Was bleibt von Malthus?


Dossier / Travail de Séminaire, 2006

32 Pages, Note: 2,0


Extrait


Zum Inhalt

1. Einleitung

2. Malthus und seine Zeit
2.1 Biographische Kurznotiz
2.2 Historischer Hintergrund

3. Das Bevölkerungsprinzip
3.1 Des Essays erste Ausgabe
3.2 Des Essays zweite Ausgabe

4. Kritische Würdigung

5. Was bleibt von Malthus?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Jahre 1798 veröffentlichte Thomas Robert Malthus – damals noch anonym – seinen „Essay on the Principle of Population as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers” und erweckte dadurch reges Interesse und zahlreiche Reaktionen sowohl vonseiten seiner Befürworter als auch vonseiten seiner Kritiker. Allein in den ersten fünf Jahren nach der Veröffentlichung seines als „Bevölkerungsgesetz“ oder „Godwin-Streitschrift“ bekannt gewordenen Werkes wurden 20 Gegenschriften verfasst.[1] Der damals initiierte Diskurs um Malthus und seine Ideen hält bis heute an[2]: Einerseits stützt er sich dabei auf die wissenschaftlichen Leistungen von Malthus. So gilt dieser (neben Johann Peter Süßmilch) als einer der ersten theoretischen Denker der Demographie[3] und (neben Adam Smith und David Ricardo) als Klassiker der Nationalökonomie[4].

Andererseits sind es jedoch jene Inhalte von Malthus Überlegungen, die – trotz oder gerade wegen ihrer provokanten und eingängigen Formulierung und trotz offensichtlicher Irrtümer und Unzulänglichkeiten – nicht nur die Sozialwissenschaft, sondern auch (sozial-)politische Bewegungen und dadurch nationale und internationale Politiken maßgeblich beeinflusst haben. Während sich beispielsweise die Demographie in der Auseinandersetzung mit Malthus entwickelte[5] und Charles Darwin Malthus’ Theorie auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich übertrug[6], leistete Malthus 1834 Schützenhilfe bei der Abschaffung der englischen Armengesetze in ihrer alten Form[7]. In Deutschland bewirkte der klassische Malthusianismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Verschärfung der Heiratsbeschränkungen[8] (auch wenn Malthus einer solchen Maßnahme kritisch gegenüberstand[9] ). Und der Neomalthusianismus, dessen erster Vertreter, Francis Place, bereits 1822 für eine Empfängnisverhütung plädierte[10] und somit der Lehre Malthus (moralisch) widersprach, wurde nicht nur als „Waffe im kalten Krieg“ angewandt[11], sondern lag auch zahlreichen Geburtenkontrollbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde.

„Malthus ist tot“[12] schallt es aus den Reihen seiner Kritiker – doch mitunter ist er aktueller denn je. Zwar hat sich sein Bevölkerungsgesetz – zumindest in den Industriestaaten – als „Irrtum“ erwiesen[13] und musste der Wohlstandstheorie weichen. Aber die Entwicklung der Weltbevölkerung, deren Zahl sich mittlerweile auf knapp 6,5 Milliarden[14] Menschen beläuft und aufgrund der Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländern auch weiterhin steigen wird, verlangt dringender denn je eine Antwort auf die Frage nach der Tragfähigkeit der Erde. Damit einhergehend werden der Raubbau der Ressourcen, ökologische Katastrophen und nicht zuletzt Armut, Unterernährung und massenhafter Hungerstod problematisiert.[15]

Und so findet sich malthusianisches Gedankengut in modifizierter Form auch in der Entwicklungspolitik des 21. Jahrhunderts wieder: Familienplanung und Verhütungsmittel sollen der Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt und den damit verbundenen sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemen Einhalt gebieten.[16]

Angesichts der zeitlichen Dimension des Malthus-Diskurses, an dem sich (nicht nur) die bedeutendsten Denker der letzten zwei Jahrhunderte beteiligt haben und in dessen Verlauf unzählige Publikationen in unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen veröffentlicht worden sind, ist es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, neue Gedankengänge zu beschreiten. Alles scheint gesagt und Malthus widerlegt zu sein – und doch kann man behaupten, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist: Malthus, so die These, erlangt auch heute wieder neue Bedeutung, wenn auch nicht in jener Form, die ihn zu einem berühmten Vordenker der Bevölkerungswissenschaften gemacht hat. Um dieser These nachgehen zu können, sollte man sich zunächst mit Malthus und seiner Zeit (Kap. 2) auseinandersetzen, um ein tieferes Verständnis für sein Werk (Kap. 3) entwickeln zu können. Eine Zusammenfassung der Kritik an seinen Arbeiten (Kap. 4) soll dabei helfen, die wesentlichen Punkte zusammenzutragen, mithilfe derer die These verdeutlicht werden kann.

