung von Goethes Prometheus

Bis heute ist es nicht möglich die Entstehungszeit von Goethes vielleicht bekanntesten und wohl am meisten bewunderten Gedicht genauer zu datieren als zwischen Herbst 1773 und Herbst 1774. Die spektakuläre Veröffentlichung erfolgt im Sommer 1785, knapp zwölf Jahre nachdem das Gedicht quasi entstanden ist.2

Was hingegen Johann Wolfgang von Goethes Affinität zu Prometheus- Mythos angeht, so kann dies schon genauer dargestellt werden. In seiner „Shakespeare-Rede“ von 1771 vergleicht er sein literarisches Vorbild Shakespeare mit der Figur des Prometheus. Prometheus als mythischer Menschenbildner ist in Goethes Verständnis der Prototyp des schöpferischen Künstlers. Goethe versteht Shakespeare also als einen zweiten Prometheus, einen Kulturstifter, da dieser in seinen Augen nicht wie

alle edlen Seelen [ist, die] schlaftrunken in langweiliger Dämmerung halb sind, halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben; und weil sie nicht müde genug zu ruhen, und doch zu faul sind um tätig zu sein, ihr Schatten Leben […] verschlendern und vergähnen[,] 3

sondern sich von der breiten Masse abwendet. Ein paar Jahre später spricht er dann schließlich „selbst“ als Prometheus4. Das rebellische Aufbegehren kann als sein eigenes gedeutet werden ebenso der überwältigende Ausdruck der Schöpferkraft. Auch Wieland bezeichnet 1775 den jungen Goethe als „Prometheus-Goethe“5. Bis heute gibt es viele Vertreter der Identifikationsthese beziehungsweise der Idee einer Art Selbstporträt. Doch das ist nicht die einzige Möglichkeit den Prometheus zu verstehen. Es gibt auch Sichtweisen, die Goethes Verhältnis zu seinem Gedicht distanzierter und komplexer darstellen.6

Als gesicherte Information gilt, dass die Hymne oder Ode7 zum Corpus eines „Prometheus“-Dramas gehörte. Goethe bringt im Sommer oder Herbst 1773 zwei kurze Akte mit etwas mehr als 400 Versen zu Papier. Für den 12. Oktober wird sogar dokumentiert, dass Goethe von seinem Drama zwei Akte vorgelesen hat. Das Drama selbst bleibt jedoch ein Fragment.8 Nachweißlich geht die Arbeit an diesem Drama der Niederschrift der Ode zweifelsohne voraus.9 An dieser Stelle kann nun mit der Analyse und Interpretation des Prometheus angesetzt werden.

2 Zu den Fassungen

Im Folgenden werden drei Fassungen betrachtet, die sich von der Erstveröffentlichung bis zu einer letzten Publikation kurz vor Goethes Tod erstrecken und somit die Spannweite seines Lebens abdecken. Begonnen wird mit der Version von 177410 nach der Handschrift aus dem Nachlass eines seiner engen Freunde Johann Heinrich Merck und ihrer Besonderheit. Goethe ist zu jener Zeit der Veröffentlichung gerade 25 Jahre jung. Bei dieser Version soll etwas genauer auf Inhalt und Aufbau, Form und sprachlich-stilistische Betrachtung des lyrischen Werks eingegangen werden, wobei die Analyse keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern ihre Schwerpunkte vor allem in einigen für die vergleichende Analyse relevanten Phänomene und Auffälligkeiten sucht. Etwa ein Viertel Jahrhundert später findet sich eine weitere veränderte Fassung11, Goethes Schriften entnommen, veröffentlicht diesmal durch Goethe selbst. Welcher Art sind die Veränderung und deren Gründe wie sind sie möglichweise zu gewichten? Darauf soll im Vergleich der Fokus liegen. 1827 ergeht eine Spätfassung12, nur wenige Jahre vor Goethes Tod. Hier stellt sich die Frage, inwiefern weitere Veränderungen unternommen werden und welche Bedeutungen ihnen beigemessen werden könnten? Als Exkurs ist eine weitere Fassung mit in die Arbeit aufgenommen. Sie entstammt nicht Goethes Hand. Die Gründe ihrer Aufnahme in diese Arbeit liegen in der Aktualität und der Relevanz des neu erschaffenen lyrischen Werks und der andauernden Wirkung des auf einem Fragment basierenden Originals und seiner Nachfolger bis in das Jahr 2019.

