Der psychoanalytisch orientierte Literaturwissenschaftler Rüdiger Scholz schrieb einmal: "In der Literaturwissenschaft und auch in der psychoanalytischen Literaturinterpretation gelten Beziehungskonflikte als Kern der schicksalhaften Handlungen in Drama, Ballade und Epik und weitgehend auch als Ursache der Seelenöffnung in der Lyrik." [Auer, Elisabeth: "Selbstmord begehen zu wollen ist wie ein Gedicht zu schreiben". Eine psychoanalytische Studie zu Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther". Edsbruk, 1999, S.94] Was den Roman Die Leiden des jungen Werther betrifft, so kann man hier meiner Meinung nach nicht von "natürlichen" Beziehungen sprechen. In diesem Werk handelt es sich um Objektbeziehungen, wobei vor allem die Liebe Werthers zu Lotte von entscheidender Bedeutung ist.
Warum ich hier von "Objektbeziehungen" spreche und ausgehe, das möchte ich in den folgenden Kapiteln meiner Arbeit aus einer psychoanalytischen, vor allem aus einer objektbeziehungstheoretischen Perspektive erläutern, ist doch die Werther-Gestalt stets von einer unbestimmten Sehnsucht getrieben, deren Wurzeln und Ursachen nachzugehen, ich bei meiner Themensuche als sehr interessant erachtete. Dabei richte ich mein Augenmerk auf die beiden Muttergestalten in Werthers "Leben", seine Mutter und Lotte. Fühlte sich Werther stets von seiner Mutter ungeliebt und unverstanden, so versucht er diese Zuneigung in Lotte zu finden, die ihm in ihrem mütterlichen Wesen das nötige Verständnis für seine innigen Gefühle entgegenbringt. Da Charlotte Sophie Henriette Buff das Vorbild für die Figur der Lotte in Goethes Werther war, werde ich auch ihre Beziehung zu Johann Wolfgang kurz beleuchten, lässt sie einen die Werther-Person und dessen Liebe zu Lotte womöglich besser begreifen. Ein weiteres Kapitel widme ich den infantilen Zügen Werthers, die bedingen, dass sich dieser überhaupt in eine solch fatale Abhängigkeit begeben kann. Sein innigster Wunsch ist es, die bedingungslose Liebe eines Menschen zu erringen, was ihm als Kind aus seiner Sicht verwehrt blieb.
Kapitel sechs soll schließlich die formalen Elemente der Form und Sprache des Romans abhandeln. Die Wahl dieses Themas für die Abschlussarbeit des Hauptseminars "Vom Sturm und Drang zur Klassik", das im Wintersemester 2003/2004 am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg stattgefunden hat, ist das Ergebnis eines Versuchs, meine beiden Studienfächer Germanistik und Psychologie insofern thematisch zu kombinieren, dass ich in meinen Studien stets nach Schnittstellen suche, an denen sich beide Wissenschaften berühren oder gar überschneiden.
Billigt man nämlich dem Werther-Roman mit seinen eingeschobenen Verweisen und Andeutungen auf Werthers Kindheit tiefenpsychologische Aufschlusskraft zu, und das kann meines Erachtens niemand leugnen, so kann man dem Text einen erstaunlichen Fundus an Erkenntnissen abgewinnen, was für mich den Ausschlag für die vorliegende Arbeit gab.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zur Objektbeziehungstheorie in der Psychoanalyse literarischer Werke
- Autobiographisches zu Goethe
- Das Verhältnis zur Mutter
- Die Liebe zu Charlotte Buff
- Die Muttergestalten im Roman
- Die Mutter
- Lotte
- Das Kind in Werther
- Werthers Liebe zu Lotte – eine Objektbeziehung
- Formale Elemente
- Form
- Sprache
- Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit zielt darauf ab, die Liebe Werthers zu Lotte aus einer psychoanalytischen, insbesondere objektbeziehungstheoretischen Perspektive zu analysieren. Dabei wird die Rolle der Muttergestalten im Roman, die infantilen Züge Werthers und die formalen Elemente des Romans untersucht.
- Die Bedeutung von Objektbeziehungen in der Interpretation literarischer Werke
- Die Rolle von Muttergestalten und deren Einfluss auf Werthers Gefühlswelt
- Werthers Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe und seine infantile Abhängigkeit
- Formale Elemente des Romans und ihre Bedeutung für die Darstellung von Werthers Gefühlswelt
- Parallelen zwischen Werthers Lebensgeschichte und Goethes Biographie
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Thematik und die Zielsetzung der Arbeit vor. Kapitel 1 widmet sich der Objektbeziehungstheorie und erläutert deren Anwendung auf literarische Werke. In Kapitel 2 werden autobiographische Aspekte Goethes beleuchtet, insbesondere sein Verhältnis zu seiner Mutter. Kapitel 3 analysiert die Muttergestalten im Roman, die Mutter und Lotte, und deren Bedeutung für Werthers Gefühlswelt. Kapitel 4 fokussiert auf die infantilen Züge Werthers, die seine Abhängigkeit von Lotte erklären. Kapitel 5 analysiert Werthers Liebe zu Lotte aus einer objektbeziehungstheoretischen Perspektive. Kapitel 6 behandelt die formalen Elemente des Romans, Form und Sprache.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit folgenden Schlüsselbegriffen: Objektbeziehungstheorie, psychoanalytische Literaturinterpretation, "Die Leiden des jungen Werther", Goethe, Muttergestalten, infantile Züge, Liebe, Sehnsucht, Abhängigkeit, formale Elemente.
- Citation du texte
- Catherine Kimmle (Auteur), 2005, Werthers Liebe zu Lotte - Die Hoffnung auf die Rückgewinnung des verlorenen Objekts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53188