Inklusion im Sport

Zur Erfassung von Verhaltensindikatoren


Masterarbeit, 2015

108 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Bezugsrahmen
2.1 Behinderung
2.1.1 Begriffsklärung
2.1.2 Klassifizierung von Behinderungsarten
2.1.3 Einstellungen und Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit einer Behinderung
2.1.4 Ansätze zur Erklärung sozialer Reaktionen gegenüber Menschen mit einer Behinderung
2.1.5 Optionale Modifikationen des Verhaltens von Nichtbehinderten gegenüber Menschen mit einer Behinderung
2.1.6 Behinderung und Sport
2.2 Inklusion
2.2.1 Begriffsklärung
2.2.2 Gründe für Inklusion
2.2.3 Inklusion in der Schule
2.2.4 Inklusion im organisierten Sport
2.2.5 Kritik
2.3 Inklusionsprojekt: DSA-Tour
2.4 Untersuchungsziele

3 Empirischer Teil
3.1 Methode
3.1.1 Untersuchungsplan
3.1.2 Fragebogenkonstruktion
3.1.3 Stichprobe
3.1.4 Untersuchungsdurchführung
3.2 Ergebnisse
3.2.1 Datenauswertung
3.2.2 Item- und Reliabilitätsanalyse
3.2.3 Faktorenanalyse
3.2.4 Hypothesenüberprüfung

4 Diskussion

5 Abstract

6 Literatur

7 Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1. Formen der sozialen Reaktion auf Behinderte, ihre Folgen und Verflechtungen miteinander (Cloerkes, 2007, S. 120).

Abbildung 2. Begriffe des Inklusionsdiskurses und ihre Bedeutung (in Anlehnung an DBS, 2013, S. 3).

Abbildung 3. Prozentualer Anteil der Schüler in Förderschulen in der Europäischen Union.

Abbildung 4. Anteil der Schüler mit Behinderung an Regelschulen im Schuljahr 2013/14.

Abbildung 5. Drei-Ebenen-Modell der Unterrichtsentwicklung inklusiven Sportunterrichts (Scheid & Friedrich, 2015, S. 41).

Abbildung 6. Ablauf des Lehrprojekts PinI (Veber et al., 2015, S. 195).

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1. Klassifizierung von Behinderungsarten (in Anlehnung an Wegner, 2001, S. 26)

Tabelle 2. Typische Reaktionsformen gegenüber Menschen mit Behinderung (in Anlehnung an Cloerkes, 2007, S. 106f.)

Tabelle 3. Ausgewählte Preisträger des Jakob Muth-Preises seit 2009 (in Anlehnung an Bertelsmannstiftung, 2015)

Tabelle 4. Überblick der Lernsituationen inklusiven Sportunterrichts (in Anlehnung an Tiemann, 2012, S. 170)

Tabelle 5. Häufigkeitsverteilung der teilnehmenden SchülerInnen anhand der Klassenstufe in %

Tabelle 6. Befunde der Item- und Reliabilitätsanalyse für die Dimension Einstellung

Tabelle 7. Befunde der Item- und Reliabilitätsanalyse für die Dimension subjektive Norm

Tabelle 8. Befunde der Item- und Reliabilitätsanalyse für die Dimension Verhaltenskontrolle

Tabelle 9. Mustermatrix der Faktorwerte

Tabelle 10. Mustermatrix der Faktorenwerte unter Ausschluss ausgewählter Items

Tabelle 11. Befunde der Reliabilitätsanalyse für die revidierte Dimension Einstellung

Tabelle 12. Befunde der Reliabilitätsanalyse für die revidierte Dimension subjektive Norm

Tabelle 13. Befunde der Reliabilitätsanalyse für die revidierte Dimension Verhaltenskontrolle

Tabelle 14. Befunde des t-Tests für unabhängige Stichproben zur Überprüfung der H1.

Tabelle 15. Befunde der erfahrungsspezifischen Gruppenstatistik zur Einschätzung des durchschnittlichen Einstellungswertes.

Tabelle 16. Befunde des t-Tests für unabhängige Stichproben zur Überprüfung der H2. 89

Tabelle 17. Befunde der geschlechtsspezifischen Gruppenstatistik zur Einschätzung des durchschnittlichen Einstellungswertes.

Tabelle 18. Befunde der Korrelation zur Überprüfung der H3.

1 Einleitung

„Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden.

Es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Kein anderes Zitat spiegelt wohl besser die aktuellen Bestrebungen und Bemühungen im Rahmen des hochaktuellen Inklusionsdiskurses wider. Seit 2009 ist jede öffentliche Institution dazu verpflichtet, ihre Türen für alle Individuen zu öffnen. Und am guten Wille, den UN-Forderungen nachzukommen und die Gesellschaft mehr und mehr inklusiv und entsprechend einer Einheit auszurichten, soll es nicht scheitern. So steht eine ganze Bandbreite an zusammengetragenen Wissen und theoretischen Ansätzen, unter anderem durch Rückgriffe auf die Erkenntnisse der Integrationsforschung, zur Verfügung, um die ungehinderte und gleichberechtigte Teilhabe eines jeden Einzelnen am gesellschaftlichen Leben dauerhaft und von Anfang an gewährleisten zu können. Im Fokus stehen dabei vor allem Menschen mit einer Behinderung, denen die freie Partizipation bisher zum größten Teil verwehrt geblieben ist und sie stets als Randgruppe der Gesellschaft gelten. Spezielle Einrichtungen, seien es Behinderten-Werkstätten, Förderschulen oder Sportangebote mit der Titulierung „Behindertensport“ sowie Barrieren unterschiedlichster Art, drängen Menschen mit Behinderung nicht nur automatisch in eine gewisse Außenseiterrolle, sondern erschweren zugleich das Zustandekommen alltäglicher Begegnungen zwischen ihnen und Menschen ohne Behinderung. So ist es wenig verwunderlich, dass sie dem Großteil der Gesellschaft fremd sind und sich, basierend auf entsprechenden Verhaltensunsicherheiten gegenüber ihnen, vermehrt negative Assoziationen und Einstellungen verfestigen. Zwar sprechen wir Behinderten beispielsweise im Rahmen von Paralympics hohe Anerkennung zu, doch bleiben ihre sportlichen Leistungen stets etwas Besonders und man wundert sich eher, dass sie überhaupt im Stande sind, solche Leistungen zu vollbringen. Auch der Blick auf schulische Sportveranstaltungen, wie die Bundesjugendspiele, zeigt, dass es sich eher um parallel laufenden Veranstaltungen handelt, anstelle eines gemeinsamen Sportevents. So werden für Schüler mit Behinderung spezielle Prüfungsaufgaben, -formen und –materialien, meist auch spezielle Orte bereitgestellt, wodurch sie von normalen Schülern getrennt werden. Dabei ist es doch der Sport, welcher Menschen verbindet und ein gegenseitiges kennenlernen sowie respektieren ermöglicht. Es scheint, als rücke anstelle echten Interesses eher eine gewisse vorgetäuschte Akzeptanz in den Vordergrund, welche lediglich einem moralischen Pflichtbewusstsein entspringen mag. Auch die Schule, welche als prägende und sekundäre Sozialisationsinstanz gilt, gerät aufgrund ihres hohen Aussonderungscharakters mit einhergehender Diskriminierung in Misskredit und sollte dringend einer Revision unterzogen werden. Auch sie stellt einen wichtigen Ansatzpunkt hinsichtlich inklusiver Umstrukturierungen dar, indem gerade solch eine Institution den optimalen Rahmen für Begegnungen auf Augenhöhe stellt und ohnehin jedem die gleichen Bildungschancen ermöglichen sollte. Jedoch reichen das bloße Wissen um die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Umstrukturierung sowie der Wille zur Veränderung noch lange nicht aus, sodass den vielen Worten Taten folgen sollten. Denn so führt das Verbleiben auf theoretischen Überlegungen nicht nur zu einem Mangel an sorgfältig entwickelten, praktischen Konzepten zur tatsächlichen Umsetzung von Inklusion, sondern entzieht dem Gedanken mehr und mehr seine Glaubwürdigkeit, an dessen Stelle Skepsis und Gefühle der Ernüchterung treten. Auch der Einsatz engagierter Eltern stößt zumeist auf Ablehnung und verhindert das Voranschreiten inklusiver Bemühungen, wie das aktuelle Beispiel von Kirsten Ehrhard zeigt (Süddeutsche Zeitung, 09. April 2014). Als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom kämpft sie schon lange dafür, dass ihr Kind die Regelschule besuchen darf, macht durch Zeitungsartikel und Fernsehauftritte auf sich und die Thematik aufmerksam, und trotzdem: Sämtliche Gymnasien lehnen die Aufnahme ihres Sohne Henris ab. Wird dabei vielleicht vergessen, dass es sich hinsichtlich der Inklusion um einen Prozess handelt, der vor allem in den Köpfen der Menschen beginnt und weder durch Zwang und Druck engagierter Politiker oder Eltern vorangebracht werden kann? Inklusion, sei es in Schule, Sport oder anderen gesellschaftlichen Bereichen soll die Mauern zwischen Menschen mit und ohne Behinderung brechen, doch bedürfe es hierzu erst einmal das Interesse, sich dem Thema Behinderung überhaupt zu öffnen und anzunehmen. Was können Inklusion bzw. inklusive Arrangements hierbei wirklich bewirken? Welche Rolle kann dabei vor allem der Sport einnehmen? Und welche Faktoren können zusätzlich gewisse Einstellungen und Haltungen hinsichtlich der Thematik Behinderung und Inklusion beeinflussen? Ansatzpunkt bietet das bereits angelaufene DSA-Inklusionsprojekt, in dessen Rahmen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam die Prüfungen des Deutschen Sportabzeichens ablegen. Die Evaluation des Projekts in Hinblick auf dessen Effekte soll anhand der Erfassung von Einstellungen sowie Verhaltensindikatoren erfolgen. Da es hier jedoch an geeigneten Erhebungsinstrumenten fehlt, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Konstruktion und Überprüfung eines entsprechenden Fragebogens, welcher für die Haupterhebungen des Projekts verwendet werden soll.

