Ist die Strafrechtstheorie des Paul Johann Anselm von Feuerbach noch zeitgemäß?


Trabajo de Investigación (Colegio), 2018

20 Páginas, Calificación: 13

Anónimo


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Lebenslang für Kudamm-Raser: Überzogene Härte oder gerechtfertigte Abschreckungsmaßnahme?

2. Prävention, Abschreckung und Rechtsstaatlichkeit: Die Strafrechtslehre Feuerbachs
2.1 Naturrecht bei Anselm von Feuerbach
2.2 Abschreckung durch Strafandrohung: Die Theorie vom psychologischen Zwang
2.3 Keine Strafe ohne Gesetz: Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bei Feuerbach

3. Die Bedeutung Anselm von Feuerbachs für das moderne Strafrecht
3.1 Der Fall der Ku’Damm Raser: Abschreckung durch härtere Strafen?
3.2 Das Rückwirkungsverbot
3.3 Über Sinn und Zweck der Strafe: Die Vereinigungstheorie

4. Fazit

Facharbeit im Fach Sozialkunde abgeben am 04.05.2018

Kurzfassung

Die Facharbeit befasst sich mit der Frage, ob die Straftheorie Anselm von Feuerbachs noch zeitgemäß ist und in der heutigen Rechtspraxis und Gesetzgebung Anwendung findet. Als wesentliche Grundlagen für die Untersuchung dient die Theorie vom psychologischen Zwang und Feuerbachs Gedanken zur Rechtsstaatlichkeit. Auch Feuerbachs Naturrechtsverständnis wird erläutert. Anschließend wird an dem Fall der Kudamm-Raser gezeigt, dass seine Zwangstheorie nur bedingt mit der Rechtsprechung in Einklang zu bringen ist, da Gerichte Urteile nicht aufgrund der dadurch entstehenden Abschreckungswirkung fällen. Die moderne Strafgesetzgebung orientiert sich jedoch an dem Gedanken des psychologischen Zwangs und versucht durch verschärfte Gesetze eine generalpräventive Wirkung zu erreichen, was sich ebenfalls am Fall der Kudamm-Raser nachweisen lässt. Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Strafzwecktheorie. Hier zeigt sich, dass Feuerbachs Straftheorien Eingang in die moderne Vereinigungstheorie gefunden haben. Auch das Rückwirkungverbot und der damit verbundene Rechtsgrundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“, haben ihren Ursprung in Feuerbachs Lehren.

1. Lebenslang für Kudamm Raser: Überzogene Härte oder gerechtfertigte Abschreckungsmaßnahme?

Dieser Fall sorgte für hohe mediale Aufmersamkeit: Zwei junge Männer verabreden sich spontan zu einem Autorennen und liefern sich ein rücksichtsloses Straßenrennen durch die Berliner Innenstadt. Unter Missachtung jeglicher Verkehrsregeln rasen sie mit 170 km/h über den Kufürstendamm. Bis ihre irrsinnige Fahrt nach wenigen Minuten ein verhängnisvolles Ende findet. Einer der Raser stößt frontal mit einem PKW zusammen, der gerade in eine Ampelkreuzung einfährt und schleudert diesen 70 Meter durch die Luft. Der Fahrer des PKW’s ist sofort tot.

Das Landgericht Berlin hatte über diesen Fall zu urteilen und hat in seiner Sitzung vom 27. Februar 2017 nach 18 Verhandlungstagen für Recht erkannt: Beide Angeklagte werden wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Ein Urteil, das innerhalb Deutschlands große Aufmerksamkeit erzielte und heftige Debatten unter Juristen auslöste. Denn es handelte sich bei dieser Urteilsfindung um einen absoluten Präzedenzfall. Nach der Argumentation des Landgerichts handelten die Angeklagten bedingt vorsätzlich, was eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung, wie in der bisherigen Rechtspraxis bei derartigen Fällen geurteilt wurde, unmöglich machte. Die Angeklagten waren also, weil sie einen Menschen mit gemeingefährlichen Mitteln töteten, als Mörder zu bestrafen.

