Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Über die Reziprozität der Bilder bei der Wahrnehmung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Materie und Gedächtnis
Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung
Die Funktion des Leibes

3. Abre los ojos – öffne die Augen

4. Abschließende Bemerkung

5. Literatur

1. Einleitung

Die Philosophie des Nobelpreisträgers für Literatur Henri Bergson (1859–1941) schöpft ihre Bekanntheit aus vier Hauptwerken, die, jedes für sich genommen, alternierende Schwerpunkte beinhalten. In einer Gesamtbetrachtung weisen sie jedoch eine thematische Kohärenz auf: „seine Konzeption der lebendigen Zeit als Dauer.“[1] Nach eigener Aussage sieht Bergson in einer „Intuition der Dauer“ schließlich das Zentrum seiner Lehre.[2]

Die Lebensphilosophie Bergsons hat verkürzt beschrieben zum Ziel, dem Bewusstsein seine Stellung in der Wahrnehmung der Welt aufzuzeigen sowie den Menschen aus den Zwängen seiner Handlungsbezogenheit zu befreien. Sein Ansatz besteht fast durchgängig in einer kritischen Auseinandersetzung mit den szientistischen Naturwissenschaften und der Assoziationspsychologie seiner Epoche. Seine philosophischen Abhandlungen lehnen einen rationalistischen und empiristischen Positivismus ab und charakterisieren sich gleichermaßen durch eine Abgrenzung von idealistischen und realistischen Weltdeutungen.[3]

In dieser Einleitung wird im Folgenden eine Prima-vista-Übersicht der prägnanten Thesen seiner Hauptwerke vorgestellt, die für das Verständnis des Untersuchungsgegenstandes dieser Hausarbeit, Materie und Gedächtnis (1869)[4], förderlich erscheint.

In Bergsons erstem Buch, Zeit und Freiheit (1889)[5], wird der zentrale Begriff der Dauer (durée) herausgearbeitet. Dieser ist in Opposition zum Raum (espace) und der Mischform beider, die Zeit (temps), zu betrachten.[6] Die durée ist das Theorem, das für seine Philosophie in differierender Form grundlegend ist. Sie ist als heterogene, qualitative Dauer zu verstehen im Gegensatz zu einer numerischen, quantitativen Auffassung der Zeit, die vom Geist (esprit) in einem homogenen Raum entfaltet wird.[7] Zur Begriffsklärung der beiden temporalen Wörter sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die durée in Zeit und Freiheit der Psyche, also dem Inneren, zugeordnet wird und nicht den Ablauf einer Zeitspanne außerhalb des Menschen darstellt.[8] Sie wird vielmehr mit einem sich kontinuierlich fortsetzenden Werden und Wandel assoziiert.[9] Die durée ist in der deutschen Übersetzung mit den Eigenschaften der Fortdauer, Haltbarkeit, Beständigkeit und Unveränderlichkeit[10] besetzt, während der Begriff der temps die physikalische Auffassung der Zeit (t) beschreibt. Das bewusste Erleben der Wirklichkeit kann sich für Bergson nur durch das Hineinversetzen in die Dauer vollziehen - er nennt dies die Methode der Intuition [11]. In ihr verbinden sich die Antipoden Instinkt und Intellekt zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit.[12] Sie lässt ihn in einem platonisch-philosophischen Sinn „die wahren Probleme und die wirklichen Wesensunterschiede bestimmen.“[13]

Dass „<das Universum dauert>“[14], ist die prägnante These des bekanntesten Buches Bergsons - Schöpferische Entwicklung (1907)[15]. Während in Zeit und Freiheit das Bewusstsein mit der Dauer verbunden wird, findet die Dauer in Schöpferische Entwicklung eine Anknüpfung an das Leben.