Als Grundlage und um einen geeigneten Zugang zur Thematik zu gewährleisten, fungiert der vorangestellte theoretische Teil, welcher anhand eingehender Literaturrecherche zum einen das Feld Behinderung einschließt und zum anderen das hiesige Thema der Inklusion absteckt, indem die wesentliche Aspekte des aktuellen Diskurses herausgestellt werden.

2 Theoretischer Bezugsrahmen

Der folgende theoretische Teil dieser Arbeit gliedert sich in drei Themenfelder. Zunächst wird der Bereich der Behinderung in den Fokus genommen, welcher als Basis für die nachfolgenden thematischen Abschnitte fungieren soll. Neben einer Klärung der alltäglich verwendeten Begrifflichkeiten „Behinderung“ oder „behindert sein“ sollen zudem kurz die verschiedenen Arten einer Behinderung klassifiziert werden. Um anschließend einen weiteren Einblick in die soziale Situation und das Leben der Menschen mit Behinderung zu erlangen, werden anhand der bisherigen Einstellungsforschung Haltungen und Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit einer Behinderung zusammengefasst und vorhandene Erklärungsansätze dargestellt. Des Weiteren sollen die in der Forschungsliteratur beschriebenen Verhaltensmodifikationen aufgezeigt werden. Abschließend wird die Behinderung im Kontext Sport betrachtet, um letztendlich zum anschließenden Hauptthemenbereich der Inklusion überzuleiten. In dessen Rahmen sollen ebenfalls Termini erläutert werden, welche im aktuellen Inklusionsdiskurs häufig Gebrauch finden. Bevor die bisherigen Entwicklungen der Inklusion hinsichtlich verschiedener Bereiche sowie auf nationaler und internationalen Ebene herausgestellt werden, soll kurz geklärt werden, wie und warum es überhaupt zu dieser so angestrebten und allseits bekannten Inklusionsthematik kam. Um der einseitigen Betrachtung der Inklusion entgegenzuwirken, sollen in dieser Arbeit ebenso kritische Stimmen Erwähnung finden und nicht vernachlässigt werden.

Die Vorstellung des inklusiven Forschungsprojekts im Rahmen der DSA-Tour 2015, welches den Anlass der Arbeit bildet, wird im dritten und letzten Kernbereich thematisiert und soll den theoretischen Rahmen komplettieren.

2.1 Behinderung

2.1.1 Begriffsklärung

Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales leben in Deutschland etwa 9,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung, was einem Anteil von 11,7% der Gesamtbevölkerung entspricht. Kein Wunder, dass der Begriff „Behinderung“ für uns alltäglich ist und in vielen Kontexten gebraucht wird; man könnte meinen, in zu vielen Kontexten. Neben sachlichen oder neutralen Äußerungen wie „Er hat eine Behinderung“ oder „Sie kann das nicht, weil sie behindert ist“ zur Bezeichnung der Beeinträchtigung einer Person bzw. aus Rechtfertigungsgründen erfährt der Terminus ebenso abwertende Verwendung und wird vor allem im jugendlichen Bereich in Form von Beschimpfungen missbraucht: „Du bist voll behindert“ oder „Ob du behindert bist?“. Gleich ist den verschiedenen und alltäglichen Verwendungskontexten das jeweilige allgemeine Verständnis von Behinderung. Man geht davon aus, man wisse schon, was sich hinter dem Begriff „Behinderung“ verberge. Dabei beweist die Forschungsliteratur, dass er weitaus vielschichtiger ist und je nach Fachrichtung unterschiedliche Schwerpunkte besitzt.

Medizinische Definitionen akzentuieren einen Krankheitszustand bzw. eine Schädigung1 mit langfristiger, individueller Beeinträchtigung:

„Idealtypisch ist eine Behinderung eine irreversible und dauerhafte Beeinträchtigung als Folge eines vorausgegangenen Krankheitsprozesses oder einer angeborenen Schädigung.“ (Tröster, 1990, S. 20)

Auch die von der WHO (World Health Organisation) entwickelte ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps) setzte bezüglich des Behindertenbegriffs überwiegend am Individuum und dessen Defekt an. Um den sozialen bzw. gesellschaftlichen Aspekt mit entsprechenden Folgen stärker mit einzubeziehen und in den Vordergrund zu rücken, wurde in der nachfolgenden ICF-Version (International Classification of Functioning, Disability, and Health) der gesellschaftliche Rahmen mit seinen Aspekten der Partizipation sowie den Einstellungen gegenüber Behinderten fokussiert (Cloerkes, 2007).