Ein gerechtes Urteil, oder überzogene Härte? Die deutsche Bevölkerung war eher ersterer Ansicht. Bislang warf man der Justiz in vergleichbaren Fällen nachsichtig mit den Tätern umzugehen, da diese häufig mit Bewährungsstrafen davonkamen. Bei solch milden Strafen würden potentielle Nachahmer nicht genügend abgeschreckt und rücksichtslose Raser würden Deutschlands Straßen zunehmend unsicherer machen. In ihrem Kern übt das Berliner Urteil damit eine Funktion aus, die bereits 1803 von dem Rechtsphilosophen Paul Johann Anselm von Feuerbach formuliert wurde. Er war der Ansicht, dass eine stabile Rechtsordnung nur dann gewährleistet ist, wenn die Bevölkerung von der Begehung von Straftaten abgehalten wird. Um dies zu erreichen muss der Staat einen Zwang auf seine Bürger ausüben, indem er androht Verbrechen mit einer Strafe zu sanktionieren. Damit dieses System funktioniert ist es nötig Straftatbestände zu schaffen und diese mit einer Strafe zu belegen, damit jeder Bürger Kenntnis darüber hat, was ihm im Falle einer von ihm begangenen Rechtsverletzung droht. Feuerbach schuf somit auch wichtige Vorraussetzungen für die Entstehung des Rechtsstaates.

Doch inwieweit finden seine Thesen über den psychologischen Zwang in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzgebung heute noch Anklang? Sind seine Ansichten zum Strafrecht heute noch so moderen wie vor 200 Jahren? Und wo erweisen sich seine Theorien aus heutiger Perspektive noch als mangelhaft? Diese Fragen sind Grundlage der vorliegenden Facharbeit und sollen im Folgenden beantwortet werden.

2. Prävention, Abschreckung und Rechtssicherheit: Die Strafrechtslehre Feuerbachs

2.1 Naturrecht bei Anselm von Feuerbach

Bereits 1794 beschäftigte Anselm von Feuerbach sich mit Fragen zum Naturrecht und veröffentlichte seine Schrift „Ueber den Stand der Natur“ in welchem er Standpunkte zum Naturrecht von Kant und Rousseau miteinander verglich. Aber erst zwei Jahre später stellte er eigene Thesen zu der Thematik auf und veröffentlichte diese in seiner Schrift „Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte“. Um seine Standpunkte zu verstehen muss zunächst der Begriff des Sittengesetz geklärt werden.1

Die Rechtswissenschaftler Jarass und Pieroth definieren den Begriff in ihrer Kommentierung des Grundgesetz folgendermaßen: „Sittengesetze umfassen die für ein geordnetes Zusammenleben als unverzichtbar anerkannten grundlegenden sozial-ethischen Wertvorstellungen.“2

Feuerbach hebt vor allem die Trennung zwischen Moralität und Legalität hervor. Unter Moralität differenziert er moralische und nichtmoralische Handlungen. Die ersteren sind solche, „welche durch das Sittengesetz selbst positiv bestimmt sind, wozu der Handelnde Pflicht hat“3. Zweitere sind Handlungen, welche dem Sittengesetz widersprechen. Aus dieser Unterscheidung leitet Feuerbach den Begriff der „äußeren Rechte“ ab. Die „äußeren Rechte“ gewähren das Recht nichtmoralische Handlungen zu begehen. Doch trotz diesen Rechts ungestraft unmoralisch zu handeln entzieht sich der Mensch derartiger Handlungen. Er handelt also nicht aus Furcht vor einer Bestrafung moralisch, sondern ausschließlich aus Gründen der Moralität. Feuerbach formuliert dies so: „Moralität, der höchste Zweck vernünftiger Wesen wird nur durch Befolgung des Sittengesetzes um seiner selbst willen und durch freie Befolgung des Sittengesetzes erreicht.“4 5