2.1 Die nicht autorisierte und anonyme Fassung von 1774

Das Werk erscheint also zum ersten Mal 1785 in einer von Goethe unautorisierten und anonymen Fassung. Goethe wollte den Prometheus eigentlich nicht veröffentlichen, er ließ ihn ausschließlich in seinem Freundeskreis herumgehen. Eine Abschrift erhalten Charlotte von Stein, Johann Heinrich Merck und Friedrich Heinrich Jacobi.13 Die Thematik des Gedichts ist Goethe wohl zu heikel, er hat Sorge wegen Blasphemie bezichtigt und an den Pranger gestellt zu werden. Es ist sein Freund Friedrich Heinrich Jacobi, welcher Prometheus erstmals in seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn abdruckt. Im öffentlichen Disput mit Moses Mendelssohn führte er an, er habe Prometheus Lessing kurz vor dessen Tod gezeigt, woraufhin sich dieser als Spinozist bekannt habe. Da Spinozas Pantheismus zu jeder Zeit gleichbedeutend mit Atheismus war, handelte es sich im schon im Sinne der Argumentation Jacobis um ein durchaus brisantes Werk.14 So legt er seinem Bericht den Prometheus bewusst nur als loses Blatt ein, noch dazu mit einer eindeutigen Gebrauchsanweisung.

Das Gedicht Prometheus wird zwischen S. 48 und 49 eingeheftet. Es ist besonders gedruckt worden, damit jedweder, der es in seinem Exemplar lieber nicht hätte, es nicht darin zu haben braucht. Noch eine Rücksicht hat mich diesen Weg einschlagen lassen. Es ist nicht ganz unmöglich, daß an diesem oder jenem Orte meine Schrift, des Prometheus wegen, konfisziert werde. Ich hoffe, man wird nun an solchen Orten sich begnügen, das strafbare besondere Blatt allein aus dem Weg zu räumen. 15

Es zeigt sich hier, dass jedem, der in Deutschland am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung „ketzerische“ Vorstellungen in der Öffentlichkeit verbreitete, immer noch Sanktionen drohen. Dank dieser Veröffentlichung ist es nun allerdings auch einem größeren Publikum bekannt. So ist die Wichtung seines Werkes wohl an anderer Stelle genauer zu betrachten, nämlich wenn er sich nicht ganz vorbehaltlos zu seinem Werk äußert, indem er zum Beispiel am 17.11.1784 einen Brief an Jacobi schreibt, indem er sich mild tadelnd wie folgt äußert:

Du schickst mir Deinen Spinoza. Die historische Form kleidet das Werkchen gut. Ob Du aber wohl getan hast, mein Gedicht mit meinem Namen vorauf zu setzen, damit man ja bei dem noch ärgerlichen Prometheus mit Fingern auf mich deute, dass mache mit dem Geiste aus, der Dich es geheißen hat. Herder findet lustig, dass ich bei dieser Gelegenheit mit Lessing auf einen Scheiterhaufen zu sitzen komme. 16

An dieser Stelle kann Goethe bereits eine gewisse gewachsene Distanz zu seinem Werk unterstellt werden. Am gleichen Tag verfasst er noch einen weiteren Brief, diesmal an Charlotte von Stein.

Jacobi macht mir einen tollen Streich. In seinem Gespräche mit Lessing kommt doch das Gedicht Prometheus vor, jetzt, da er seine Götterlehre drucken lässt, setzt er das andre Gedicht: edel sey der Mensch! Mit meinem Namen voraus, damit ia iedermann sehe, daß Prometheus von mir ist. Wie du aus bey-liegendem Wercklein sehn kannst.17

Der Abdruck des dem Blatt nachfolgenden Gedichts von Goethe, welches ihm wiederum eindeutig zugeordnet werden kann, weil es seinen Namen als Autor trägt, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass auch der Text auf dem Loseblatt von Goethe sein muss.