Die Betonung des gesellschaftlichen Kontextes wird auch in weiteren Definitionen deutlich. Laut juristischem Verständnis wird Behinderung folgendermaßen definiert:

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§ 2 Satz 1 SGB IX)

Ähnlich klingen pädagogische Begriffsklärungen, welche vor allem Beeinträchtigungen im Lernen, in der Sprache oder im sozialen Verhalten betonen und deshalb sonderpädagogischer Förderbedarf von Nöten sei (Deutscher Bildungsrat, 1974).

Soziologisch akzentuierte Definitionen sehen Behinderung sogar als eine Art abweichendes Verhalten von der gesellschaftlichen Norm und ihren Werten. Cloerkes (2007, S. 160) postuliert, „daß der Mensch ‚anders’ ist als man erwartet. In seinem ‚Sosein’ entspricht er nicht den gesellschaftlichen Erwartungen [...].“ Somit lautet seine Arbeitsdefinition:

„Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird [...] Ein Menschen ist ‚behindert’, wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist.“ (Cloerkes, 2007, S. 8)

Auch weitere soziologische Ansätze, wie das Stigmakonzept nach Goffman oder der Etikettierungsansatz, gehen davon aus, dass erst gesellschaftliche Faktoren Behinderungen und Behinderte schaffen bzw. definieren, indem von außen festgelegt und bewertet wird, welche Merkmale oder Eigenschaften von den gesellschaftlichen Vorstellungen abweichen und demnach als unerwünscht gelten (Cloerkes, 2007; Tröster, 1990; Wegner, 2001). Dem kann somit entnommen werden, dass im Vergleich zu medizinischen Definitionen von Behinderung, soziologischen Ansätzen noch der Aspekt einer äußeren Abhängigkeit hinzugefügt wird, das heißt, was eine Behinderung letztendlich ist, wird nicht rein medizinisch festgelegt, sondern folgt gesellschaftlichen Bestimmungen. Somit wird die Behinderung entsprechend und völlig zutreffend als „Gesellschaftsprodukt“ bezeichnet (Coerkes, 2007, S. 11).

Die vielen und unterschiedlich akzentuierten Definitionen zeigen, dass „Behinderung“ in keinem Falle pauschalisiert betrachtet werden darf. Gerade im alltäglichen Sprachgebrauch wird von der einen Behinderung ausgegangen, doch „im Grunde gibt es ‚die’ Behinderung gar nicht, allenfalls gibt es eine Vielzahl spezifischer Beeinträchtigungen, die mit dem Begriff ‚Behinderung’ zusammengefaßt werden [...]“ (Tröster, 1990, S. 12).

Nun ist das Anliegen dieser Arbeit weniger das (wohl unmögliche) Festlegen einer finalen Definition des Begriffs „Behinderung“ anhand der vorgestellten Definitionen, als vielmehr die Sensibilisierung und die Entwicklung eines gewissen Bewusstseins für die Vielschichtigkeit dieses Begriffs. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedeutungskontexte, in welchen der Begriff eingebettet ist, soll dem pauschalisierten bzw. verallgemeinerten Verständnis von „Behinderung“ vorgezogen werden.

2.1.2 Klassifizierung von Behinderungsarten

Wie im Kapitel zuvor bereits erwähnt, handelt es sich bei einer Behinderung nicht um eine gleichzusetzende homogene Gruppe, sondern eher um einen Oberbegriff, unter welchen sich einzelne unterschiedliche Arten der Behinderung subsumieren lassen. Hinsichtlich solcher Systematisierungen lassen sich in der Literatur einige Vorschläge auffinden. Um einen ersten Eindruck der Spezifität von Behinderung zu bekommen, sollen im Folgenden unterschiedliche Formen der Behinderung tabellarisch aufgezeigt werden. Es handelt sich dabei um eine verkürzte Version der etwas ausführlicheren Darstellung Wegners (2001).

Tabelle 1. Klassifizierung von Behinderungsarten (in Anlehnung an Wegner, 2001, S. 26).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.3 Einstellungen und Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit einer Behinderung

Warum nehmen Menschen mit einer Behinderung eher eine Außenseiterrolle in der Gesellschaft ein? Oder vielleicht besser: Warum werden sie in die Außenseiterrolle gedrängt? Was führt dazu, dass die Distanz zu ihnen anscheinend bewahrt wird? Oder bewahren sie eher selber die Distanz? Folgendes Zitat erscheint an dieser Stelle passend:

„Menschen werden wohl mit einer Behinderung geboren, doch zum Behinderten werden sie erst später gemacht.“ (Klee, 1980, S.30)

Ausgehend von der soziologischen Vorstellung und den entsprechenden Definitionen von Behinderung konnte herausgestellt werden, dass der Mensch mit seiner Behinderung scheinbar gesellschaftlichen Bestimmungen und damit äußeren Faktoren unterliegt. Die Wahrnehmung seiner Behinderung, und zugleich seiner Person, wird bestimmt durch individuelle Bewertungen, welche wiederum Folgen hinsichtlich seiner Lebensverrichtungen in der Gesellschaft bedeuten. So argumentiert Tröster (1990, S. 7), dass vor allem die Reaktionen der sozialen Umwelt entscheidend für die Chancen der gleichberechtigten Teilhabe der Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben seien. Weiter postuliert er, dass die „Benachteiligung behinderter Menschen [...] keine notwendige oder unabweisbare Folge ihrer Schädigung oder ihrer Funktionsbeeinträchtigung, sondern das Resultat gesellschaftlicher Prozesse [sei]“ (Tröster, 1990, S. 11). Auch Cloerkes (2007, S. 103) stützt diese Auffassung, indem er ebenfalls konstatiert, dass es vor allem „[...] auf die ‚soziale Reaktion’ [ankomme], sie ‚schafft’ Behinderungen und Behinderte.“ Die soziale Reaktion umfasse dabei die „Gesamtheit der Einstellungen und Verhaltensweisen auf der informellen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktionen“ (Cloerkes, 2007, S. 103). Den Bewertungen im Kontakt mit einer behinderten Person liegen demnach gewisse individuelle und gesellschaftsbezogene internalisierte Werte zugrunde, aus welchen wiederum Einstellungen und entsprechende Verhaltensmuster resultieren.

2.1.3.1 Einstellungen gegenüber Menschen mit einer Behinderung

Einstellungen stellen ein „stabiles System von positiven oder negativen Bewertungen, gefühlsmäßigen Haltungen und Handlungstendenzen in Bezug auf ein soziales Objekt [...]“ dar (Krech, Crutchfield & Ballachey, 1962; zitiert nach Cloerkes, 2007, S. 104). Unter der Einstellung gegenüber Menschen mit einer Behinderung versteht Tröster (1990, S. 56):

„[...] eine dauerhafte, über unterschiedliche Situationen und Zeitpunkte hinweg stabile Disposition [...], auf behinderte Personen mit positiven oder negativen Gefühlen zu reagieren, vorteilhafte oder unvorteilhafte Meinungen über sie zu vertreten und sich gegenüber behinderten Menschen in zugewandter oder ablehnender Weise zu verhalten. Die Einstellung gegenüber Behinderten wird also als eine relativ überdauernde, transsituationale Reaktions- und Verhaltensbereitschaft gegenüber behinderten Personen betrachtet.“

Diesbezüglich lassen sich drei Einstellungskomponenten unterscheiden: die kognitive Komponente, die konative Komponente sowie die affektive Komponente. Die kognitive Komponente bezeichnet Cloerkes (2007, S. 104) ebenfalls als die „Wissenskomponente“, welche sich auf die spezielle Wahrnehmung des „Einstellungsobjektes“ bezieht und „sich in den Vorstellungen, Überzeugungen und bewertenden Urteilen des Individuums gegenüber einem Einstellungsobjekt“ zeigt. Die konative, oder laut Cloerkes die „Handlungskomponente“, äußert sich in den jeweiligen „Verhaltensintentionen oder Handlungstendenzen gegenüber dem Einstellungsobjekt“. Die dritte Komponente, die affektive bzw. die „Gefühlskomponente, nimmt Bezug auf die emotionale Ebene, das heißt auf „die (positiven oder negativen) Gefühle und subjektiven Bewertungen des Individuums gegenüber einem Einstellungsobjekt“. Sie wird vor allem im Behindertendiskurs als besonders relevant angesehen und stellt den sogenannten „Kern einer sozialen Einstellung“ dar (Cloerkes, 2007, S. 104).