Diese naturrechtliche Denkweise überträgt Feuerbach auf Teile seiner Straftheorie. Denn bloße Verletzungen des moralischen Gesetzes stellen keinen Straftatbestand dar und können somit auch nicht bestraft werden können. Als Beispiel führt er hierbei die Zauberei und Ketzerei an. „Eine That, von welcher, wenn sie auch möglich und wirklich wäre, dennoch das corpus delicti [Gegenstand, mit welchem ein Verbrechen ausgeführt wurde] auszumitteln unmöglich ist“6. Das hat für den Gesetzgeber die Konsequenz, dass er nur äußerlich erkennbare Handlungen, die eine Rechtsverletzung darstellen unter Strafe stellen kann. Das erklärt schließlich auch die Trennung zwischen Moralität und Legalität. So war die Ketzerei nach damaligem Verständnis zwar eine moralisch verwerfliche Handlung, da sie jedoch keine anderen Rechtsgüter verletzt und somit auch nicht gegen das Gesetz verstößt ist sie legal und kann nicht bestraft werden. Nur Handlungen die gegen das Prinzip der Legalität verstoßen können bestraft werden. Eine Verurteilung aufgrund einer moralisch verwerflichen Gesinnung oder wegen einer sittenwidrigen Handlung ist ausgeschlossen.7

Die Betrachtung des feuerbachschen Naturrechtsverständnis zeigt, dass Feuerbach die Begriffe Recht und Moral strikt voneineander trennte. Somit legte er bereits das Fundament für die Theorie der Rechtstaatlichkeit und erschloss die Grundlagen für seine Lehre vom psychologischen Zwang.

2.2 Abschreckung durch Strafandrohung: Die Theorie vom psychologischen Zwang

Ein zentraler Bestandteil von Feuerbachs Strafrechtstheorie ist die Lehre vom psychologischen Zwang, welche im Folgenden erläutert wird.

Feuerbach unterscheidet zwei Formen des Zwangs. Den physischen Zwang und den psychischen Zwang. Der Zweck des physischen Zwangs besteht vorallem darin eine noch nicht vollendete Rechtsverletzung abzuwenden. So kann der Staat „eine Caution [Sicherheitsleistung] zur Sicherheit des Bedrohten“8 erzwingen, sowie die zur Rechtsverletzung nötigen Kräfte überwinden, indem der Staat den Täter mit Gewalt an der Tatausführung hindert. Der physische Zwang kann auch nachträglich angwandt werden, indem der Täter zu einer Entschädigung oder Rückerstattung gezwungen wird.9

Doch physischer Zwang alleine ist nicht ausreichend, um Straftaten zu verhindern. Feuerbach setzt bereits an dem Punkt an, an dem der Täter den Entschluss zu einer Straftat fasst. Den alleinigen Auslöser, der zu einer Gesetzesübertretung verleitet sieht er in der Sinnlichkeit des Menschen, d.h „das Begehrungsvermögen des Menschen (wird) durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung (…) angetrieben“10. Diesen „sinnlichen Antrieben“ muss jedoch entgegengewirkt werden. Dazu muss der potentielle Täter wissen, dass seinen Taten negative Konsequenzen folgen werden. „(…) Auf seine That werde unausbleiblich ein Übel folgen, welches größer ist als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur That entspringt.“11 Mit diesem damit unausbleiblichen Übel bezeichnet Feuerbach die Strafe. Ihr einziger Zweck besteht demnach darin die Menschen von einer Gesetzesübertretung abzuschrecken und so zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen. Er legt jedoch auch Wert darauf zu bestimmen, worin der Zweck der Strafe nicht bestehen darf. Sie hat nicht den Zweck einer vorsorglichen Individualprävention. Ein potentieller Täter darf nicht für Verbrechen bestraft werden, die er in der Zukunft möglicherweiße begehen wird. Dadurch wir auch bedingt das die Strafe nicht den Zweck der unmittelbaren Abschreckung hat. Das heißt Abschreckungswirkung auf andere darf nicht dadurch erzielt werden, dass dem Täter Schmerzen zugefügt werden. Somit ist beispielsweise eine öffentliche Hinrichtung kein geeignetes Mittel um abzuschrecken. Desweiteren hat Strafe nicht den Zweck der moralischen Vergeltung. Denn wie bereits in seinen Standpunkten zum Naturrecht verdeutlich wurde, ist nicht der moralische Verstoß, sondern allein der Verstoß gegen das positiv gesetzte Recht entscheidend. Dementsprechend darf der Täter auch nicht mit moralischen Vergeltungsmaßnahmen bestraft werden. Auch die moralische Besserung des Täters ist nicht Zweck der Strafe.12