2. Malthus und seine Zeit

2.1 Biographische Kurznotiz

Thomas Robert Malthus wurde am 13. Februar 1766 in Wotton bei Dorking in der Grafschaft Surrey als sechstes von sieben Kindern einer angesehenen Familie des englischen Mittelstandes geboren. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr wurde er von seinem Vater Daniel Malthus, einem überzeugtem Bewunderer und Freund von Jean-Jacques Rousseau, unterrichtet, ehe er 1776 der Obhut des anglikanischen Geistlichen Richard Graves anvertraut wurde. Graves, der selbst zeitkritisch-satirischen Romane verfasste, stellte alsbald Malthus’ Vorliebe für seine Streitgespräche um ihrer selbst willen fest.[17]

1782 übernahm Gilbert Wakefield, klassischer Philologe und ebenfalls Anhänger Rousseaus, die Ausbildung des damals 16-Jährigen and der Warrington Academy. Dort wurde Malthus auch von Joseph Priestly in Sprache und schöner Literatur unterrichtet, ehe er 1784 in das Jesus College der Universität Cambridge eintrat. In Cambridge widmete er sich dem Studium der Mathematik, der klassischen Literatur und Theologie und schloss es 1788 mit Auszeichnung ab. Sein Tutor war zu jener Zeit William Frend, der dem theologischen Utilitarismus zusprach.

Wakefield, Priestley und Frend zählten allesamt zur „radical tradition“, also zu jener politischen Strömung im Land, die für die Demokratie und die Ideale des Fortschritts eintrat. Das Schicksal dieser drei vermittelt einen ersten Eindruck von den Spannungen und ideologischen Kämpfen jener Zeit, in der Malthus aufgewachsen ist: Wakefield wurde anglikanischer Geistlicher, schied aber aufgrund theologischer Streitigkeiten aus der Hochkirche aus und schloss sich den Unitariern an. In öffentlichen Pamphleten brachte er seine Bewunderung für Rousseau zum Ausdruck und forderte, die Errungenschaften der französischen Revolution auch in England einzuführen. Dies führte 1798 zu seiner Verhaftung und Verurteilung.

Priestley musste 1794 nach Amerika auswandern, nachdem er als Prediger der kongregationalistischen Dissenters seiner Genugtuung über den Sturm auf die Bastille und seiner Sympathie für die Ideale der Französischen Revolution Ausdruck verliehen hatte.

Frend schließlich, der sich ebenfalls als Befürworter der französischen Revolution zu erkennen gab, wurde 1793 aus dem fellowship des Jesus College ausgeschlossen.

Im Jahre 1789 wurde Malthus zum Diakon und drei Jahre später zum Priester geweiht. 1794 übernahm er ein Kurat an der Okewood Chapel in der Pfarrei Wotton in Surrey. Erst 1803 erhielt er eine eigene Pfarrstelle, die er bis an sein Lebensende innehaben sollte.

Parallel beschritt er seinen wissenschaftlichen Werdegang: 1791 erlangte er den Master of Arts und 1793 wurde er fellow am Jesus College. Ein Jahr nach der Hochzeit mit seiner Cousine dritten Grades im Jahre 1804 wurde er 1805 zum „Professor of General History, Politics, Commerce and Finance“ am East India College in Haileybury ernannt und war somit Inhaber des ersten Lehrstuhls für Politische Ökonomie in England.

Am 23. Dezember 1834 starb Thomas Robert Malthus im Hause der Familie seiner Frau in Bath als hochangesehener und geehrter Mann.

Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen sein ökonomisches Hauptwerk „The Principles of Political Economy“ aus dem Jahre 1820, sowie der „Essay on the Principle of Population“ aus dem Jahre 1798, der in der Folgezeit immer wieder überarbeitet, ergänzt und wissenschaftlich aufgewertet wurde. Von den insgesamt 6 Ausgaben[18] erlangte allerdings nur die erste – vulgärmalthusianistische – Fassung allgemeine Popularität. Sie war es auch, die „den eigentlichen Streitgegenstand über anderthalb Jahrhunderte bildete.“[19]

2.2 Historischer Hintergrund

Malthus intellektuelle Tätigkeit fiel in eine Zeit, die von entscheidenden sozialen und politischen Entwicklungen, von gesellschaftlichen Umbrüchen sowie von ideologischen, politischen und sozialen Konflikten gekennzeichnet war.[20]

England stand (1793-97, 1799-1802 und 1805) im Krieg gegen Frankreich. Krieg, Missernten (zwischen 1794 und 1799) und andere Faktoren trieben die Nahrungsmittelpreise derart in die Höhe, dass sie für viele Menschen unerschwinglich wurden. Zudem sprengte das Bevölkerungswachstum zu jener Zeit alle bisher bekannten Dimensionen. Die Nahrungsmittelproduktion konnte mit der demographischen Entwicklung nicht Schritt halten, so dass sich die Ernährungslage zusätzlich verschärfte. Die allgemeine Armut stieg an, und mit ihr die Armensteuer: sie verdoppelte sich binnen 7 Jahren auf vier Millionen Pfund und belastete die durch die Kriegskosten ohnehin schon strapazierte Staatskasse.[21] Der Nahrungsmangel führte zu „widespread rural and urban disturbances which expressed themselves in rioting, threatening behaviour and damage to both persons and property.”[22]

Darüber hinaus war das gesellschaftliche Leben von einem tiefen ideologischen Kampf geprägt, weil die Ideen der Französischen Revolution das ganze Land durchdrangen. Die herrschende Schicht fürchtete den Verlust des status quo und errichtete ein Regime der Gedankenkontrolle, des Terrors und der physischen Unterdrückung. All jene, die im Verdacht standen, demokratische Gedanken zu hegen, wurden verfolgt, des Hochverrats angeklagt und mit grausamen Urteilen abgestraft. Im Kampf derer, die radikale gesellschaftliche Reformen erhofften und durchzusetzen suchten, gegen diejenigen, die sie fürchteten, galt es, öffentlich Partei zu ergreifen, um das Schicksal der Nation in seinem Sinne beeinflussen zu können.[23]

Malthus war sich den gesellschaftlichen Umbrüchen durchaus bewusst. Das erste Kapitel seines Essays von 1798 leitet er ein mit den Worten:

„(...)das neuartige, ganz ungewohnte Licht, in dem politische Zustände sich zeigen und das Verwirrung auslöst, da ihr Verständnis schwierig ist; und insbesondere jene überwältigende Erscheinung am politischen Horizont, die Französische Revolution, die wie eine flammender Komet dazu bestimmt scheint, entweder frisches Leben und neue Kraft hervorzurufen oder die verschreckten Erdbewohner zu versengen, zu verderben: all dies hat zusammengewirkt, um viele urteilsfähige Köpfe zu der Ansicht kommen zu lassen, dass wir am Beginn eines Zeitalters stehen, das Veränderungen von weitreichender Bedeutung mit sich bringen wird.“[24]

Hinsichtlich der Richtung der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung gab es zutiefst gegensätzliche Auffassungen. So richtet sich Malthus bereits im Titel seines ersten Essays explizit gegen zwei der vielen „urteilsfähigen Köpfe“ – Godwin und Condorcet – und kritisierte ihre Zukunftsvorstellungen als reine Spekulation.

Der Marquis de Condorcet (1743 – 1794) war französischer Mathematiker, Philosoph und Konventsmitglied. 1794 (im selben Jahr da er zum Tode verurteilt wurde) veröffentlichte er sein Buch „Esquisse d’Un Tableau Historique des Progrès Human“, in dem er seine Vorstellungen über die gesellschaftlichen Entwicklungslinien darlegte. Seiner Auffassung nach durchläuft eine jede Gesellschaft auf dem Wege der unaufhaltsamen (naturgesetzlichen) Vervollkommnung der Menschheit zehn Entwicklungsstufen, von denen die zehnte und letzte mit der Französischen Revolution eingeleitet worden ist. In dieser Phase werden sämtliche rassischen und nationalen Feindseligkeiten überwunden und alle (geschlechtlichen, sozialen, materiellen, ...) Ungleichheiten eingeebnet. Sogar die Lebenserwartung des Einzelnen lässt sich durch medizinischen Fortschritt, verbesserte Ernährungslage und gesündere Lebensweise nahezu unbegrenzt, wenn auch nicht unendlich, erhöhen. Um die dadurch resultierende Gefahr der Überbevölkerung einzudämmen, empfiehlt Condorcet eine für die damalige Zeit (und vor allem für Malthus) moralisch unvorstellbare, aber dennoch weit verbreitete Lösung: die Verwendung von Verhütungsmitteln.[25]

Bereits ein Jahr vor Condorcet zeichnete auch William Godwin (1756 – 1836) in „An Enquiry Concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness“ ein durchweg optimistisches Bild der Zukunft.