Doch wie sehen nun die konkreten Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung aus? Vorangestellt sei die Feststellung Trösters (1990, S. 60f.), dass Einstellungen „keine beobachtbaren Phänomene, sondern gedankliche Konstrukte [...]“ darstellen, sie werden vor allem aus „beobachtbaren Reaktionen auf das Einstellungsobjekt erschlossen.“ Zusätzlich werden Messinstrumente wie beispielweise Einstellungsskalen, Soziale-Distanz-Skalen oder projektive Verfahren herangezogen (Cloerkes, 2007). Dennoch erweist sich der Zugang als schwierig, sodass einige Forschungslücken im Bereich der Einstellungsforschung bestehen und nur wenige Studien vorliegen. Einige vorliegende Ergebnisse sollen folgend dargestellt werden.

Cloerkes (2007, S. 105 f.) erfasst mittels ausgewählter wichtiger Studien die unterschiedlichen Determinanten von Einstellungen zusammen, anhand derer er unterschiedliche Einstellungsaspekte herausstellt.

1. Art der Behinderung:

Die Schwere der Behinderung ist kein besonders relevanter Einstellungsfaktor, vielmehr ist es das Ausmaß der Sichtbarkeit der Behinderung sowie das Ausmaß der gesellschaftlich hochbewerteten Leistungsfunktionen (z.B. Mobilität, Kommunikationsfähigkeit), welche zu den Einflussgrößen hinsichtlich der Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen zählen. Generell werden Behinderungen im geistigen Bereich ungünstiger bewertet als solche, die im körperlichen Bereich liegen. Dennoch stellt Cloerkes (1980) in einer weiteren Publikation heraus, dass bei besonders starken sichtbaren Abweichungen, wie beispielsweise bei einer Gesichtsentstellung, die Bewertung der körperlichen Behinderung der ablehnenden Bewertung von geistiger Behinderung gleichkommt.

2. Sozio-ökonomische bzw. demographische Merkmale:

Im Gegensatz zur ersten Determinante stellt diese einen eher geringen Einflussparameter dar. Dennoch gibt es geschlechts- sowie altersbezogene Differenzen hinsichtlich Einstellungsmuster. So geht man bei Frauen und jüngeren Personen von einer höheren Akzeptanz mit entsprechend positiveren Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung aus als bei Männern und älteren Personen. Ein besonderes Repertoire an Wissen über Behinderte oder der allgemeine Bildungsgrad garantiert keine positiveren Einstellungen. Ebenso sieht man keine Beziehungen zwischen den Einstellungen und der beruflichen Qualifizierung, der ethnischen Herkunft, dem Wohnort oder dem Familienstand.

3. Persönlichkeitsmerkmale:

An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass gerade hinsichtlich dieser möglichen Einflusskomponente genauere Kenntnisse von Nöten bzw. wünschenswert wären, da es hier stets zu unterschiedlichen Beurteilungen kommt. Doch vor allem bei ich-schwachen, ängstlichen oder dogmatischen Personen wird von einer eher ablehnenden Tendenz gegenüber behinderten Menschen ausgegangen.

4. Kontaktvariable:

Generell hält sich die Annahme, dass vor allem der Kontakt zu günstigeren Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung führt. Er wird demnach als wesentliche Einflussgröße betrachtet. Dennoch bedarf es dabei weiterer notwendiger Bedingungen, die einen qualitativ hochwertigen Kontakt entstehen lassen, denn Interaktionen per se führen nicht zwangsläufig zu positiveren Einstellungen. Auf diesen Aspekt soll später genauer Bezug genommen werden.

Hinzugefügt werden kann Trösters (1990, S. 56) Annahme über eine scheinbar grundlegende Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung, nämlich, dass sie „nicht in erster Linie als eine individuelle Person“ betrachtet werden, mit guten sowie schlechten Eigenschaften, sondern vielmehr auf das einzige Merkmal „Behinderung“ mit entsprechenden (negativen) Assoziationen reduziert werden. Hieran anknüpfend postuliert ebenso Wegner (2001), dass solch eine einseitige Wahrnehmung, welche sich ausschließlich auf das Merkmal „Behinderung“ richtet, den offenen Zugang zum Menschen mit Behinderung versperre. Des Weiteren verweist er auf einen „naiven Körper-Geist-Parallelismus“, in dessen Rahmen unkritische Vorannahmen getroffen werden, wie beispielsweise: „Bestimmte Formen körperlicher Schädigungen sind mit charakteristischen Persönlichkeitstypen oder Persönlichkeitseigenschaften verbunden“ (Wegner, 2001, S. 32). Entsprechend solcher Haltungen und Einstellungen zeigen sich unterschiedliche Reaktionsformen, welche folgend dargestellt werden.

2.1.3.2 Reaktions- und Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit einer Behinderung

Cloerkes (2007) fasst typische Reaktionsmuster zusammen, welche sich in zwei unterschiedliche Ebenen einordnen lassen: Zum einen distanzschaffende, negative Reaktionen, zum anderen vermeintlich positive Verhaltensweisen, welche jedoch ebenfalls Abgrenzungsversuche intendieren. Beispiele solcher Reaktionen sind in der nachstehenden Tabelle aufgelistet.

Tabelle 2. Typische Reaktionsformen gegenüber Menschen mit Behinderung (in Anlehnung an Cloerkes, 2007, S. 106f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Cloerkes (2007, S. 107) fügt hinzu, „daß echtes Engagement für behinderte Menschen ohne implizite Abwertung, Entlohnung oder Dankbarkeitserwartungen vergleichsweise selten vorkommt.“ Auch die experimentelle Studie zur Interaktionsspannungen zwischen Körperbehinderten und Nichtbehinderten von Tröster (1988) bestätigt, dass sich nichtbehinderte Menschen zwar bemühen, behinderten Personen gegenüber freundlich und zuvorkommend zu sein, indem sie ihnen verbal das Gefühl der Wertschätzung und Akzeptanz entgegenbringen, sich jedoch im nonverbalen Verhalten Vermeidungstendenzen abzeichnen, was sich beispielsweise im reduzierten Blickkontakt äußert (Wegner, 2001).

Die aufgeführten Verhaltens- und Reaktionsmuster dürften nun nicht allzu überraschend sein und mögen dem ein oder anderen durchaus nicht fremd vorkommen. Viel interessanter ist also die Frage, warum man sich so oder so verhält bzw. reagiert. Was veranlasst eine Person dazu, eine gewisse Distanz zum behinderten Gegenüber zu schaffen und zu bewahren? Dies soll nun folgend begründet werden.