Feuerbach gilt hiermit als Vertreter der relativen Straftheorie. Im Gegensatz zur absoluten Straftheorie hat Strafe hier nicht den Zweck der Sühne und den Zweck eine begangene Straftat auszugleichen, sondern darin eine Wiederholung der Straftat zu vermeiden oder von vorneherein auszuschließen. Die Form der Abschreckung die Feuerbach so erzielen möchte bezeichnet man als negative Generalprävention.13

2.3 Keine Strafe ohne Gesetz: Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bei Anselm von Feuerbach

Feuerbach leitet seine Straftrechtslehre keineswegs ausschließlich aus rein theoretischen Überlegungen ab. Es war vielmehr das von ihm viel kritisierte bayrische Strafrecht des 18. Jahrhunderts, was ihn dazu antrieb seine Thesen zu verfassen und seine Idee von einem Rechtstaat zu entwickeln.

Feuerbach kritisierte vorallem die Unmenschlichkeit der damaligen Strafgesetze. Insbesondere die Anwendung von Folter lehnte er strikt ab und trug maßgeblich zu ihrer Abschaffung 1813 bei. Für ihn war die Folter vorallem aus kriminaltechnischer Sicht unvorteilhaft. So schreibt er in einem Brief an den bayrischen Innenminister Maximilian von Montegelas:14

„Es wird der erleuchteten Einsicht E.[uerer] E.[xzellenz] nicht entgehen, daß es keineswegs darauf abgesehen sei, die Kriminaluntersuchung zu lähmen, sondern sie zu fördern (…) nicht um dem Kriminalrichter Mittel der Wahrheitsforschung zu entziehen, sondern um an die Stelle eines zweckwidrigen, widersprechenden, den Staat und die Unschuld gefährdenden Mittels zweckmäßige, konsequente (…) dem Unschuldigen gefahrlose Mittel zu setzen. “15

Er spricht hiermit vorallem das Problem an, dass durch die Folter Unschuldige zu einem Geständnis gezwungen werden, was nicht zum Aufklären eines Verbrechens beiträgt. Neben der Folter kritisiert Feuerbach auch die oftmals übezogen grausamen Strafen der bayrischen Justiz. Dies verdeutlicht er am Beispiel des Raubes.

„Gegen die Räuber ist schon der Kodex übermäßig streng; (…) im gelindesten Fall wird der Räuber einfach gerädert; wenn er den geraubten gebunden oder geschlagen hat, wird er lebendig, ohne vorhergehendes Erdrosseln, gerädert; wenn der Beraubte an der Mißhandlung gestorben ist, wird er lebendig gerädert, empfängt erst den Gnadenstoß nach zwei oder drei Stunden, und dann wird sein Körper gevierteilt und stückweise auf öffentlichen Straßen aufgehenkt.16

Dabei bemängelt Feuerbach vorallem, dass der Angeklagte nur aufgrund des Tatverdachts, ohne Beweisaufnahme, zu derartigen Strafen verurteilt wird, ohne diesem auch nur eine Verteidigung zu gestatten. Am schlimmsten findet er allerdings, dass solche Gesetze auf vor dem Gesetz begange Verbrechen angewandt werden. Aufgrund dieser Umstände formulierte er den bis heute gültigen Rechtsgrundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz).17

Zwar forderten bereits andere Rechtsgelehrte diese Bedingung, doch wurde ihre Formulierung erst durch Feuerbach geprägt. Außerdem finden sich bei ihm bereits alle vier Prinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorhalts, welche im Folgenenden erläutert werden.18