Der anonym abgedruckte Text schreit [jedoch] geradezu nach der Angabe des Verfassers. Anonymität wird hier also gerade nicht als Schutzmantel benutzt, sondern als Provokation: Der Dichter als genuiner Schöpfer wird nicht namentlich genannt, ist aber durch die inszenierte Leerstelle, die nach Füllung verlangt, übergegenwärtig, und der Leser soll sich nicht mit der Anonymisierung zufrieden geben, sondern selbst der Sache auf den Grund gehen. 18

Goethes Reaktionen untermauern genau die These. An seinem Freund Carl von Knebel – um noch einen weiteren Zeitzeugen zu benennen - schreibt er diesbezüglich am 18. November 1785: „Jacobis metaphysisches Unwesen über Spinoza, wo er mich leider such compromittirt, wirst du gesehen haben.“19 Goethe weiß sehr wohl um die Brisanz der ungewollten Veröffentlichung, scheint aber auch nichts dagegen unternommen zu haben. Selbst seine Beschwerden an Jacobi erscheinen eher als zarte Versuche der Abmilderung als tatsächliche Empörung.

2.1.1 Betrachtung von Inhalt und Aufbau

In Prometheus[20] beschäftigt sich der junge Johann Wolfgang von Goethe hauptsächlich mit dem Verhältnis zwischen dem Menschen und der Obrigkeit, hier in Form von Prometheus und Gott beziehungsweise Götter als zentralen Gegenstand des Gedichts. Das lyrische Werk teilt sich dabei in drei größere inhaltlich differenzierte Abschnitte. Die erste, die zweite und die dritte Strophe geben dem Rezipienten Auskunft über die Beziehung von Prometheus als lyrisches Ich und Zeus. Prometheus wendet sich als selbsternannter Erschaffer der Erde an den im Himmel lebenden Göttervater. Es lehnt Zeus Autorität ab, verhöhnt ihn regelrecht, indem er davon spricht, dass ihn Zeus um sein Lebenswerk beneide. Die folgenden Passagen bis einschließlich der sechsten Strophe nehmen auf die Kindheit und Vergangenheit Prometheus Bezug. "Die Kindheitsstrophen bezeugen Hilfslosigkeit, Verlassenheit und Einsamkeit, die Selbst-Besinnung des Heranwachsenden, den Wechsel von Ohnmachts- und Allmachtsgefühlen."21 Zunächst ruft er nicht mehr nur Zeus, sondern sämtliche Götter an. Auf Grund seiner Erfahrungen in der Vergangenheit nennt er sie „arme Wesen“, abhängig von den Opfergaben und Gebeten der Kinder und Bettler. Die Zeilen können als Erweiterung der Anklage auf die Götter im Allgemeinen verstanden werden. Nun folgt eine Rechtfertigung ebendieser Klage, denn in der nächsten Strophe erfolgt die Rückbesinnung des lyrischen Ichs. Prometheus gesteht, dass er sich als Kind in ausweglosen Situationen vertrauensvoll an ebendiese Götter gewandt und auf Beistand gehofft habe. Prometheus weiß aber inzwischen, dass er nur dank seiner eigenen Tapferkeit und seines Muts jede Gefahr überlebt hat und irrtümlich den schlafenden Göttern dafür gedankt habe. Dieser Abschnitt ist voller Vorwürfe, denn er offenbart eine Aufzählung von durchlebten und selbst gemeisterten Ereignissen des Prometheus. In der fünften Strophe wird Zeus außerdem angeklagt, sich nicht um die Not anderer zu kümmern. Eine über Zeus und Prometheus stehende, stärkere Macht wird erwähnt. Prometheus jedoch stellt sich dem Leben, auch wenn sich nicht alle (Jugend-) Träume erfüllen. Der letzte Abschnitt wiederum gibt die gegenwärtige Situation des lyrischen Ichs Prometheus wieder. Dabei verherrlicht er sich und seine Taten, um sich nochmals von Zeus abzugrenzen. Er eignet sich die biblische Schöpfungsformal an „Hier sitz ich forme Menschen/ Nach meinem Bilde“ (V. 50f.) und beendet seine zornige Rede, indem er Zeus provoziert. Er erklärt, er erschaffe Menschen, die der Gefühle und des Genießens fähig seien und die das Götteroberhaupt Zeus ebenso wenig verehren werden wie Prometheus selbst.