2.1.4 Ansätze zur Erklärung sozialer Reaktionen gegenüber Menschen mit einer Behinderung

Zum Verstehen der Reaktionsformen von Menschen mit Behinderung gegenüber Menschen ohne Behinderung können eine Reihe an Erklärungsansätzen herangezogen werden. In Anlehnung an Cloerkes (2007, S. 107 ff.) sollen einiger dieser betrachtet und erläutert werden.

2.1.4.1 Interaktionsstörungen

Vor allem auffällige Behinderungen lösen beim nichtbehinderten Menschen psycho-physische Reaktionen wie Angst, Hilflosigkeit, Abscheu, Ekel sowie Verlegenheit oder Unbehagen aus. Dies führt in der Konsequenz zu gewissen Spannungen, welche sich beispielsweise in Verhaltensunsicherheiten äußern und die Interaktion letztendlich höchst unangenehm werden lässt. Solch eine negativ empfundene Erfahrung soll künftig vermieden werden, sodass die Distanz zur behinderten Person bewahrt wird. Wie bereits in Kapitel 2.1.3.1 erwähnt, ist demnach die Art der Behinderung nicht nur ein entscheidender Einflussfaktor für die Einstellung zu behinderten Personen, sondern gleichzeitig für das Verhalten gegenüber ihnen. So differenziert Tröster (1988) die Art der Behinderung in vier verhaltensrelevante Aspekte, welche die Interaktion erheblich belasten können. Vor allem die (1) Auffälligkeit der Behinderung führt, wenn es überhaupt dazu kommt, zu einer angespannten oder auch unangenehmen Interaktionssituation zwischen der behinderten und der nichtbehinderten Person. Dabei wird nochmals hinsichtlich der Sichtbarkeit unterschieden: Neben der eindeutig sichtbaren Behinderung, welche bereits vor dem Kontakt zur Kenntnis genommen werden kann, wodurch die Möglichkeit des Ausweichens gegeben ist, gibt es ebenso Behinderungen, welche erst in der Interaktion (überraschend) zum Vorschein kommen (z.B. bei Hör- oder Sprachbehinderungen) oder aber erst nach längerem und intensiverem Kontakt, da die Behinderung zunächst im Verborgenen gehalten werden kann.

Hinsichtlich (2) ästhetischer Beeinträchtigungen sind vor allem das vorherrschende Attraktivitätsbewusstsein in der Gesellschaft sowie das bestehende Schönheitsideal dafür verantwortlich, dass es Menschen leichter fällt, mit attraktiven Personen in Kontakt zu kommen und die Konfrontation mit beispielsweise entstellten Menschen hefige affektive Reaktionen auslöst.

Die ästhetischen Beeinträchtigungen beeinflussen die Interaktion zwar im stärkeren Maße, dennoch führen auch (3) funktionale Beeinträchtigungen immer zu einer belastenden Kontaktsituation, unabhängig von den jeweiligen Einstellungen der nichtbehinderten Person.

Unter der (4) zugeschriebenen Verantwortlichkeit wird die angenommene Schuld am Zustand der behinderten Person verstanden, was ebenfalls die Interaktion beeinträchtigt.

Doch nicht nur aus Sicht der nichtbehinderten Person wird die Interaktion als belastend wahrgenommen. Vor allem die in Tabelle 2 aufgeführten Reaktionsformen des nichtbehinderten Gegenübers geben Anlass zum generellen Vermeiden des vermeintlich unangenehmen angespannten Kontakts.

2.1.4.2 Soziologische Erklärungsansätze

Um die Reaktionen auf behinderte Personen zu erklären, beziehen sich soziologische Ansätze auf bestimmte Erwartungen und Rollen.

Der Irrelevanzregel folgend sei dem (sichtbaren) Makel der behinderten Person keine wertende Aufmerksamkeit zu schenken. Man sei dazu angehalten, die Behinderungen zu neutralisieren und „höflich zu ‚übersehen’, sie haben ohne Bedeutung (irrelevant) zu sein“ (Cloerkes, 2007, S. 108). Dass dieser Grundsatz an eine Utopie grenzt, muss nicht weiter ausgeführt werden. Fakt ist, dass solch eine „Scheinnormalität“ wiederum Interaktionsspannungen zur Folge hat.

Im Rahmen eines Interrollenkonflikts besteht die Problematik darin, dass dem abwertenden Merkmal „Behinderung“ andere Eigenschaften der behinderten Person entgegenstehen. Um diesen Widerspruch zu lösen und der aufkommenden Verunsicherung zu entkommen, werden jegliche Eigenschaften dem Hauptmerkmal „Behinderung“ untergeordnet.

Uneindeutige Verhaltensregeln resultieren aus mangelndem Kontakt und der entsprechenden fehlenden Erfahrung im Umgang mit einer Person mit Behinderung, woraus Gefühle der Unsicherheit und des Unbehagens entstehen. Aufgrund des Konfliktes widersprüchlicher Normen, d.h. internalisierte gesellschaftliche Normen auf der einen Seite, welche einen wertschätzenden Umgang und eine von Akzeptanz geprägte Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung vorgeben, und den individuellen, affektiven und originären Reaktionen auf der anderen Seite, kommt es zur Scheinakzeptanz, um sich dem unangenehmen normativen Zwist zu entziehen. Hieran lässt sich zudem Trösters (1988, S. 54 ff.) Novel-Stimulus-Hypothese anschließen, die ebenfalls davon ausgeht, dass die Wahrnehmung einer offensichtlich abweichenden, behinderten Person zu einem intrapsychischen Konflikt zwischen affektiver Anstarrneigung und gesellschaftlicher Norm, welche dies untersagt, führt.

2.1.4.3 Psychologische Erklärungsansätze

Im Rahmen psychologischer Ansätze werden kognitive Aspekte sowie die Kategorie „Angst“ als Erklärung für die sozialen Reaktionen auf Menschen mit Behinderung herangezogen.

Die Schuldangst beinhaltet dabei die Angst vor dem (schlechten) Gewissen, dem sogenannten Über-Ich, aufgrund unerlaubter Ablehnung der behinderten Person. Unter der Bedrohung der eigenen physischen Integrität sind die Ängste vor Ansteckung im Falle der Begegnung mit einer sichtbar behinderten Person zu verstehen.

Die Fremdheit und Andersartigkeit eines Menschen mit Behinderung führt zu kognitiven Dissonanzen, d.h. man befindet sich in einem inneren Ungleichgewichtszustand, welchen es durch entsprechendes Verhalten zu kompensieren gilt. Solch eine angestrebte Dissonanzreduktion kann beispielsweise über einen indirekten Kontakt in Form einer Spende für Behinderte erreicht werden.

2.1.4.4 Erklärungsansätze zu Fremdheit

Es ist nicht unüblich, dass wir gegenüber Fremdem eher eine gewisse Kontaktscheu aufweisen als gegenüber Bekanntem. Somit wird Fremderleben als generelles Interaktionsproblem gesehen. Dabei sind fünf Arten zu unterscheiden: (1) das Fremde als das Auswärtige, Ausländische, (2) das Fremde als Fremdartiges im Sinne von Anormalität in Kontrast zum Normalen, (3) das Fremde als das noch Unbekannte, das man prinzipiell auch kennenlernen kann, (4) das Fremde als das letztlich Unerkennbare, Transzendente, dass man prinzipiell nicht kennenlernen kann und (5) das Fremde als das Unheimliche, als Gegensatz zur Geborgenheit des Vertrauten. Bezieht man diese Arten des Fremderlebens auf die Kontaktsituation mit einem Menschen mit Behinderung, so wird die Zuordnung zu den Kategorien 2, 3, 5 und gegebenenfalls auch 4 als passend angesehen.