Durch das Bestimmtheitsgebot sollen die Bürger vor der Willkür des Staates geschützt werden. Feuerbach fordert „hinreichende gesetzliche Bestimmtheit von Straftatbeständen und Strafdrohungen“19. Nur durch präzise formulierte Straftatbestände können die Bürger das Handeln des Staates vorraussehen und von einer Rechtsverletzung abgehalten werden. Hier zeigt sich wieder seine Theorie vom psychologischen Zwang. Denn es lastet nur dann ein Zwang auf den Bürgern, wenn diese Kenntnis darüber besitzen, welche Strafe im Falle einer Rechtsverletzung droht. Dadurch wird zugleich die Anwendung des Gewohnheitsrechts ausgeschlossen. Ein Verbrecher darf nicht auf Basis eines ungeschriebenen, aber durch die Gewohnheit festgelegten Rechts verurteilt werden.20

Um die Wirkung des psychologischen Zwangs zu gewährleisten muss die Strafe gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Ein Verbrechen darf nicht rückwirkend bestraft werden, wenn die Tat vor der Einführung des Gesetzes begangen wurde. So trägt das Rückwirkungsverbot dazu bei die Bürger vor der Willkür der Obrigkeit zu schützen.21

Das Analogieverbot soll verhindern, dass eine nicht strafbare Handlung geahndet wird. Es soll die Bürger vor richterlicher Willkür schützen, da dies jedoch in der Rechtspraxis des 18. Jahrhunderts nicht der Fall war trat Feuerbach für das Analogieverbot ein. Dennoch sprach er dem Richter das Recht zur Gesetzesauslegung „nach dem Sprachgebrauch und nach dem Zusammenhang der Worte, der Sätze und der verschiedenen Verordungen“22 zu.23

3. Die Bedeutung Anselm von Feuerbachs für das moderne Strafrecht

3.1. Der Fall der Kudamm-Raser: Psychologischer Zwang durch härtere Strafen?

Nach Betrachtung der Feuerbach‘schen Strafrechtslehre soll nun geklärt werden, ob diese für unser modernes Strafrecht noch relevant ist. Der Fall der „Kudamm-Raser“ liefert hierfür einige aufschlussreiche Erkenntnisse.

Das Landgericht Berlin verurteilte die beiden Raser (wie bereits im Einführungstext beschrieben) wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Diese Verurteilung war nur möglich, weil das Gericht sich von der bisherigen Rechtssprechung in vergleichbaren Fällen abgrenzte. Denn das Gericht sprach den Angeklagten ab, lediglich fahrlässig gehandelt zu haben. „Die Angeklagten haben sich mit der tödlichen Tatbestandsverwirklichung abgefunden [und] wissentlich eine große, anschauliche und konkrete Lebensgefahr geschaffen (…)“24. Bei Einfahrt in den Kreuzungsbereich überließen sie es dem Zufall, ob sie mit einem querenden Fahrzeug zusammenstoßen würden. Sie nahmen damit den Tod eines der Fahrzeuginsassen billigend in Kauf und handelten bedingt vorsätzlich. Sie hatten zwar keine Tötungsabsicht, standen dem Taterfolg aber gleichgültig gegenüber. Auf dieser Grundlage war eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts möglich. Das Gericht war zusätzlich der Überzeugung, dass das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit verwirklicht ist. Denn aufgrund der „Unfähigkeit der Angeklagten das Geschehen noch irgendwie zu beherrschen, bestand für einen von ihnen nicht eingrenzbaren größeren Personenkreis, eine konkrete Lebens- und Todesgefahr“25. Damit war eine Verurteilung wegen Mordes (gemäß § 211 StGB) unausweichlich. Die einzige Strafe, die das Gesetz für Mörder vorsieht ist die lebenslange Freiheitsstrafe.26

Dieses Urteil lässt sich gut mit der Theorie vom psychologischen Zwang in Verbindung bringen. Feuerbach sieht in jedem Menschen einen potentiellen Straftäter. Um den sinnlichen Antrieben zur Rechtsverletzung entgegenzuwirken, muss der Staat diese mit Strafen sanktionieren. Feuerbach trifft zwar keine eindeutige Aussage zum Strafmaß; dieses muss jedoch im Verhältnis zur Tat stehen. Die Strafe muss größer sein, als der Nutzen, den die Täter durch die Tat erzielen. Bei einer lebenslangen Freiheitstrafe, dürfte dieser Aspekt der Straftheorie erfüllt sein. Das Gericht setzt im Falle der Kudamm-Raser den Tätern ein Übel entgegen, „welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur That entspringt“27. Dies hat zwar keine Auswirkung mehr auf die beiden Verurteilten, dafür aber auf die Bevölkerung, insbesondere auf die Raser-Szene. Durch dieses Urteil übt das Gericht einen psychologischen Zwang auf potentielle Nachahmer aus. Die Kritierien für Feuerbachs Theorie sind also erfüllt.28

[...]