Es gibt viele Interpretationsansätze für dieses Werk. Es ist die Frage der Protestrolle, die darüber entscheidet, was der Rezipient im Prometheus zu erkennen glaubt. Der religiöse Protest ist die am Deutlichsten greifbare Verarbeitung des Themas des Gedichts. Es ist ebenso offensichtlich, dass eine Übertragbarkeit der religiösen und mythologischen Bildersprache auch auf weltliche Autoritäten möglich ist. Fest steht, dass das Rebellieren gegen religiöse Autorität im 18. Jahrhundert immer auch zugleich einem politischen Protest entspricht. Spricht hier also der Künstler, der sich gegen die bürgerliche Gesellschaft auflehnt oder der Sohn, welcher sich gegen den Vater stellt oder gar der Sozialrevolutionär, der gegen die politische Ungerechtigkeit kämpft oder schließlich der Freigeist entgegen den kirchlichen Autoritäten. Schreibt Goethe autobiographisch, nimmt er eine politische Position ein, fordert er gesellschaftliches Erwachen? Um sich dabei dem Kern der Analyse zu nähern, sollte der Rezipient stets die Literaturepoche, in der das Gedicht entstand, studieren. Im Fall von Prometheus betrifft es die Epoche von Sturm-und-Drang.22

Die Epoche des Sturm und Drang ist zu verstehen als die Zeit kultureller Umschwünge und der kritischen Auseinandersetzung mit den alten Werten. Stürmer und Dränger bewundern heroisches Tun und adaptieren es, um es in ihren eigenen Prozess der Stimmungs- und Realitätswahrnehmung einzubauen. Der junge Goethe war einer der prägendsten Vertreter dieser Epoche. In ihren Werken rückten die überwiegend jungen "Stürmer-und-Dränger" wieder Herz, Gefühl und Natur in den Vordergrund. Im Kampf gegen die willkürliche Herrschaft und blindem Gehorsam gegenüber den Obrigkeiten sind weiterhin aufklärerische Gedanken zu erkennen, die die Künstler des Sturm und Drang auch aufgenommen. Der Geniebegriff war besonders wichtig für die Epoche, denn das Genie als der Inbegriff der kreativen, begabten, wissenden und perfektionistischen Person findet sich in nahezu jedem Gedicht der Zeit. Das Genie lebt seine Individualität aus, passt sich der Gesellschaft nicht an und ahmt auch nicht nach, denn ihm ist eigen selbst zu denken und zu handeln. Es kann somit als Protest gegen die Aufklärung mit ihrem rationalen Kern verstanden werden.23 So kann Goethes Prometheus für mehr als eine und keine konkrete Protestrolle stehen. Vielmehr handelt es sich um eine allgemeinere Rebellion gegen jede das Genie einschränkende Art von Obrigkeit. In Prometheus verfolgt der Rezipient den Kampf des lyrischen Ich mit sich selbst und gegen die Götterwelt, von der er abstammt und stellt zugleich eine Konkretisierung des Geniebegriffs als Abstraktum dar. Die Darstellung dieser Betrachtungen ist wichtig für das Verständnis der Veränderungen im Laufe der Zeit und bildet sich schließlich auch in Form und Sprache ab.

Mit der formalen Trennung der Betrachtungsebenen soll versucht werden den einzelnen für diese spezifische Analyse relevanten Phänomenen gerecht zu werden, welche einzeln betrachtet werden können und zugleich als ein Gesamtbild funktionieren und sich gegenseitig bedingen.