Weitere Erklärungsansätze hinsichtlich Interaktionsspannungen und den daraus resultierenden Verhaltensmustern stellt Tröster (1988) zusammen. An dieser Stelle sei lediglich auf die zentrale Annahme der Komplexitäts-Polarisierungs-Hypothese hinzuweisen, welche das generelle Diskriminierungsverhalten gegenüber jeglichen Fremdgruppen thematisiert. Angenommen wird, dass Angehörige von Fremdgruppen generell viel undifferenzierter wahrgenommen werden als Mitglieder der eigenen Gruppe. Dies führt zu polarisierenden, extremen Reaktionen, was nicht nur der Abwertung der Fremdgruppe dient, sondern gleichzeitig deren Abgrenzung zur Eigengruppe. Weitere Ausführungen hinsichtlich Prozesse sozialer Diskriminierung von Gruppen können dem Beitrag von Mummendey und Otten (2002) zu „Theorien intergruppalen Verhaltens“ entnommen werden.

Angesichts der dargestellten Erklärungsansätze, an welche sich weitere anschließen lassen würden, wird deutlich, wie komplex der Zusammenhang von sozialen Reaktionen auf Menschen mit einer Behinderung und der Interaktion mit ihnen ist. Die folgende Abbildung soll einen abschließenden Überblick bezüglich dieser Komplexität gewährleisten

Abbildung 1. Formen der sozialen Reaktion auf Behinderte, ihre Folgen und Verflechtungen miteinander (Cloerkes, 2007, S. 120).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.5 Optionale Modifikationen des Verhaltens von Nichtbehinderten gegenüber Menschen mit einer Behinderung

Die erarbeiteten Erkenntnisse hinsichtlich der Einstellungen sowie der entsprechenden sozialen Reaktionen gegenüber Menschen mit Behinderung lassen erahnen, dass sich die erfolgreiche Realisierung von Verhaltensänderungen alles andere als einfach umsetzen lässt. Nicht nur die Starrheit und Stabilität von Einstellungen, welche Änderungen gegenüber resistent zu sein scheinen, auch die Affektivität und Irrationalität sozialer Reaktionen begrenzen den Möglichkeitsraum erheblich (Cloerkes, 2007). Trotz dieser ungünstigen Ausgangslage fasst Cloerkes (2007, S. 138 ff.) einige mögliche Modifikationsstrategien zusammen, welche im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.

Einen besonders hohen Stellenwert erhalten Informationsstrategien, welche an dem Mangel an Wissen über Menschen mit Behinderungen und den daraus resultierenden pauschalisierenden und unsachlichen Beurteilungen ansetzen. Anhand verschiedener Informations- und Aufklärungskampagnen, vorwiegend über die Massenmedien, soll das Bild der behinderten Person korrigiert werden und zur Verbesserung der Einstellungen und Verhaltensmuster führen. Laut empirischer Studien werden diese Formen der Veränderungsmaßnahmen jedoch deutlich überschätzt und weisen eine Reihe negativer Effekte auf. Schnell werde vergessen, dass solch kognitive Strategien vor allem auf der bedingungslosen Bereitschaft jedes Einzelnen zur Belehrung basieren. Zu berücksichtigen sei hier die selektive Wahrnehmung, welche jeden dazu veranlasse, nur das aufzunehmen, was man auch wirklich aufnehmen möchte. Zudem wird angemerkt, dass Wissen nicht zwangsläufig mit Einstellungen und deren Änderungen einhergehe. Hinzu kommt, dass es schnell wieder vergessen und teils so lange verdreht werde, bis die ursprünglichen Einstellungen wieder gerechtfertigt werden können. Dies hätte eher eine Vorurteilsverstärkung zur Folge. Demnach wird vorgeschlagen, Informationsstrategien lediglich als ergänzende Maßnahmen zu anderen Strategien heranzuziehen.

Einen deutlich höheren Einflusswert wird dem Kontakt zugesprochen. Er wird als wichtigste Determinante für die Beeinflussung der Einstellungen von Nichtbehinderten gesehen und soll aufgrund seiner Relevanz für diese Arbeit im folgenden Unterkapitel genauer betrachtet werden.

Ebenfalls einen empirisch nachgewiesenen positiven Effekt auf die Einstellungen Nichtbehinderter gegenüber Menschen mit Behinderung weisen Simulationen von Behindertsein bzw. Rollenspiele auf. Hierbei sollen eigene Erfahrungen gesammelt werden, indem die Behindertenrolle übernommen wird. Durch das Bewältigen von Alltagssituationen, beispielweise mit eingeschränkter Funktion eines Körperteils oder im Rollstuhl, im blinden oder gehörlosen Zustand, sollen die Sensibilität und die Fähigkeit zur Empathieübernahme gefördert werden.

Doch nicht nur die persönliche Ebene des Einzelnen wird von Cloerkes (2007) hinsichtlich der Möglichkeiten zur Einstellungs- und Verhaltensmodifikation berücksichtigt. So bezieht er ebenso die gesellschaftliche Ebene mit ein, indem er Ansatzpunkte in der Veränderung des normativen Kontextes sieht. Dies betrifft zum einen die Gesetzgebung. Zwar gilt in Folge der Grundgesetzänderung (1994) der Gleichheitsgrundsatz „Niemand darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3, Abs. 3), doch inwieweit dies positive Auswirkungen auf den Umgang zwischen Menschen mit einer Behinderung und ohne Behinderung hat, bleibe abzuwarten. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre die Veränderung von Sozialisationsinhalten und –praktiken. Problematisch sei der deutliche Widerspruch zwischen den vorherrschen Normen einer Industriegesellschaft. So steht den Anforderungen auf Leistung die demokratische Solidarität mit den Betroffenen gegenüber, woraus letztendlich Unsicherheiten und entsprechende negative soziale Reaktionen resultieren. Demnach solle die Kompetenz zur Lösung solcher normativen Konflikte gestärkt werden, was sowohl für die Nichtbehinderten als auch für Menschen mit einer Behinderung gilt. Durch beispielsweise eine konsequente Integration sollten behinderte Personen zudem darin gestärkt werden, mit vorurteilsgeprägtem und verunsichertem Verhalten von nichtbehinderten Personen umzugehen.

Dritter und letzter möglicher Ansatzpunkt wäre die Verschiebung der gesellschaftlichen Wertestruktur. Gerade die Überbewertung körperlicher Integrität, Schönheit und Gesundheit, Intelligenz und Leistungsfähigkeit würden negative soziale Reaktionen begünstigen und rechtfertigen. Im Rahmen eines Wertewandels soll zum Beispiel weniger der Leistungsvergleich in den Fokus gerückt werden als vielmehr die inneren Qualitäten des Bewertungsobjekts.

Des Weiteren sei Andersartigkeit Realität und erfordere eine ehrliche und notwendige Akzeptanz. Sonderrollen, auch die der Behinderten, dienen dabei keineswegs der Legitimierung von Diskriminierung, sie würden neben sozialer Partizipation zugleich einen sogenannten Schonraum und die Möglichkeit des Rückzuges gewähren. Eine besondere und nicht zu unterschätzende Einflussmöglichkeit hinsichtlich der Partizipation sieht Cloerkes (2007) in den Menschen mit Behinderung selbst. Durch eigenes Engagement seien sie in der Lage, Informationen und eigene Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu tragen, um nicht nur ihre gesellschaftliche und soziale Position zu stärken, sondern zugleich für ihre Rechte einzustehen.