1 Mario A. Cattaneo, Die Idee des Naturrechts und der Menschwürde bei Kant und Feuerbach, S. 9 – 11 in: Gröschner, Rolf; Haney Gerhard (Hrsg.), Die Bedeutung P.J.A Feuerbachs (1775-1833) für die Gegenwart, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 2003

2 Bodo Pieroth, Hans Dieter Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: GG Kommentar, 14. Auflage, München: C.H. Beck, 2016

3 P.J.A Feuerbach, Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte, Altona: 1796 (ND Hildesheim 1963), III. Theil, IV. Abschnitt, IV. Abtheilung, S. 284

4 P.J.A Feuerbach, ibd. III. Theil, IV. Abschnitt, IV. Abtheilung, S.289

5 Cattaneo, Naturrecht bei Kant und Feuerbach, S.11-12

6 P.J.A Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, II. Theil Chemnitz: 1800, 1. Kapitel, S. 13

7 Cattaneo, Naturrecht bei Kant und Feuerbach, S.13-14

8 P.J.A Feuerbach, Lehrbuch des allgemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 5. Auflage, Gießen: 1812, Erstes Buch, S. 15

9 Danila Drischmann, Paul Johann Anselm Feuerbach: „Lehrbuch des in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“, Mainz: 2001, S. 8

10 P.J.A Feuerbach, Lehrbuch., Erstes Buch, S. 17

11 P.J.A Feuerbach, ibd. Erstes Buch, S. 17

12 Drischmann, P.J.A Feuerbach, S.9

13 Heribert Ostendorf, Vom Sinn und Zweck des Strafen, 27.04.2010,http://www.bpb.de/izpb/7740/vom-sinn-und-zweck-des-strafens?p=all, (aufgerufen am 20.04.2018)

14 Ludwig Feuerbach (Hrsg.), Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach: Leben und Wirken, 2. Auflage, Berlin: Akademie-Verlag, 1989, S. 137 - 138

15 aus einem Brief „An den Minister Montegelas bei Übersendung des Antrags zur Aufhebung der Tortur“, München 1806

16 Ludwig Feuerbach, P.J.A Feuerbach: Leben und Wirken, S. 133

17 ibd. S. 134 - 135

18 Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz: Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, Berlin: de Gruyter 1983, S. 19

19 P.J.A Feuerbach, Kritik des Kleinschrodschen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche, 1804 I. S.20, II. S.33, III. S.11

20 Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, S. 46, 88

21 ibd., S. 59 - 60

22 P.J.A Feuerbach, Kritik des Kleinschrodschen Entwurfs, II. S. 23ff.

23 Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, S. 76

24 Landgericht Berlin – Urteil vom 27.02.2017 – 251 Js 52/16

25 ibd.

26 ibd.

27 P.J.A Feuerbach, Lehrbuch des allgemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 5. Auflage, Gießen: 1812, Erstes Buch, S. 17

28 Vgl. Kapitel 2.2 Abschreckung durch Strafdrohung: Die Lehre vom psychologischen Zwang

Final del extracto de 20 páginas

Detalles

Título
Ist die Strafrechtstheorie des Paul Johann Anselm von Feuerbach noch zeitgemäß?
Calificación
13
Año
2018
Páginas
20
No. de catálogo
V535323
ISBN (Ebook)
9783346138019
Idioma
Alemán
Palabras clave
strafrechtstheorie, paul, johann, anselm, feuerbach
Citar trabajo
Anónimo, 2018, Ist die Strafrechtstheorie des Paul Johann Anselm von Feuerbach noch zeitgemäß?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/535323

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