Godwin, der als „Stammvater des Anarchismus“[26] gilt, verfocht einen radikalen Naturrechtsgedanken und glaubte an die Allmacht des menschlichen Verstandes. Wenn man der menschlichen Vernunft nur freie Bahn läßt, sie also nicht durch Institutionen[27] und Regierungen behindert, dann ist sie imstande, eine umfassende soziale Harmonie, eine gerechte, sichere Gesellschaft höchster Kultur und Wohlstand für alle zu erzeugen. Selbst der Tod kann überwunden werden.

[...]


[1] Vgl. Nachwort von Christian M. Barth in Malthus 1977, S. 173

[2] Khalatberi 1999, S. 7: „Die Kritik an Malthus dauerte über das ganze 19. und 20. Jahrhundert bis zum heutigen Tag fort. Gegen Malthus positionierten sich Gelehrte nahezu aller Schattierungen – von religiös inspirierten Sozialwissenschaftlern über liberal orientierte Ökonomen bis hin zu Sozialisten.“

[3] Khalatbari 1999, S. 23

[4] Mackensen 1999, S. 25; Rainer 2001, S. 147

[5] Marschalck 1999, S. 58

[6] Khalatbari 1999, S. 11

[7] Schmid 1976, S. 37

[8] Schmid 1983, S. 83

[9] Cromm 1999, S. 63

[10] Rainer 2001, S. 167

[11] Meek 1956, S. 40

[12] Eger 1985

[13] Marschalk 1999, S. 58

[14] Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2005, S. 6

[15] vgl. exemplarisch Elsner 1999, S. 93; Khalatbari 1991, S. 5

[16] Allerdings hat die Entwicklungspolitik aus ihren früheren Fehlern gelernt und beschränkt sich nicht nur auf jene Maßnahmen, die das Bevölkerungswachstum gezielt und direkt einzuschränken versprechen: „Heute weiß man, dass nur eine kluge Kombination von kulturgemäßer Bevölkerungspolitik und Entwicklungsinvestitionen einem Lande weiterhilft, wobei neben Familienplanung auch die Wanderungsströme, Fluchtbewegungen und die Überlastung der urbanen Zonen beachtet werden müssen.“ (Schmid 1998, S. 86)

[17] vgl. Nachwort zu Malthus 1977, S. 173-200; Rainer 2001, S. 69-71

[18] Die zweite Ausgabe erschien 1803, die dritte 1806, die vierte 1807, die fünfte 1817 und die sechste Ausgabe 1826.

[19] Schmid 1983, S. 80

[20] Flinn 1983, S. 85

[21] vgl. Turner 1986, S. 112f.; Schmid 1976, S. 36

[22] Turner, ebd.

[23] Meek 1956, S. 7ff.

[24] Malthus 1977, S. 13

[25] vgl. Hummel 2000, S. 180; Khalatbari 1991, S. 10f.; Schmid 1998, S. 81; Sieferle 1990, S. 84ff.

[26] Schmid 1976, S. 33

[27] Zu den (schlechten) Institutionen zählte Godwin unter anderem die Ehe, da sie eine obsolete Zwangsbindung darstellen würde, sowie das Privateigentum; Politische Gerechtigkeit könne nämlich nur dann erreicht werden, wenn es ein System des Gemeineigentums gäbe.

Fin de l'extrait de 32 pages

Résumé des informations

Titre
Was bleibt von Malthus?
Université
University of Bamberg
Note
2,0
Auteur
Année
2006
Pages
32
N° de catalogue
V53141
ISBN (ebook)
9783638486699
ISBN (Livre)
9783638848664
Taille d'un fichier
573 KB
Langue
allemand
Mots clés
Malthus
Citation du texte
Sebastian Wiesnet (Auteur), 2006, Was bleibt von Malthus?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53141

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