2.1.2 Formale Betrachtung

Eine eindeutige Einordnung, ob es sich bei Prometheus um eine Hymne oder eine Ode handelt, ist kaum möglich. Eine Einordnung als Ode ist problematisch24, da die festen Regeln für den Strophenaufbau nicht eingehalten werden. Für den Begriff der Hymne oder auch Antihymne25 spricht zudem die Rebellion im Inhalt. Der ursprünglich religiöse Lobgesang an Gott oder die Götter wird zur Anklage derselben und der Lobpreisung des eigenen (lyrischen) Ichs. Die Entscheidung für den Begriff der Hymne und das Fehlen ähnlicher Merkmale wie Metrum, Reimschema und Rhythmus innerhalb der Strophen bringt es mit sich, dass im Folgenden eigentlich besser von Gedichtabschnitten gesprochen werden sollte. Der Einfachheit halber soll der Begriff der Strophe jedoch beibehalten werden. Der Titel Prometheus weist die Hymne zudem als Rollenlyrik aus. Das lyrische Ich, in dem die Aussagen allein in den Mund einer Figur gelegt werden, wird hier durch die Gestalt des Prometheus aus der griechischen Mythologie verkörpert und greift entsprechende Aspekte des Mythos auf. In der Genie-Ästhetik des Sturm und Drangs ist Prometheus Identifikationsfigur für den Künstler.26 „Goethe erkennt in dem Schicksal des Prometheus das Schicksal des Künstlers; und er fühlt in ihm sein eigenes Los.“27

Bereits in der formalen Gestaltung des Gedichts wird die im Prometheus postulierte Unabhängigkeit des Menschen deutlich. Die Hymne ist bis auf den drittletzten und letzten Vers reimlos in freien Rhythmen geschrieben. Das bedeutet wiederum, dass diese Zeilen dadurch herausgehoben werden und ihnen besondere Bedeutung zukommt. Das Gedicht zeigt durch diese rhythmische Gestaltung eine eher prosanahe Redeweise auf. Es ist kein wiederkehrendes, einheitliches Metrum erkennbar und auch die unterschiedlichen Abschnitts- und Verslängen verweisen auf das bewusste Aufbrechen der gängigen Norm in der Form. Der Rhythmus wird von der Ausdruckskraft der Worte bestimmt, auf Bedeutung und Klang der Worte, er befreit sich vom Metrum, zeigt dynamische Beziehungen von Wörtern zueinander in Satz und Vers. Der Verzicht Goethes auf regelmäßig wiederkehrende Akzente hat ja bereits gezeigt, dass es durchaus kein Verzicht auf eine klare Durchstrukturierung des Textinhalts bedeutet. Das Thema wird von ihm planvoll komponiert. Es weist formal ursprünglich acht Strophen mit unterschiedlichen Versanzahlen (7/5/7/7/9/9/5/7) auf, die ein Muster bilden. So rahmen - bezogen zunächst einmal auf die Versanzahl - die erste und die letzte Strophe das Gedicht Einen inneren Rahmen bilden die zweite und die vorletzte Strophe und schließlich finden sich im Zentrum zwei Strophen mit sieben, beziehungsweise neun Verszeilen. Es erfolgt ein absichtsvolles Abwenden von der üblichen Gedichtgestaltung und zugleich ist doch eine Strukturierung ersichtlich. Die freien Verse werden von Goethe auch ohne vorgegebenes Metrum gemeinsam mit anderen Textelementen syntaktischer, rhetorischer, semantischer und klanglicher Natur zum rhythmischen Ausdruck eines besonders rückhaltlosen Subjektivismus, wobei in dieser Arbeit nicht auf alle diese Punkte eigegangen werden kann. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Goethes Hymne in einer Zeit entsteht, in der der bürgerliche Gefühlsindividualismus ich auch poetisch gegen strenge Konventionen durchzusetzen versuchte. Der Begriff der freien Rhythmen definiert sich eigentlich durch das Herausfallen aus der Metrik. Die Hebungszahl des Prometheus schwankt, es handelt sich also um einen rhythmisch lockeren, aber nicht deregulierten Vers. Es ist kein bestimmtes Verteilmuster für die Einheiten zu erkennen, dank unregelmäßiger Positionen und Verteilung Die Strophen enthalten demnach eine jeweils differenzierte Anzahl an Versen, die sich in freien Rhythmen und ungereimt aneinander anschließen. Eine Ausnahme bilden die Verszeilen „Geniessen und zu freuen sich“ (V. 54) und „Wie ich.“ (V. 56), welche einen reichen Endreim bilden und diese Verse besonders hervorzuheben zu scheinen. Die Länge der meisten Verse sowie die Anzahl der Hebungen und Senkungen variieren, ohne dabei eines festen Musters zu bedienen. Auch bei der Abfolge der Kadenzen lässt sich keine Struktur erkennen. Während die erste Strophe noch überwiegend jambisch ist – Ausnahmen bilden hier der Jambus, Anapäst, Jambus im dritten Vers und Jambus, Anapäst, Jambus [ungefüllt] im sechsten Vers - wird es ab Strophe 2 völlig unregelmäßig. Die Verse sind also ästhetisch gewagt, da sie sich von der Prosa nur durch die wiederkehrende Versgrenze abgrenzen.28 Eine Darstellung von Bau und Sinnbildung des Textes kann in dieser Arbeit auf Grund der quantitativen Beschränkungen auf keinen Fall erschöpfend dargestellt werden.