Letztendlich seien für Cloerkes (2007) aber vor allem die Kombinationen verschiedener Strategien am wirkungsvollsten. Gerade das Zusammenspiel aus Informationen und Kontakt stelle dabei die effektivste Kombination dar. An dieser Stelle soll nun genauer auf die Komponente Kontakt eingegangen werden, da sie im Rahmen der Untersuchung dieser Arbeit einen bedeutsamen Bezugspunkt bildet.

2.1.5.1 Kontakthypothese

Viele theoretische Annahmen sind verantwortlich für die feste Erwartung, Kontakt sei das Kriterium schlechthin, wenn es um die Qualität von Einstellungen zu anderen Personen geht. Kontakt könne nicht nur Vorurteile korrigieren, er baue zugleich Fremdheit ab und Vertrautheit auf. Somit fangen Personen an, sich zu mögen, wenn sie durch häufigen Kontakt Nähe zueinander aufbauen (Cloerkes, 2007). Bezogen auf Menschen mit Behinderung leitet Cloerkes (2007, S. 146) daraus zwei Hypothesen ab:

1. Personen, die über Kontakte mit Behinderten verfügen, werden günstigere Einstellungen gegenüber Behinderten zeigen als Personen, die keine derartigen Kontakte haben oder hatten.
2. Je häufiger Kontakt mit Behinderten bestanden hat, um so positiver wird die Einstellung des Betreffenden sein.

Hierbei sind jedoch wichtige Bedingungen zu beachten, welche den Kontakt erst zu einem qualitativ hochwertigen machen. Nicht jeder Kontakt bedingt automatisch positive Einstellungen zum Menschen mit Behinderung. Cloerkes (2007) merkt an, dass vor allem der Art des Kontaktes eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen müsse. Nicht die Häufigkeit der Begegnungen sei dabei entscheidend, sondern vielmehr die Intensität, denn „[j]e größer die Zahl der unpersönlichen Sozialkontakte, desto vielfältiger wird Andersartigkeit erlebt, desto mehr verfestigen sich Vorurteile“ (Wolf 1969; zit. nach Cloerkes, 2007, S. 146 f.). Doch auch bei der Intensität spielen affektive und emotionale Bedingungen, wie Freude am Kontakt und positive Gefühle, eine wichtige Rolle hinsichtlich des Einflusses auf Einstellungen. Hinzu kommt der Aspekt der Freiwilligkeit, welcher gleichzeitig die Möglichkeit des Ausweichens gewährleistet. Weitere günstige Nebenbedingungen sind nach Cloerkes (2007, S. 147) eine „relative Statusgleichheit“, „die Erwartung einer gewissen Belohnung aus der sozialen Beziehung“ und die „Verfolgung gemeinsamer wichtiger Aufgaben und Ziele“. Die Notwendigkeit dieser Kontaktbedingungen wird nochmals deutlich, wenn man sich die Risiken unreflektierter Kontaktsettings vergegenwärtigt:

„Liebe und Haß, Sehnsucht und Abscheu, Sympathie und Feindschaft nehmen mit der Intimität der Verbindung in ihrer Intensität zu ... Die Tatsache ist, daß bei engerem Kontakt in Abhängigkeit von der Situation entweder Attraktion oder Widerwille das Ergebnis sein kann.“ (Heider 1977; zit. nach Cloerkes, 2007, S. 147)

Dem Zitat zufolge besteht die Gefahr, dass sich bestimmte individuelle Einstellungen im Kontakt zu einem Extrem hin verstärken können. Auch hier wird der Kontakt in Abhängigkeit zur Situation gesehen, welche mit ihren Bedingungen einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität von Begegnungen und den daraus resultierenden Einstellungen zum jeweiligen Gegenüber nimmt (Cloerkes, 2007). Anhand seiner empirischen Überprüfung der Kontakthypothese kommt Cloerkes (2007, S. 148 ff.) schließlich zu folgenden Ergebnissen:

Hinsichtlich der allgemeinen Beziehung zwischen Kontakten und Einstellungen gegenüber Behinderten könne eine einfache Kausalbeziehung überwiegend bestätigt werden (vgl. These 1). Was die Einstellungen von Personen mit überdurchschnittlich häufigen Beziehung zu Behinderten angeht, so garantiere dies keineswegs automatische Einstellungsänderungen. So seien Personen, welche für die medizinische Versorgung und Betreuung verantwortlich sind, ebenso wenig frei von ungünstigen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung wie Personal aus dem sozialen und pädagogischen Bereich. Auch Eltern behinderter Kinder würden latente Formen der Ablehnung aufweisen, was tiefenpsychologische Untersuchungen belegen können. Schulische Kontakte hingegen könnten sehr wohl Einstellungen verändern, sofern dafür günstige Bedingungen geschaffen werden. Neben den genannten „natürlichen“ Begegnungen würden sich gezielte Kontakte im Rahmen von Einstellungsänderungsprogrammen, aufgrund der sorgfältigen Kontrolle der genannten Kontaktbedingungen, als besonders effektiv erweisen.

Doch trotz dieser zum Teil erfolgsversprechenden Überlegungen zur Beeinflussung der Einstellung von Menschen ohne Behinderung gegenüber Menschen mit einer Behinderung hält Cloerkes (2007, S. 157) fest, dass es die eine geeignete und erfolgsgarantierende Strategie noch nicht gebe, und sieht die notwendige Basis für alle weiteren Maßnahmen in der „konsequenten und sorgfältig geförderten sozialen Integration behinderter Menschen“. Viele gesellschaftliche und soziale Bereiche befinden sich dabei noch in den Anfängen einer solchen Umsetzung. Doch vor allem dem fortschrittlichen Bereich des Sports kann bereits jetzt eine bedeutsame Rolle beigemessen werden.

2.1.6 Behinderung und Sport

Sport gilt wohl als einer der Bereiche in unserer Gesellschaft, welcher niemandem verschlossen bleibt. So „erfasst [er] alle gesellschaftlichen Schichten, Geschlechter und Altersgruppen [und] wirkt somit als verbindende Klammer für Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen“ (Wegner, 2008, S. 809). Dies schließt ebenso Menschen mit einer Behinderung ein, für welche der Sport eben mehr als nur körperliche Aktivität bedeutet. Vor allem gemeinschaftliche und gesellige Aspekte durch das wiederholte Zusammenkommen der Teilnehmer verlaufen im sportlichen Kontext weitestgehend ungezwungen, was zum einen zu einer erhöhten Motivation zur regelmäßigen Teilnahme führen kann, zum anderen ebenso „emotionaler Rückhalt in der Bewältigung der Behinderung“ bedeutet (Wegner, 2008, S. 843). So gehen psycho-soziale Zielsetzungen über die allgemeinen und funktionalen Aufgaben des Behindertensports hinaus. Neben dem Training der Kondition sowie der vorhandenen Körperfunktionen, der Förderung der Wahrnehmung, der Fertigkeits- und Bewegungsbildung sowie der Anwendung der erworbenen Fähigkeiten auf einzelne Sportarten oder auf Wettkampfsituationen (z.B. Sportabzeichen) wirkt sich der Sport vor allem auf die Persönlichkeitsstruktur der behinderten Person aus, indem er zur Stärkung des Selbstvertrauens und zur Festigung des Selbstwertgefühls beiträgt. Auch durch die mediale Verbreitung und dem damit einhergehenden Zugang der breiten Öffentlichkeit zum Paralympicssport erfahren Menschen mit Behinderung nicht nur ehrliche Anerkennung für ihre sportlichen Leistungen, sondern ebenso eine generelle Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position. Der Sport erleichtere somit den Weg in die Gemeinschaft und werde nicht umsonst als „Mittel zur sozialen Reintegration“ gesehen (Wegner, 2008, S. 818).