„(...) Bergson wird immer nachdrücklicher auf die schöpferische Kraft der Dauer hinweisen (...). (...) die Dauer [ist] nicht ausschließlich eine vom Ich selbst erfahrene Eigenschaft (erlebte Zeit) (...), sondern auch eine Eigenschaft der Welt.“[16]

Anhand dieser These arbeitet Bergson den Begriff des élan vital heraus, der als ursprünglicher Lebensimpuls rezipiert wird. Der Lebensimpuls oder die „Lebensschwungkraft“[17] treibt alles Lebendige, das sich von der unbelebten Materie unterscheidet, von innen an und realisiert die verschiedenen Arten und Gattungen der Natur in Richtung einer Vervollkommnung.[18] Der Mensch nimmt indes durch die Funktion des Geistes (esprit) eine exponierte Stellung in der Welt ein, da er „die Steigerung der eigenen Seinstufe bewusst verfolgen kann. In diesem Sinne hatte Bergson in L’évolution créatice die Gattung Mensch als Gattung der Schöpfer (créateurs) bestimmt.“[19] Die Entwicklung selbst, definiert über den élan vital, ist folglich schöpferisch, sie ist aber „weder mechanisch, noch final in dem Sinne, als ob sie auf äußerliche Ziele eingestellt wäre. Das Leben ist eine Tendenz (Voluntarismus), ein Streben, das beständig neue Ziele setzt und durchläuft, ein fortwährendes Neuschaffen von Formen und Werten.“[20]

In der philosophischen Abhandlung Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932)[21], dem letzten seiner vier großen Werke, wendet sich Bergson von der früher eher psychologisch und biologisch entwickelten Betrachtung der Dauer, den Ursprüngen und dem Wesen von Moral und Religion zu. Er spannt somit einen Bogen zwischen dem Individuellen und dem Sozialen. Grundlegend für Die beiden Quellen ist die oben eingeführte instinktive Dimension des élan vital, die mit der verstandesmäßigen, den Egoismus fördernden Intelligenz korreliert.[22]

In seinem zweiten Buch Materie und Gedächtnis, dessen erstes Kapitel hier den Untersuchungsgegenstand darstellt, entwickelt Bergson über einen prozessualen Bildbegriff eine Wahrnehmungstheorie, in der die Beziehung zwischen Geist und Körper anhand des Gedächtnis-Phänomens verfolgt wird. Der Begriff der durée ist in dieser Abhandlung im wesentlichen dem Gedächtnis zugeordnet, insofern Bergson das Gedächtnis als dauernd definiert. Die dem Gedächtnis angehaftete Dauer bzw. die Erinnerung (mémoire) hat darin sowohl eine bewahrende als auch eine kulminierende Funktion der wahrgenommen Bilder.[23] Die Beschreibung der Funktion des Gedächtnisses ist der Schlüssel zum Immateriellen:

„Um mit der Wirklichkeit des Geistes in Berührung zu kommen, muß man sich in den Punkt versetzen, wo ein individuelles Bewußtsein die Vergangenheit fortsetzt und bewahrt in eine Gegenwart hinein, die sich aus der Vergangenheit bereichert.“[24]

Die gängige Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie Bergsons bezieht sich fast durchgängig auf seine Zeitauffassung, die in jüngster Zeit auch von der Physik bestätigt wurde.[25] Zudem lässt sich aber am Beispiel von Materie und Gedächtnis eine weitere Theorie herauskristallisieren - die einer Bildlichkeit: Die im ständigen Prozess befindlichen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbilder generieren das Wirken und Handeln, und zeichnen sich im Prinzip für das Wesentliche des Menschen, die Individuation, verantwortlich. Der prozessuale Bildbegriff, den Bergson entwickelt, stellt eine Interaktion zwischen den Bildern der Materie und der Wahrnehmung dar. Eine dynamische Erschließung der Wirklichkeit ergibt sich durch das Ineinanderwirken der realen und virtuellen Bilder, welche die Grundlage für die Herausbildung des Geistes bilden. In der dynamischen Kontinuität von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft erhalten sich die Wirkungen des durchlebten Lebens im Gedächtnis. Von diesem ausgehend ist schließlich auch die optionale Fähigkeit des Handelns angelegt.

Soweit sei Materie und Gedächtnis in dieser Einleitung angesprochen. Das folgende Kapitel der Arbeit wird eine genauere Erläuterung zu diesem Werk entwickeln.

Im letzten Teil dieser Hausarbeit möchte ein Anwendungsbeispiel - der Psychothriller Abre los ojos [26] (1997) von dem Regisseur Alejandro Amenabar - die Reziprozität von Realität und Virtualität der hybriden Wahrnehmung beleuchten. Die Funktion der Wahrnehmung, wie sie Bergson in Materie und Gedächtnis darstellt, dient dabei als Analysewerkzeug. Abre los ojos gleicht einem labyrinthischen Lauf durch das Bewusstsein von realer und virtueller Wirklichkeit und der Vorstellung von ihr. Es vertauschen sich Realität und Virtualität, Leben und Tod. Es besteht zwischen Sein und Schein keine Eindeutigkeit. Der Film, der seine Handlung aus Rückblicken, mittels der Erinnerung und den Träumen des Hauptdarstellers César (Eduardo Noriega), entwickelt, stellt die Formen einer surrealen Wahrnehmung nicht nur auf der Sujetebene dar, sondern verwendet sie auch als diegetisches Stilmittel durch blaugraue Farben, Verwischungen und Unschärfen.