Goethe nutzt zur formalen Gestaltung zudem zahlreiche Enjambements. Dies soll auch hier in der formalen Präsentation erwähnt werden, handelt es sich doch um einen Zeilensprung oder Verssprung, bei dem eine Satz- oder Sinneinheit über das Ende eines Verses hinaus auf den folgenden Vers übergreift. Die Leser „hetzen“ so von Zeile zu Zeile und werden mit immer mehr Argumenten überhäuft, ohne diese wirklich greifen zu können. Diese formale Entscheidung kann als Beweis dafür angesehen werden, dass Goethe hier die bewusste Entscheidung trifft, formal neue Wege zu gehen. Die Form unterstreicht so die Aussage des Gedichts. Die vielen Unregelmäßigkeiten in der Form spiegeln die für den Sturm und Drang typische Gefühlsbetontheit und Kühnheit des Helden wider. Über die überwältigende Wirkung dieser Entscheidung mehr in der sprachlich-stilistischen Betrachtung.

[...]


1 Vgl. Luserke, Matthias (1996): Goethes Prometheus - Ode. Text und Kontext. In: Sauder, Gerhard (Hrsg.): Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen. München, S. 49.

2 Sauder, Gerhard (1985): Prometheus. In: Richter, Karl u.a. (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 21 Bde. (in 33). München 1985 –2014 [Münchner Ausgabe]. 1.1: 868.

3 Beutler, Ernst (Hrsg.) (1938): Goethes Rede zum Schäkespears Tag. Wiedergabe der Handschrift. Mit einem Geleitwort von Ernst Beutler (Goethe und Shakespeare). Weimar: Verlag der Goethe-Gesellschaft, S. 227, Z.30f.

4 Gemeint ist hier das lyrische Ich als vermeintliches Alter Ego Goethes. Vgl. dazu Gray, Ronald (1967): Goethe. A Critical Introduction, S. 40.

5 Vgl. Walzel, Oskar (1963): Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S.63.

6 Vgl. Zimmermann, Rolf Christian (1969/79): Das Weltbild des jungen Goethe, München, Bd. 2, S. 119ff.

7 Vgl. Braemer, Edith (1968): Goethes Prometheus und die Grundpositionen des Sturm und Drang, Berlin und Weimar, S. 301. In: Reinhardt, Hartmut: Prometheus und die Folgen. In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/prometheus_reinhardt.pdf (12.11.2019), S. 1.

8 Vgl. Reinhardt, Hartmut: Prometheus und die Folgen. In: Hahn, Karl-Heinz (Hrsg.): Goethe Jahrbuch, Einhundertundachter Band, S. 13.

9 Vgl. Zimmermann, Rolf Christian (1969/79): Das Weltbild des jungen Goethe, München, Bd. 2, S. 119ff.

10 Weimar, Klaus (1984): Goethes Gedichte. 1769 – 1775. Interpretationen Zu Einem Anfang. Paderborn [u.a.] Schöningh, S. 87. Im Folgenden werde ich in der Analyse nur noch die Verse im Fliesstext angeben, wobei ich mich auf diese Quelle beziehe.