Trotzdem besteht die Tendenz, dass im Rahmen des Behindertensports Menschen mit Behinderung eher unter sich bleiben, was sie zwar mit dem Teilsystem Sport in das gesamtgesellschaftliche System integrieren mag, der direkte soziale und kooperative Kontakt zu Menschen ohne Behinderung dennoch vermehrt ausbleibt. Doch bezogen auf Cloerkes (2007) Überlegungen zu möglichen Strategien hinsichtlich Einstellungs- und Verhaltensmodifikationen gegenüber Menschen mit Behinderung scheint gerade der Sport mit seinen Aspekten des ungezwungenen, freiwilligen Kontaktes, des Strebens nach gemeinsamen Aufgaben und Zielen sowie des gemeinsamen Interesses am gleichen Gegenstand noch weitere Möglichkeiten zu eröffnen. Im Sinne eines inklusiven statt eines bloßen integrativen Gedankens, d.h. im Rahmen eines gemeinsamen Sporttreibens von Menschen mit Behinderung und ohne Behinderung, bietet der Sport nicht nur behinderten Personen ein soziales Tainingsfeld, sondern könnte gleichzeitig Nichtbehinderten die Chance einer Umstrukturierung ihres sozialen Denkens und Handelns eröffnen. Inklusive sportliche Kontexte könnten demnach der Ansatzpunkt für eine bessere und vor allem reflektiertere Gemeinschaft sein.

Dabei ist der Inklusionsgedanke selbstverständlich nichts Neues. Doch obwohl alle gesellschaftlichen Bereiche mit eingeschlossen werden sollen, wird gerade dem Sport stets eine besondere Rolle zugesprochen, indem er überspitzt gesprochen als „Inklusionsmotor“ betitelt wird (Schmidt, 2013, S. 25). Doch was konnte bisher tatsächlich bewerkstelligt werden? Wie weit ist der inklusive Gedanke überhaupt fortgeschritten? Was konnte im sportlichen Kontext bereits umgesetzt werden und wo liegen möglicherweise Grenzen?

Im folgenden Themenbereich dieser Arbeit soll unter anderem dazu Stellung genommen werden.

2.2 Inklusion

2.2.1 Begriffsklärung

Der Begriff „Inklusion“ ist der breiten Öffentlichkeit weder fremd, noch verbirgt sich hinter ihm etwas völlig Unbekanntes. Ganz im Gegenteil: Er ist in aller Munde und findet in sämtlichen gesellschaftlichen Kontexten Erwähnung. Gerade dies hat zur Folge, dass es noch immer keine allgemein geteilte Auffassung darüber gibt, was letztendlich genau unter „Inklusion“ zu subsumieren sei. Aufgrund seines bereits inflationären Gebrauchs gilt als er Modebegriff, welcher mehr und mehr den Begriff der Integration abzulösen scheint (Eckermann, 2014). Dennoch werden die Termini „Inklusion“ und „Integration“ immer noch und fälschlicherweise synonym gebraucht. Doch wo liegt der Unterschied der beiden Begriffe? Was bedeutet „Inklusion“ eigentlich genau? Und was beinhalten im Gegenteil dazu „Segregation“ und „Exklusion“? Bevor mit den Bezeichnungen des aktuellen Inklusionsdiskurses gearbeitet wird, soll zunächst ein Überblick bezüglich der gebrauchten Begrifflichkeiten geschaffen werden, um ein einheitliches Verständnis zu gewährleisten und um dem problemlosen Folgen der Arbeit Rechnung tragen zu können.

Bereits seinem lateinischen Ursprung (inclusio „Einschluss“) ist zu entnehmen, dass es sich bei dem Begriff „Inklusion“ nicht nur um einen äußerst allgemeinen, sondern ebenso um einen sehr weitgefassten Terminus handelt. Im herkömmlichen Sinne wird unter ihm Folgendes aufgefasst:

„[A]llen Menschen ist in allen gesellschaftlichen Bereichen, eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe – und zwar von Anfang an und unabhängig von individuellen Merkmalen wie z.B. ethnischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter – möglich.“ (Deutscher Behindertensportverband2, 2013, S. 3)

Bereits hier ist zu erkennen, dass sich der Inklusionsbegriff keineswegs nur auf das Merkmal „Behinderung“ bezieht, womit er oft und ausschließlich in Verbindung gebracht wird. Auch in dem vom Deutschen Behindertensportverband (2014) entwickelten Index für Inklusion betonen die Definitionen den Einschluss aller Dimensionen an Heterogenität und somit das Recht eines jeden Einzelnen auf den gleichberechtigten Zugang und die ungehinderte Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben. Doch was ist dann Integration? Wichtig bei der Abgrenzung zur Inklusion ist der Aspekt der „von Anfang an“ ermöglichten Teilhabe. Im Gegensatz zur Inklusion setzt Integration (lat. integratio „Wiederherstellung eines Ganzen“) Separation voraus und fokussiert vorwiegend die Rekonstruktion einer Einheit. So stehe dem Individuum bzw. einer Gruppe von Individuen ein festes System gegenüber, welches den Einschluss nur ermögliche, indem sich das Individuum diesem anpasse. Das System hingegen bleibe weitestgehend unbeeinflusst und setze die Flexibilität auf Seiten der „Integrationswilligen“ voraus (Radtke, 2012, S. 10). Im Sinne des Inklusionskonzepts hingegen wird von vornherein auf eine Separation verzichtet und die Heterogenität als selbstverständlich und gewollt angesehen (Cloerkes, 2007). Es gebe weder ein Außen noch ein Innen, sondern ein flexibles System, welches auf der Modifizierung seiner Struktur aufgrund einer entsprechenden veränderten Zusammensetzung basiert. So stellt Cloerkes (2007, S. 222) heraus, dass es sich im Rahmen von Inklusion um das „Einbezogensein als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft“ handelt, während die Konzepte der Integration auf dem „Einbezogenwerden als neues Mitglied in die Gesellschaft“ basieren. Um die dazugehörigen Begriffe „Segregation“ und „Exklusion“ der Vollständigkeitshalber ebenfalls zu berücksichtigen, soll nachfolgende Grafik einen kurzen, zusammenfassenden Überblick ermöglichen. Eine vergleichbare tabellarische Übersicht ist ebenso Cloerkes (2007, S. 221) zu entnehmen.

[...]


1 Laut ICF sind unter Schädigung Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder-struktur zu verstehen, wie z.B. Abweichung oder Verlust.

2 Im Folgenden DBS.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Inklusion im Sport
Untertitel
Zur Erfassung von Verhaltensindikatoren
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
108
Katalognummer
V534891
ISBN (eBook)
9783346126375
ISBN (Buch)
9783346126382
Sprache
Deutsch
Schlagworte
inklusion, sport, erfassung, verhaltensindikatoren
Arbeit zitieren
Carolina Kaiser (Autor:in), 2015, Inklusion im Sport, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/534891

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