[...]


[1] Klippel, Heike: Henri Bergson. In: Gedächtnis und Kino. Stroemfeld. Frankfurt/M., 1997, S.71.

[2] Vgl. hierzu: Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis: Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Meiner. Hamburg. 1991, S. XI (Einleitung von Erik Oger); im Folgenden mit MG2 abgekürzt.

[3] Vgl. hierzu: Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis: Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Ullstein. Frankfurt/M; Berlin; Wien, 1982, S. I; im Folgenden mit MG1 abgekürzt.

[4] Originaltitel: Matière et Mémoire : Essai sur la relation du corps à l’esprit. Die deutsche Übersetzung erschien 1919.

[5] Originaltitel: Sur les données immédiates de la conscience.

[6] MG2, S. XII (Einleitung von Erik Oger).

[7] Vgl. hierzu: Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Europäische Verlagsanstalt. Hamburg. 1999, S. 60-105.

[8] Vgl. hierzu: MG2, S. XV (Einleitung von Erik Oger).

[9] Vgl. hierzu: Deleuze, Gilles: Henri Bergson zur Einführung. Junius. Hamburg. 2001, S. 50, 53.

[10] Vgl. hierzu: Langenscheidts Handwörterbuch Französisch.

[11] Die „Methode der Intuition“ ist als Ausgangspunkt des Bergsonismus zu begreifen, sie setzt aber die Dauer (durée) voraus. (Vgl. hierzu: Deleuze, Gilles: Henri Bergson zur Einführung. Junius. Hamburg. 2001, S. 23, 48). Vgl. hierzu auch: Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Europäische Verlagsanstalt. Hamburg. 1999, S. 60-105.

[12] Vgl. hierzu: Deleuze, Gilles: Henri Bergson zur Einführung. Junius. Hamburg. 2001, S. 33.

[13] ebd. S. 48.

[14] MG2, S. XX (Einleitung von Erik Oger).

[15] Originaltitel: L’Evolution créatice (1907) ; Bergson erhielt für dieses Werk 1927 den Nobelpreis für Literatur.

[16] MG2, S. XIII-XIV (Einleitung von Erik Oger).

[17] ebd. S. XXI.

[18] Vgl. hierzu: Kindlers neues Literaturlexikon : L’Evolution créatice.

[19] Kindlers neues Literaturlexikon : Les deux sources de la morale et de la religion.

[20] Eisler, Rudolf: Die digitale Bibliothek der Philosophie; Philosophenlexikon; Eintrag zu Henri Bergson. Directmedia. Berlin. 2001, S. 313.

[21] Originaltitel: Les deux sources de la morale et de la religion.

[22] Vgl. hierzu: Kindlers neues Literaturlexikon : Les deux sources de la morale et de la religion.

[23] Vgl. hierzu: MG2, S. XVII (Einleitung von Erik Oger).

[24] MG2, S. 234.

[25] Vgl. hierzu: Meyer, Petra Maria: Intermedialität des Theaters: Entwurf einer Semiotik der Überraschung. Parerga. Düsseldorf, 2001, S.326.

[26] Dieser Film findet sich im Verleih auch unter dem Titel: Virtual nightmare – open your eyes; einen größeren Bekanntheitsgrad erlangte das Remake „Vanilla Sky“ (2001).

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Über die Reziprozität der Bilder bei der Wahrnehmung
Hochschule
Universität zu Köln  (Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft)
Veranstaltung
Bildtheorien
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
19
Katalognummer
V52936
ISBN (eBook)
9783638485128
ISBN (Buch)
9783638782500
Dateigröße
543 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Henri, Bergson, Materie, Gedächtnis, Reziprozität, Bilder, Wahrnehmung, Bildtheorien
Arbeit zitieren
Benjamin Pauwels (Autor:in), 2003, Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Über die Reziprozität der Bilder bei der Wahrnehmung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52936

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