11 Von Goethe, Johann Wolfgang (1789): Goethes Schriften. Achter Band. G. J. Göschen, S. 207–209.

12 Von Goethe, Johann Wolfgang (1827) Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Zweyter Band. Stuttgart [u.a.): Cotta, S. 76 - 78.

13 Vgl. Weimar, Klaus (1984): Goethes Gedichte. 1769 - 1775; Interpretationen Zu Einem Anfang. Paderborn [u.a.]: Schöningh, S. 87.

14 Safranski, Rüdiger (2013): Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. München: Carl Hanser, S. 293.

15 Jacobi, Friedrich Heinrich (2000): Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearb. v. Marion Lauschke. Felix Meiner; Hamburg, S. 328f.

16 Conrady, Karl Otto (1962): Prometheus. In: Von Wiese, Benno (Hrsg.): Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Vom Mittelalter bis zur Frühromantik. Düsseldorf: August Bagel Verlag, S. 219.

17 Warnecke, Friedrich (1908): Goethe, Spinoza Und Jacobi. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 51f.

18 Pabst, Stefan (Hrsg.); Fricke, Hannes (2011): Anonymität und Autorschaft: Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. Berlin: De Gruyter, S. 207.

19 Warnecke, Friedrich (1908): Goethe, Spinoza und Jacobi. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 52.

20 Ich beziehe mich bei der Analyse auf das in Klaus Weimar abgedruckte Manuskript, welches wiederum aus dem Nachlass von Johann Heinrich Merck stammt. Es ist mir bekannt, dass auch andere Abschriften existieren, die von dieser abweichen. Vgl. Weimar, Klaus (1982): Goethes Gedichte. 1769 – 1775; Interpretationen Zu Einem Anfang. Paderborn [u.a.]: Schöningh, S. 87.

21 Sander, Gerhard (Hrsg.) (1985): Der junge Goethe 1757 - 1775, Münchener Ausgabe Bd. I. 1. S. 870.

22 Vgl. O.A. (o.J.): Goethe, Johann Wolfgang - Prometheus: Gedichtinterpretation. URL: https://e-hausaufgaben.de/Hausaufgaben/D1219-Goethe-Johann-Wolfgang-Prometheus.php (Letzter Zugriff am 9.11.2019).

23 Vgl. Huber, Peter (2000): Kreativität und Genie in der Literatur. Heidelberger Jahrbücher, 44, Heidelberger Jahrbücher, S. 215.

24 Vgl. Braemer, Edith (1968): Goethes Prometheus und die Grundpositionen des Sturm und Drang. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag, S. 301.

25 Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Reinhardt entscheidet sich in seiner Arbeit »Prometheus und die Folgen« für die Gattung Hymne, hält aber den Begriff der Antihymne für eigentlich angemessen. Reinhardt empfiehlt schließlich aus Gründen der Einfachheit, es bei dem Begriff der Ode zu belassen. Vgl. Reinhardt, Hartmut (2004): Prometheus und die Folgen. In: Goethezeitportal. URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/prometheus_reinhardt.pdf> (Letzter Zugriff am 10.10.2019). S. 2.

26 Peters, Günter (1999): System Prometheus. Aktuelle Inanspruchnahme eines Mythos. In: Pankow, Edgar/Peters, (Hrsg.): Prometheus. Mythos der Kultur. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 15.

27 Walzel, Oskar (1963): Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 57.

28 Vgl. Weimar, Klaus (1984): Goethes Gedichte 1769 - 1775 - Interpretationen zu einem Anfang. Paderborn [u.a.]: Schöningh, S. 28ff.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Und immer wieder Prometheus?! Das Gedicht Johann Wolfgang von Goethes und seine Fassungen
Untertitel
Erklärungsversuche
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Veranstaltung
Goethe
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
37
Katalognummer
V520779
ISBN (eBook)
9783346132390
ISBN (Buch)
9783346132406
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Goethe Prometheus Gedichte Vergleich Fassungen Gedichtanalyse
Arbeit zitieren
Sina Neumann (Autor:in), 2019, Und immer wieder Prometheus?! Das Gedicht Johann Wolfgang von Goethes und seine Fassungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/520779

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